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Französische und deutsche Baukunst

Von Dr. Eduard J. Huber

Facetten einer europäischen Kultur

Als im Jahr 1185 der von Kaiser Heinrich II. gestiftete Bamberger Dom fast vollständig abgebrannt war, sah man sich zu einem Neubau genötigt. Die Frage war, in welchem Stil man bauen sollte, im romanischen oder im gotischen, denn die Gotik gab es ja um diese Zeit bereits. In Nordfrankreich standen bereits die frühgotischen Kathedralen von Noyon, Senlis, Paris und Laon; der Bau von Chartres wurde 1194 begonnen, der von Reims 1211. Es wäre also an der Zeit gewesen, auch in Bamberg gotisch zu bauen, denn man darf nicht glauben, man hätte diesen Stil in Deutschland noch nicht gekannt. Es gab immerhin schon die Elisabethkirche in Marburg, und als 1207 der Magdeburger Dom abgebrannt war, ließ Erzbischof Albrecht II. von Käfernburg den Neubau als gotische Kathedrale nach französischem Vorbild errichten. Warum also baute man zwischen 1200 und 1237 in Bamberg einen romanischen Dom?

Der eine Grund war, daß man sich möglichst eng an den frühromanischen Bau des 11. Jahrhunderts anlehnen wollte, der zweite, daß es eben ein Kaiserdom war. Da die alten Kaiserdome von Speyer, Worms und Mainz romanisch waren, hielt man die Romanik ganz einfach für den „kaiserlichen Stil“. Selbst der Dom von Naumburg, der erst 1213 bis 1244 errichtet wurde, folgte noch diesem Schema. Nun war es freilich nicht so, daß man die Entwicklung in Frankreich völlig außer acht gelassen hätte – man übernahm zum Beispiel von der Kathedrale von Laon die Gestaltung der Türme mit den Ecklaternen –, aber im wesentlichen hielt man eben doch an der Romanik fest. Es ist unverkennbar, daß noch um 1200 die Gotik als französischer und die Romanik als deutscher Stil wahrgenommen wurde. Man könnte es auch so deuten, daß vor allem Nordfrankreich damals fortschrittlicher, Deutschland dagegen rückständiger gewesen sei, aber das würde nicht erklären, warum zur selben Zeit in Magdeburg, also weit im Osten, eine gotische Kathedrale und in Bamberg und Naumburg romanische Dome errichtet wurden. Offenbar waren die Deutschen konservativer, und die monumentale Kraft der Romanik lag ihnen näher als die hochaufstrebenden, vielfach durchbrochenen Strukturen der Gotik.

Romanik als deutscher „kaiserlicher Stil“

Vor allem fällt auf, daß die Deutschen schon in der Romanik einen ganz eigenen Grundriß ihrer großen Kirchen entwickeln: Er ist in der ausgeprägtesten Form dreischiffig, mit zwei Chören, zwei Querhäusern und vier Türmen, die in den Ecken zwischen Langschiff und Querhaus aufragen. Noch nicht ganz diesem Schema entspricht der Kaiserdom zu Speyer, der nur einen Chor und ein Querschiff aufweist, aber schon viertürmig ist. Bamberg und Naumburg dagegen haben zwei Querschiffe und zwei Chöre wie auch St. Michael in Hildesheim, das aber nur zwei Vierungstürme besitzt und kleinere Rundtürme an den Enden der Querschiffe. All diese Bauten bestechen durch ihre wohltuende Ausgewogenheit: Da schiebt sich kein Bauteil unübersehbar in den Vordergrund wie die gewaltig emporstrebenden Westwerke der gotischen Kathedralen, wie das geradezu erschreckende Turmpaar des Kölner Doms, zwischen dem die Westseite des Kirchenschiffs förmlich erdrückt wird, oder das herrliche Westwerk der Kathedrale von Chartres, deren Doppelturmfassade dadurch gewinnt, daß die Türme merklich verschieden sind.
Das wohl schönste Gegenbild zu diesem Rausch der Vertikale ist das zurecht gerühmte Ostwerk des Speyrer Doms. Obwohl auch von einer gewissen Monumentalität, ist es doch zugleich von vornehmer Zurückhaltung durch die wohlausgewogene Gliederung der einzelnen Baukörper: zunächst die Apsis mit Blendbogengliederung und dem Abschluß durch eine Zwerggalerie, darüber der Giebel des Langhauses mit fünf großen gestaffelten Wandnischen, schließlich die mächtigen Vierecktürme, die nach oben hin immer leichter zu werden scheinen, weil die kleinen Öffnungen des Sockels zunächst durch ein großes Fensterpaar und dann durch dreibogige Arkaden abgelöst werden. Und als sollten die Türme nicht gar zu herrisch in den Himmel ragen, schiebt sich, etwas zurückgesetzt, noch eine breite Vierungskuppel ins Bild. Das Ganze strahlt eine solche Ruhe aus, daß man es lange betrachten und bewundern möchte. Das Wort Winckelmanns von der „edlen Einfalt und stillen Größe“, das auf die griechische Kunst gemünzt war, gilt ganz bestimmt auch hier.

