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Der Weg zum Ersten Weltkrieg

Von Dr. Mario Kandil

Einkreisungspolitik der Ententemächte gegenüber dem Deutschen Reich

Bis vor gar nicht allzu langer Zeit galt es in der öffiziösen Geschichtsschreibung als ausgemacht, daß das Deutsche Reich und seine Verbündeten die alleinige Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1914—1918) trügen. Dieses hatte ja auch schon der Artikel 231 des Versailler Vertrags behauptet, den Deutschland ohne Änderungen (also auch mit der Alleinschuldthese) wohl oder übel hatte akzeptieren und unterschreiben müssen. Heute ist diese These längst überholt.

Deutschlands führende Tageszeitung, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ), brachte in ihrer ersten Ausgabe dieses Jahres vom 2. Januar 2014 auf der ersten Seite einen überraschenden Leitartikel von Jasper von Altenbockum unter der Überschrift „2014“. Der Verfasser sieht den neuen wissenschaftlichen Tagungsband zu Beginn dieses Jahres darin, „daß die Schuldfrage (von 1914) nicht mehr so beantwortet wird, wie das hundert Jahre üblich war. Die neue Forschung, auf die sich ein Konsens der Historiker stützt, könnte, stark verkürzt, lauten: Es war nicht das Deutsche Kaiserreich, das diesen Krieg entfesselte, sondern alle europäischen Großmächte hätten gleichermaßen einen großen Anteil an der Katastrophe“ gehabt. Im Ersten Weltkrieg, der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, sähen manche sogar „den Grund für den Zweiten Weltkrieg“.
Altenbockum geht weiter und findet, besonders Kritiker der EU würden jetzt fragen: „Warum wurde die Schuldfrage so lange und fälschlicherweise zu Lasten Deutschlands beantwortet? Sollte es klein gehalten werden? Ist es nicht noch immer so? Muß nicht auch daraus endlich die Konsequenz gezogen werden?“ Wird da nicht ein Revisionismus in der Zeitgeschichte gefordert, der bislang auch von der FAZ unterdrückt wurde? So erhielt der bekannte Historiker Ernst Nolte dort Schreibverbot. Hat das Ausscheiden von Marcel Reich-Ranicki so rasch schon so wesentliche Folgen gezeitigt und frischen Wind in die FAZ-Redaktion geweht?
Auch zahlreiche Bücher im In- und Ausland befaßten sich bereits aus Anlaß des kommenden 100. Jahrestags des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs mit dessen Vorgeschichte. Und dabei fällen nun gerade die „Ausländer“ oft ein sachlicheres Urteil als die Deutschen und gehen ohne Vorurteile an die Aufgabe heran. Hierzu „Die Welt“ vom 14. November 2013: „Nur die Deutschen glauben noch, sie hätten die alleinige Schuld an dem Inferno zwischen 1914 und 1918.“ Darum ist es an der Zeit, einmal einen an den historischen Fakten orientierten Blick darauf zu werfen, wie es zum Ersten Weltkrieg kam, und dabei nicht bloß die unmittelbare Vorgeschichte zu betrachten.

Der lange Vorlauf I: Einkreisungspolitik der Entente bis zu Bismarcks Sturz (1871—1890)