Gemeinsames Erbe der Antike

Trotz allem sollte man die Unterschiede zwischen französischer und deutscher Architektur, die im hohen Mittelalter auftreten, nicht überbewerten. Im großen und ganzen bilden Deutschland, Frankreich und Oberitalien meist eine einzige große Kulturprovinz, deren künstlerischer Reichtum bis nach England, Skandinavien und Ostmitteleuropa ausstrahlt. Allein in Anbetracht der zahlreichen romanischen Kirchen in Frankreich, vor allem in Burgund, läßt sich nicht behaupten, die Romanik sei ein typisch deutscher Stil. Sie kommt ja, wie der Name andeutet, letztlich aus römischer Bautradition: Am Anfang stehen die drei- oder fünfschiffigen Basiliken, deren Innenraum durch Säulenreihen gegliedert und mit einer Flachdecke abgeschlossen ist. Dem Eingang gegenüber liegt eine meist fensterlose, in den christlichen Basiliken mit Mosaiken ausgeschmückte Apsis. Auch die Seitenwände unterhalb und zwischen den Fenstern des Hochgadens tragen oftmals Mosaikschmuck. Die schönsten Beispiele dafür sind S. Maria Maggiore und S. Maria in Trastevere in Rom und die Basiliken Ravennas. Nördlich der Alpen findet sich dieser Typus kaum, mit einer Ausnahme: Als Nuntius Pacelli, der spätere Papst Pius XII., einmal Mittelzell auf der Reichenau besuchte, soll er ausgerufen haben: „Ecco, una basilica!“ Allerdings fehlt hier der Schmuck der Mosaiken.
Es gibt aber noch einen zweiten Typus: den der Kuppelkirche nach dem Vorbild der Hagia Sophia zu Konstantinopel. Im Abendland finden sich dafür zwei herrliche Beispiele: San Vitale in Ravenna und die Pfalzkapelle in Aachen. Aber diese Linie findet hier kaum eine Fortsetzung, es sei denn, man wollte die klassizistische St. Hedwigskirche in Berlin hierherstellen; aber die ist nicht der Pfalzkapelle verpflichtet, sondern dem antiken Pantheon in Rom.
Im Abendland hat sich durchwegs der basilikale Typus durchgesetzt, auch wenn er sich im Laufe der Zeit gewandelt hat, von der Säulen- zur Pfeilerbasilika, vom einfachen Baukörper mit isoliert stehendem Campanile zu den komplexen Baukörpern der romanischen Kirchen mit Vierung, Querschiff, mehreren Apsiden bzw. Chören und meist mehreren Türmen, danach zu den gotischen Kathedralen, die ihre Strukturelemente (Strebepfeiler und -bögen) nach außen verlagert haben, um innen einen möglichst freien, vom mystischen Licht der Glasfenster erleuchteten Raum zu schaffen. Bis gegen Ende der Gotik bleibt diese basilikale Form erhalten, meist auf dem Grundriß eines lateinischen Kreuzes als dem Symbol des christlichen Glaubens. (Erst in den spätgotischen Hallenkirchen wie in Annaberg oder St. Georg in Dinkelsbühl wird diese Form aufgelöst.)
Der Westen des Frankenreichs ist früher christlich geworden als der Osten, da aber auch das linksrheinische Deutschland zum ehemals römischen Gebiet gehört, gibt es auch hier eine Kirchenbautradition, die bis in spätrömische Zeit zurückreicht, auch wenn hier wie dort keine intakten Denkmäler dieser Epoche überdauert haben. Die zwischen 305 und 311 erbaute konstantinische Palastbasilika in Trier ist keine Kirche, sondern ein Thronsaal gewesen und erst 1846 in eine protestantische Kirche umgewandelt worden. Außerdem ist sie im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört und nach dem Wiederaufbau im Rohzustand belassen worden, so daß man einen imponierend großen, aber zugleich erschreckend leeren Baukörper vorfindet. Wo immer ganz alte Kirchen vorhanden waren, sind sie im Mittelalter durch romanische und diese zum Teil wieder durch gotische Neubauten ersetzt worden.
Ein geradezu klassisches Beispiel dieser Entwicklung bietet die Trierer Doppelkirchenanlage von Dom und Liebfrauen: Hier wurden im 4. Jahrhundert zwei große römische Basiliken erbaut, die nach der Legende auf die Mutter Konstantins, die hl. Helena, zurückgehen. Die nördliche der beiden, der Dom, brannte in den Wirren der Völkerwanderung in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts und wurde um die Mitte des 6. Jahrhunderts wiederhergestellt. Ende des 10. Jahrhunderts hat man den Kern des konstantinischen Baus erneut saniert und zu Beginn des 11. durch Erzbischof Poppo von Babenberg (1016–1047) zu einem gewaltigen romanischen Bau erweitert. So bewahrt der Dom zwar noch einen ansehnlichen römischen Kern, ist im Ganzen aber doch romanisch. An der Stelle der Liebfrauenkirche dagegen bestand noch bis ins 13. Jahrhundert (!) die Südkirche der konstantinischen Anlage. Die wurde jedoch um 1230 abgerissen und durch eine gotische Kirche ersetzt, die kurz nach 1260 vollendet war. Obwohl von der französischen Gotik beeinflußt, gilt sie „sowohl in der Raumkonzeption und ihrem Baukörper wie auch in ihrer Ikonologie von Architektur und Skulptur (als) ein Unikum in der europäischen Gotik“1); denn sie ist ein Zentralbau, wie ihn die Gotik sonst nicht kennt. So stehen also jetzt an der Stelle zweier spätrömischer Basiliken eine romanische und eine gotische Kirche, und das entspricht gewissermaßen dem normalen Gang der Ereignisse. Nur in Italien, vor allem in Rom und Ravenna, ist die Antike noch ganz gegenwärtig, nördlich der Alpen dagegen gewöhnlich von romanischen und gotischen Bauten verdrängt worden. Da gibt es zwischen Deutschland und Frankreich kaum einen Unterschied.
Ähnlich wie in Trier gibt es auch in Autun, dem einst bedeutenden Augustodunum, Reste antiker Bauwerke (Stadttore, ein Theater, die Cella eines Tempels), aber die Kathdrale St-Lazare ist im Wesentlichen romanisch, 1120 begonnen und dann durch viele Jahrhunderte weitergebaut. Selbst Lyon, das alte Lugdunum, die zeitweilig bedeutendste Stadt Galliens, besitzt keine Kirche aus der Antike. Die älteste ist die romanische Basilika St-Martin-d’Ainay, die 1107 geweiht worden ist. Die Kathedrale St-Jean dagegen ist seit 1180 in strengem gotischem Stil entstanden. Vergleicht man die drei genannten antiken Städte, bewahrt Trier (mit der Porta Nigra, den Thermen und der Basilika) noch am meisten Römisches.