Für Bismarck stand fest, „daß, wenn Frankreich wieder stark genug ist, den Frieden zu brechen, der Friede zu Ende sein“1 würde. Trotz seiner Ausgrenzungspolitik gegenüber Frankreich wurde dieses sehr bald wieder bündnisfähig: Ungeachtet des Dreikaiserabkommens von 1873 näherte sich Rußland unter dem frankophilen Fürsten Gortschakow Frankreich an, gefiel sich als dessen Schutzmacht gegen das Deutsche Reich. So war Bismarck zur Jahreswende 1874/75 mit seiner Dreibundpolitik gescheitert und mußte den sich schließenden Ring um Deutschland bereits im Vorfeld aufzubrechen versuchen, indem er sich Rußland stärker annäherte.
Doch das half ihm in der „Krieg-in-Sicht-Krise“ von 18752 auch nicht, als Frankreich massiv aufrüstete und Bismarck dessen möglichem Angriff auf Deutschland zuvorkommen wollte. Rußland und Großbritannien machten klar, daß sie einen deutschen Präventivschlag nicht dulden würden, und sogar Österreich-Ungarn ließ seine Interventionsbereitschaft durchblicken. Folglich mußte Bismarck zurückstecken, was ihn besonders mit Blick auf Rußland stark verbitterte. Mit seiner unmittelbar an den kontinentalen Großmächten orientierten Politik, dem Deutschen Reich durch eine Allianz der drei Kaiserreiche bei gleichzeitiger Ausgrenzung Frankreichs eine gesicherte und anerkannte Stellung im Staatensystem Europas zu verschaffen, war er gescheitert. Fortan präsentierte er Deutschland als eine saturierte Macht und bemühte sich auf diplomatischem Weg um eine Isolierung Frankreichs, um nicht in einen Zweifrontenkrieg zu geraten.
Nachdem während des Berliner Kongresses 18783 das Dreikaiserbündnis von 1873 endgültig auf der Strecke geblieben und wegen Bismarcks Haltung Rußland dem Deutschen Reich gegenüber heftig verstimmt war, mußte der Reichskanzler Ersatz für diese Allianz schaffen. Wenn diese ihren Zweck einer Verhinderung feindlicher Koalitionen gegen das Reich erfüllen sollte, mußte sie im Kern erneut ein Bündnis zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Rußland sein. Am Ende glückte es Bismarck, ein derartiges Bündnissystem zu realisieren, das Deutschland zu einem halben Jahrzehnt der relativen Sicherheit und Ruhe verhalf. Dabei war dieses neue Vertragsgeflecht weit komplexer als das vorangegangene.
Aber die noch am Ende von Bismarcks Ägide einsetzende deutsch-russische Entfremdung und die hieraus erwachsende französisch-russische Annäherung machte die Gefahr eines Zangenangriffs von Franzosen und Russen auf das Deutsche Reich so akut, daß ein Präventivschlag gegen Rußland in Berlin ernsthaft erwogen wurde. Bismarck jedoch lehnte diesen ab. Nach seinem Sturz 1890 sowie nach der französisch-russischen Militärkonvention von 1892/944 war ein solcher Präventivkrieg gegen das Zarenreich für Deutschland schlicht nicht mehr möglich. Letzteres mußte sich nun mit Bismarcks Standpunkt begnügen, daß es sich bei einem Angriff von außen in dem jetzt bestehenden Verbund mit Österreich-Ungarn sehr gut zur Wehr setzen könne – aber auch nicht mehr.

Der lange Vorlauf II: Einkreisungspolitik der Entente nach Bismarcks Sturz (1890–1907)

Anders als die „konventionelle“, zumeist antideutsche Geschichtsschreibung dies behauptet, waren die Grundvorgaben deutscher Außenpolitik unter Wilhelm II. friedlich-defensiv, und sie blieben bis zum Ersten Weltkrieg unverändert gültig. Eine ernsthafte, sachbezogene Historiographie wird das letztlich kaum in Zweifel ziehen können. Schon zu Bismarcks Zeiten hatte sich das offensive Zusammengehen Rußlands mit Frankreich gegen den gemeinsamen Feind und neuen Mitspieler in der Mitte Europas klar abgezeichnet. Der Abwehr der von diesen Nachbarn stets ausgehenden kriegerischen Bedrohung des deutschen Nationalstaates dienten der Zwei- und der Dreibund – das Paktsystem der Mittelmächte. Im Gegensatz zu Rußland und Frankreich hegte Großbritannien auf dem Kontinent keine territorialen Hegemoniebestrebungen, denen der Staat der Deutschen im Weg hätte sein können. Offiziell nahm England zunächst gegenüber dem Reich eine mißbilligende, distanzierte, abwartende Haltung ein. Später schloß es sich – speziell um sich dessen wirtschaftlicher Konkurrenz zu entledigen – der Offensivallianz von Russen und Franzosen an: 1904 mit der Entente Cordiale und 1907 mit der Triple Entente. Großbritannien übernahm im neuen Paktsystem die Führungsrolle.
So war der deutsche Nationalstaat seit 1907 vom Einkreisungsring Frankreichs, Rußlands und Großbritanniens bedroht. Dieser war bereits 1875 in der „Krieg-in-Sicht-Krise“ als echtes Menetekel erschienen, hatte aber von Bismarck noch gebannt werden können. Der Einkreisungsring war schon in der mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 entstandenen neuen Mächtekonstellation angelegt – stellte also keineswegs (wie propagandistisch eingefärbte Geschichtsschreibung dies suggeriert) eine selbstverschuldete Folge streitsüchtiger, militaristischer wilhelminischer Politik dar. Konzeptionell ist die Einkreisungspolitik offensiv darauf gerichtet gewesen, das nationalstaatlich vereinigte Deutschland als einen politischen und ökonomischen Machtfaktor auszuschalten – zur Not durch eine kriegerische Revision der Reichsgründung von 1871 und Wiederherstellung einer mitteleuropäischen Ordnung, die im Grunde dem Status quo ante Königgrätz 1866 entsprach. Wann aber diese „barbarische Revision“ (Ulrich Schwarze) stattfinden sollte, hing von einer passenden Gelegenheit dazu ab. Dagegen lebte das Paktsystem der Mittelmächte aus seiner defensiven Zweckbestimmung, aus der Reaktion sowohl auf die französisch-russische als auch die hinzukommende britische Bedrohung.5
Bismarcks genial ausgeführtes „Spiel mit den fünf Bällen“ hatte das Sicherheitsproblem des deutschen Nationalstaats nicht dauerhaft lösen können, doch auch der „Neue Kurs“ seiner Nachfolger konnte das Reich nicht in seiner Existenz sichern, denn Großbritannien entzog sich allen deutschen Avancen und schlug sich auf die Seite der kontinentalen Gegner des Reichs. Wegen seiner Animosität gegen dieses überwand Großbritannien – indem es die Ententen einging – sogar seine traditionelle Abneigung gegen Frankreich im besonderen und gegen kontinentale Bindungen im allgemeinen. Letzten Endes konnte keines der zwei deutschen Konzepte die Apokalypse verhüten, wenn sich das Deutsche Reich nicht etwa der Kuratel einer der Flügelmächte ausliefern wollte. Seine „archetypische Konfliktlage“ (Ulrich Schwarze) war vielmehr sein tragisches Verhängnis.
Nach Bismarcks Sturz im Jahre 1890 lehnte Kaiser Wilhelm II. das Ansinnen von Rußlands deutschfreundlich gesinntem Außenminister Giers ab, den Rückversicherungsvertrag zu verlängern. In dieser Entscheidung wird heute der „Sündenfall“ wilhelminischer Außenpolitik gesehen, die ohne Not ihren Bewegungsspielraum zwischen den beiden Weltmächten Rußland und Großbritannien eingeengt habe. Der Kaiser habe in seiner naiven Hoffnung auf ein „Kommen“ Englands die russische Karte aus der Hand gelegt, die ihm gegenüber dem Inselreich noch von Nutzen hätte sein können.
Nachdem für Deutschland die französisch-russische Bedrohung lange nur informelle Realität gewesen war, nahm diese Allianz 1892 durch die (geheime, 1894 ratifizierte) Militärkonvention auch völkerrechtlich Gestalt an. Um so wichtiger wären daher für das Deutsche Reich gute Beziehungen mit Großbritannien gewesen, doch die Enttäuschung darüber, daß die Briten ihm diese verweigerten, trieb Wilhelm II. dazu, in der sog. Krüger-Depesche vom 3. Januar 18966 seinem Unmut Luft zu machen. Rückblickend jedoch verliert für einen etwas genauer hinsehenden Chronisten diese Angelegenheit an Bedeutung: Denn war Englands Weg in seinen Zusammenschluß mit Frankreich und Rußland (und somit in den Ersten Weltkrieg) nicht im Grunde prozeßhaft vorgezeichnet?
Der Bau der Bagdadbahn (ab 1903) verstärkte nicht bloß den Gegensatz des Deutschen Reichs zu Rußland, er spitzte auch den zu Großbritannien zu. Dort bestärkte die jetzt größere geographische Nähe des konkurrierenden mitteleuropäischen Aufsteigers zu den Verbindungslinien des Empire nach Indien den Totschlagreflex des „Germaniam esse delendam“. So übertrieb die britische Führung bewußt die von Deutschland ausgehende Gefahr, indem z. B. Außenminister Grey im Jahre 1913 darauf beharrte, daß das Reich die größte Armee der Welt besitze. Solche Verzerrungen der Realität – inklusive der britischen Flotten- und Invasionshysterie – waren nur ein vorgeschobener Ausfluß des eigentlichen Ressentiments und der haßerfüllten Grundstimmung gegenüber dem störenden neuen Konkurrenten in der Mitte Europas. Wagte es dieser doch allen Ernstes, die britische Suprematie auf wirtschaftlichem Gebiet dynamisch in Frage zu stellen und das Empire so immer mehr herauszufordern.
Daher war der Abschluß der britisch-französischen Entente Cordiale am 8. April 19047 aus Sicht der Führung Großbritanniens nur folgerichtig. Nachdem Briten und Franzosen noch zur Zeit Napoleons I. globale Todfeinde gewesen waren, unterzeichneten beide Seiten den auf lange Sicht folgenschweren Vertrag, der vordergründig der Lösung des Konflikts zwischen diesen Ländern um Kolonien in Afrika galt, genau besehen jedoch der Einkreisung des Deutschen Reichs diente. Diese Politik sollte am Ende zur Triple Entente führen, die durch das am 31. August 1907 geschlossene Abkommen zwischen Großbritannien und Rußland8 die britisch-französische Entente Cordiale des Jahres 1904 zu einem Dreierbündnis Großbritannien – Frankreich – Rußland ausbaute.