Romanischer Zaubergarten Burgund

Gehen wir nach Burgund, sehen wir eine in ihrer Architektur vorwiegend romanisch geprägte Kulturlandschaft. Das beginnt mit der archaisch wirkenden Kirche St-Philibert in Tournus, die noch als vorromanisch gilt. Das Innere wird von mächtigen gemauerten Rundpfeilern beherrscht, die ursprünglich eine Balkendecke getragen haben, wie wir das zum Beispiel auch von St. Michael in Hildesheim kennen. Dann aber ist diese durch Gurtbögen und Tonnengewölbe und in den Seitenschiffen durch Kreuzgratgewölbe ersetzt worden, so daß die Kirche doch eher der Romanik zuzuordnen ist, zumal da der Außenbau von Türmen aus dem 12. Jahrhundert beherrscht wird.
Der größte romanische Baukomplex des Mittelalters war die Abtei von Cluny, von der die Französische Revolution leider nur zwei Türme übriggelassen hat. Einen kleinen Trost bietet da allenfalls ein romanisches Stadthaus, das im Städtchen Cluny erhalten ist. Und doch können wir uns von der einstigen Pracht der Klosterkirche noch ein gutes Bild machen, denn in Paray-le-Monial steht eine große Kirche, die um 1100 nach dem Vorbild von jener erbaut worden ist. Ihr Hauptschiff ist zwar nur 22 Meter (gegenüber 30 Metern in Cluny) hoch, aber auch das ist noch gewaltig. Letztlich kommt es nicht auf die Größe an, vielmehr ist es die Ausgewogenheit der Proportionen, die diese Kirche von außen wie von innen als „Wunderbau“ erscheinen läßt.
Für den Freund der Romanik wirkt Burgund wie ein Zaubergarten, wo er von immer neuen Wundern überrascht wird. Da gibt es ja nicht nur die weltberühmten Kirchen von Autun und von Vezelay, sondern auch kleinere und kaum weniger eindrucksvolle wie Semur-en-Brionnais oder Anzy-le-Duc oder La-Chaité-sur-Loire mit ihrem mächtigen Turm. Bisweilen wird man auch von kleinen romanischen Dorfkirchen fasziniert wie der von Brancion oder jener von Blanot, die aus der Ferne betrachtet fast nur aus einem Turm zu bestehen scheint. Nicht zu vergessen der würdevolle romanische Kreuzgang der Abtei von Fontenay oder die Ruine des Schlosses Druyes-les-Belles-Fontaines.2)