Der lange Vorlauf III: Deutschland im eisernen Ring am Vorabend des Kriegs (1907–1914)

Die Weichen waren jetzt auf Krieg gestellt, und Deutschlands Führung mußte alles versuchen, dem so verhängnisvollen Würgegriff seiner Gegner doch noch zu entgehen. Doch die Bosnienkrise von 19089 brachte der deutschen Außenpolitik, die sich den Standpunkt ihres österreichischen Verbündeten mit Nachdruck zu eigen machte, mit dem diplomatischen Triumph gegenüber Rußland (das noch von der Niederlage gegen Japan 1904/05 geschwächt war) nur vordergründig Erfolg: Deutschlands Sicherheit blieb prekär.
Dies und die außenpolitische Schwäche des Deutschen Reichs zeigten sich besonders in der Zweiten Marokkokrise 1911. Obgleich die Marokko-Konferenz von Algeciras am 7. April 1906 durch Unterzeichnung einer Akte die Erste Marokkokrise von 1905/06 beendet hatte, war Marokkos innere Lage unsicher geblieben und hatte Frankreich deswegen immer wieder zu militärischen Repressalien gegriffen. Statt wegen Verletzung der Algeciras-Akte Kompensationen für Deutschland zu verlangen, meinte Wilhelm II., daß Frankreichs Vordringen in Marokko nicht aufgehalten werden könne, falls es Deutschland nicht zu einem Krieg kommen lassen wollte. So erkannte in einem Abkommen vom 9. Februar 1909 das Deutsche Reich die französische Vorrangstellung in Marokko an. Im Gegenzug fand sich Frankreich zur Anerkennung der Souveränität Marokkos und auch dazu bereit, die wirtschaftliche Gleichberechtigung der anderen Nationen in Marokko zu akzeptieren.10
Als die Franzosen trotzdem die wirtschaftliche Betätigung der Deutschen behinderten und aus Anlaß neuer Unruhen in Marokko im April 1911 Rabat und im Mai Fes besetzten, begann die Zweite Marokkokrise. Um deutschen Kompensationswünschen Nachdruck zu verleihen, setzte von Kiderlen-Wächter, damals Staatssekretär des deutschen Auswärtigen Amts, die Entsendung des Kanonenboots „Panther“ in den marokkanischen Hafen Agadir durch. Dies war der „Panther-Sprung nach Agadir“ am 1. Juli 1911. Weil aber Frankreichs Regierung die Abtretung ihres Gebiets im Kongo ablehnte und Großbritannien sich wiederum deutlich auf die Seite der Franzosen stellte, begnügte sich die deutsche Regierung am Ende damit, daß Deutsch-Kamerun im Osten und Süden durch Teile von Französisch-Äquatorial-Afrika vergrößert wurde. Dafür akzeptierte das Deutsche Reich die Okkupation Marokkos durch Frankreich und sogar ein französisches Protektorat über den nordafrikanischen Staat (Marokko-Kongo-Vertrag, 4. November 1911). Während die Zweite Marokkokrise die Ententepartner Frankreich und Großbritannien noch enger zusammenbrachte, hatte sich die Führung des Deutschen Reichs dem Druck der Entente gebeugt und in beträchtlichem Maße Prestige eingebüßt.11
Nach der in der Bosnienkrise 1908 geübten Zurückhaltung sah Großbritannien seine Politik der Entente und der Einkreisung auf dem Prüfstand und richtete in Person seines Schatzkanzlers (und späteren Kriegspremiers) David Lloyd George eine unverhohlene Kriegsdrohung an Deutschland (21. Juli 1911).12 Die britische Anmaßung löste zwar im Reich, das sich nahezu überall in seiner Außen- und Kolonialpolitik von Großbritannien behindert sah, riesige Empörung aus, doch Kaiser Wilhelm II. und sein damaliger Reichskanzler Bethmann-Hollweg wichen vor den Zumutungen Frankreichs und Drohungen Britanniens zurück. Aber obwohl die westlichen Ententemächte das Deutsche Reich letzten Endes empfindlich demütigten und seine Großmachtrolle immer stärker zur Erosion brachten, ließen sie die Chance zum Krieg trotz der angespannten Atmosphäre ungenutzt verstreichen: Frankreich und Rußland, wiewohl hochgerüstet, fanden nämlich, daß der günstigste Moment für den angestrebten großen Krieg 1911 noch nicht gekommen sei.
Für die erlittene Demütigung suchte die deutsche Führung nunmehr einige Kompensation in verstärktem Flottenbau, der in der vom Großadmiral von Tirpitz angeregten Flottennovelle (1912)13 seinen Niederschlag fand. Während der Kaiser die Pläne von Tirpitz billigte, stellte sich der Kanzler Bethmann-Hollweg gegen jede Erhöhung des Bautempos für neue Kriegsschiffe. Letzterer wollte auf gar keinen Fall Großbritannien verärgern, sah jedoch nicht, daß die doch eher bescheidene deutsche Hochseeflotte für dieses kein echtes Sicherheitsrisiko darstellte und keineswegs den wahren Kern der deutsch-britischen Spannungen bildete. Daher scheiterte Reichskanzler Bethmann-Hollweg auch mit seinem Neutralitätsbegehren an Großbritanniens Regierung: Diese ließ nach den Gesprächen, die ihr Kriegsminister Haldane im März 1912 in Berlin führte,14 die Reichsregierung abblitzen. Und es war einzig die Politik der Entente und der Einkreisung mit ihrer revisionistischen und im Kern aggressiven Zielsetzung, die aus britischer Sicht eine Neutralitätsverpflichtung gegenüber Deutschland ausschloß. Großbritannien wollte sich um keinen Preis aus der Triple Entente mit Frankreich und Rußland herauslösen lassen.

Die Julikrise 1914 als Auftakt zum großen Revisionskrieg

Nach den Balkankriegen von 1912/1315 ließ der nächste große europäische Konflikt (wieder auf dem Balkan) nicht lange auf sich warten: die Krise vom Juli 1914, ausgelöst durch die Ermordung von Österreichs Thronfolger Franz Ferdinand und seiner Gattin in Sarajevo am 28. Juni 1914. Hinter dem Attentäter Gavrilo Princip stand der Geheimbund „Schwarze Hand“, hinter diesem die serbische Regierung und hinter der wiederum Rußland, das seinen Rivalen Österreich-Ungarn durch serbische Provokationen gezielt destabilisieren wollte.
1912 hatte Berlin den Bündnispartner an der Donau noch von einem Angriff gegen die Serben zurückgehalten, doch jetzt setzte sich in der Reichsführung die Meinung durch, daß der Mord an dem designierten Kaiser eine militärische Strafaktion Wiens gegen Serbien als auch im vitalen Interesse des Deutschen Reichs liegend erscheinen ließ. Österreich-Ungarn als einziger noch verläßlicher Alliierter durfte nicht entwertet, sondern mußte unterstützt werden – auch im eigenen, deutschen Interesse. Auf der Gegenseite wirkte Rußland nicht – wie es gerne verzerrt dargestellt wird – mäßigend auf Serbiens Kollisionskurs gegenüber Wien ein, sondern brachte Belgrad systematisch und skrupellos gegen den habsburgischen Rivalen in Stellung, wobei das Zarenreich sich des panslawistischen Gedankengutes bediente. Österreich-Ungarn sollte in seinem Bestand zerstört werden. Das mußte aus deutscher Sicht unbedingt verhindert werden, und so kam es zu dem berühmt-berüchtigten „Freibrief“ Deutschlands für die Donaumonarchie. Damit untrennbar verbunden war die Gefahr eines Weltkriegs, aber wenn der Krieg schon irgendwann unumgänglich kommen würde, wurde er besser jetzt gefochten, solange noch Aussicht bestand, ihn durchzustehen – so der Gedankengang der Reichsführung.
Doch trotz starker Rückendeckung aus Berlin handelte das „gemütlich vor sich hinsiechende“ Österreich-Ungarn so saumselig, daß Deutschlands Führung es geradezu zum Angriff drängen mußte –, um nicht das für die deutsche Strategie unverzichtbare Überraschungsmoment einzubüßen. Erst am 15. Juli sollte ein österreichisches Ultimatum an Serbien ergehen, doch der kurze Zeitraum, in dem der Feldzug gegen dieses in Europa als gerechtfertigt akzeptiert wurde, war inzwischen schon vorüber, die Stimmung war umgeschlagen: Jetzt wurde eine k. u. k. Strafaktion gegen Belgrad als Gefährdung des Friedens angesehen, und das spielte der Entente in die Karten. Tatsächlich wurde das Ultimatum sogar erst am 23. Juli in Belgrad ausgehändigt. Es war auf 48 Stunden befristet und verlangte u. a., daß auch österreichische Beamte vor Ort an der gerichtlichen Aufklärung des Mordes teilnehmen müßten. Mit dieser zentralen Forderung war die Ablehnung des Ultimatums durch Serbien vorprogrammiert. Dazu beschloß der Kronrat von Zar Nikolaus II. am 25. Juli, Serbien auch mit Waffen zu unterstützen. Wien brach in Anbetracht der faktischen Ablehnung seiner Forderungen durch Belgrad die diplomatischen Beziehungen ab. Beide Staaten machten nunmehr mobil, und am 28. Juli 1914 erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg.16
Obwohl Bethmann-Hollweg Österreich jetzt zu einem Kompromiß mit Rußland drängte, tat das Zarenreich durch Anordnung der Generalmobilmachung am 29. Juli den entscheidenden Schritt zum Krieg – und zwar unprovoziert, da es keinen aus der Krise zwingend folgenden Kriegsgrund hatte. Es übernahm die Vorreiterrolle bei der Vollstreckung des Kriegswillens der Entente gegen das Reich. Jetzt – und nicht erst mit dem Akt der Kriegserklärung – begann der Krieg. Es schlug die Stunde der Militärs, die für Diplomatie und Politik kaum mehr Spielraum ließ. Da Rußland ein deutsches, auf die Einstellung der russischen Mobilmachung gerichtetes Ultimatum nicht beantwortete und da Frankreich auf ein anderes deutsches Ultimatum (es forderte dessen Neutralität im Falle eines deutsch-russischen Kriegs) nicht einging, erklärte Deutschland am 1. August Rußland den Krieg, ordnete noch am selben Tag die Mobilmachung an und erklärte am 3. August Frankreich den Krieg. Nachdem deutsche Truppen am 3. August den Marsch durch das neutrale Belgien angetreten hatten, nahm Großbritannien dies zum Anlaß, Deutschland am 4. August den Krieg zu erklären. Österreich-Ungarn erklärte den Ententemächten am 6. August den Krieg, doch die formell dem Dreibund angehörenden Staaten Italien und Rumänien verneinten den Bündnisfall und verkündeten ihre Neutralität. Die Türkei hingegen stellte sich auf die Seite der Mittelmächte, blockierte an den Meerengen den Zugang Rußlands zum Mittelmeer und verhinderte so eine russisch-britische Kooperation am Bosporus. Dagegen schloß sich Japan wegen seiner Allianz mit Großbritannien der Entente an17.
Großbritannien war fest davon ausgegangen, daß Deutschland klein beigeben, im Falle eines Konfliktes mit Rußland diplomatisch kapitulieren würde, wenn in Berlin nur hinreichend klar wäre, daß Großbritannien auf der Seite der Gegner des Reichs fechten würde. Die Reichsführung entschied jedoch anders, da sie speziell in Person Bethmann-Hollwegs bis zuletzt nicht daran glauben wollte. Dabei sprechen einige Indizien dafür, daß die britische Führung bereits im März 1914 (also lange vor Sarajevo) von einem Kriegsbeginn im Juli dieses Jahres ausging.18 Auf jeden Fall war die deutsche Verletzung der belgischen Neutralität für Großbritannien nur ein vorgeschobener Kriegsgrund: Denn wenn man sich ansieht, wie brutal die Briten zu Ostern 1916 die Erhebung des um seine Freiheit kämpfenden, kleinen irischen Volkes niederschlugen, so ist es mit Britanniens Anspruch, die Freiheit kleiner Nationen zu verteidigen, nicht weit her.19
Reichskanzler Bethmann Hollweg, der sich dem Frieden verpflichtet fühlte, machte gegenüber dem britischen Botschafter in Berlin, Goschen, vor dessen Abreise seiner tiefen Verbitterung Luft: Es sei ein Verbrechen gewesen, daß Rußland Deutschland den Krieg aufgezwungen habe, als dieses sich noch um Verhandlungen zwischen Wien und St. Petersburg bemüht habe. Der Krieg Rußlands und Frankreichs gegen Deutschland sei genug des Unheils gewesen. Diesen Krieg jedoch habe Britanniens Beteiligung in eine Weltkatastrophe umgewandelt. Es habe in der Hand Londons gelegen, Frankreichs Revanchismus und den panslawistischen Chauvinismus zu zügeln. Dies habe Großbritannien nicht getan, sondern diese Triebkräfte öfters eher angestachelt, und jetzt unterstütze es sie aktiv. Deshalb wiege die britische Verantwortung ungeheuer schwer.20
Deutschlands Mitverantwortung („Blankoscheck“ für Österreich-Ungarn) soll hier keineswegs geleugnet werden, doch über die These des Versailler Vertrags von deutscher Alleinschuld ist heute ja sogar schon die nicht-deutsche Geschichtsschreibung (u. a. Christopher Clark)21 hinweg.
Da indes eine Schuldfeststellung zu Lasten der siegreichen Alliierten auch nicht in Frage kommt, wurde eine Theorie gefunden, die keiner der Kriegsparteien allzu weh tut. So wird die Verantwortlichkeit mit der These des „Hineinstolperns“ in den großen Krieg auf die Schuldform der Fahrlässigkeit reduziert und – in „gerechter“ Weise – auf alle Großmächte verteilt. Die Schuld der Entente, der Revisionsmächte also, wird vernebelt, und so bleibt die historische Wahrheit weiterhin auf der Strecke.22

Anmerkungen

1 Aussage Bismarcks, zitiert nach Schwarze, Ulrich: Die Deutschen und ihr Staat. Band 2: Die Einkreisung 1871—1914. Vom saturierten Bismarckschen bis zum konkurrierenden Wilhelminischen Reich. Tübingen 2013, S. 36.
2 Ebenda, S. 38—46.
3 Ebenda, S. 58—73.
4 Ebenda, S. 202.
5 Ebenda, S. 174.
6 Ebenda, S. 217—219.
7 Ebenda, S. 281f.
8 Ebenda, S. 295—297.
9 Ebenda, S. 299—301.
10 Born, Karl Erich: Von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg. In: Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte. Band 3: Von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg. 8., vollständig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart 1960. Verbesserter Nachdruck 1963, S. 191—313, hier: S. 299.
11 Ebenda, S. 299f. Vgl. dazu U. Schwarze, Die Deutschen und ihr Staat II, S. 324f.
12 U. Schwarze, Die Deutschen und ihr Staat II, S. 318f.
13 Ebenda, S. 325—329.
14 Ebenda, S. 329—333.
15 Ebenda, S. 339—353.
16 Ebenda, S. 369—371.
17 Ebenda, S. 371—375.
18 Ebenda, S. 377f.
19 Ebenda, S. 379f.
20 Ebenda, S. 383f.
21 Clark, Christopher: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. München 2013.
22 U. Schwarze, Die Deutschen und ihr Staat II, S. 379.

 
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