Wiege und Hochblüte der Gotik

Wie fast überall in Europa hat vom 13. Jahrhundert an auch in Burgund die Gotik Einzug gehalten, wofür die Kirche von Brou den schönsten Beweis liefert, und doch ist das nicht die Heimat der Gotik. Man könnte auch sagen, daß Burgund nicht Frankreich ist, sondern eben ein Teil jenes alten Mittelreichs, das Frankreich und Deutschland geographisch trennt, wie es sie historisch verbindet. Gehen wir also ins eigentliche Frankreich: in die Ile-de-France, in die Champagne, in die Beauce, eben dorthin, wo die Baukunst der Gotik ihre schönsten Blüten entfaltet hat.
Man muss wohl nicht viel sagen über Notre-Dame-de-Paris, über die Kathedralen von Chartres, Reims und Amiens, die unter Kennern als die schönsten Bauwerke gelten, welche die Menschheit errichtet hat. Andererseits könnte man auch gar nicht alles darstellen, was darüber zu sagen wäre. Eines ist sicher: Wir könnten uns vom Mittelalter und seiner tiefen Frömmigkeit überhaupt kein rechtes Bild mehr machen, wenn wir Chartres nicht hätten oder Bourges oder Straßburg, auch Troyes oder den Chor des Kölner Doms und nicht zuletzt die Sainte-Chapelle. Denn eine gotische Kathedrale ist ein Gesamtkunstwerk von Architektur, Plastik, Malerei, vor allem Glasmalerei, und wenn eines dieser Elemente fehlt, geht ihre Wirkung verloren. Das erlebt man vor allem in Reims, dessen Architektur und Plastik von höchstem Rang sind, das aber im Inneren durch den Verlust seiner Fenster beinahe kahl und jedenfalls kalt wirkt. Noch deutlicher wird das in einer protestantisch gewordenen Kirche wie dem Ulmer Münster, dem auch noch der Schmuck der Plastik und der Altäre fehlt, so daß die gotische Architektur wie zu einem Gerippe erstarrt ist, tot und leer.
Gott sei Dank gibt es noch Chartres und die anderen Kathedralen, die ihre mittelalterlichen Glasfenster haben bewahren können, sonst wäre Europa wirklich um einen großen Schatz ärmer! So aber ist gerade das zentrale und nördliche Frankreich neben Italien eine der reichsten Kulturlandschaften der Welt und zu Recht stolz darauf.

Norddeutsche Backsteingotik

Es gibt aber noch eine andere Gotik, die weniger bekannt ist und meist weniger geschätzt wird als die französische und doch eine beinahe ebenso große Leistung darstellt: die Backsteingotik Norddeutschlands. In der ganzen Norddeutschen Tiefebene, die geologisch zum Moränengebiet der Eiszeiten gehört, gibt es nirgends festes Gestein, das man bearbeiten könnte. Also mussten die Städte samt ihren Kirchen und Rathäusern in Ziegelbauweise errichtet werden. Konnte man damit gotisch bauen? Ja, man versuchte es jedenfalls und hatte auch Erfolg damit, obwohl dann freilich eine andere Art von Gotik herauskam als in Frankreich oder Westdeutschland.
Ein schönes Beispiel dafür bot einst die Hansestadt Lübeck, die trotz der schweren Verwüstungen durch den Bombenkrieg immer noch (oder wieder) von den sieben Türmen ihrer Hauptkirchen überragt wird. Alle sind zwischen 1226, als Lübeck Reichsstadt wurde, und der Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden und im gotischen Stil erbaut. Die größte und bedeutendste, die zum Vorbild für viele Kirchen entlang der Ostseeküste wurde, ist die Domkirche St. Marien. Sie ist eine dreischiffige Basilika mit sehr hohem Mittelschiff und deutlich niedrigeren Seitenschiffen und zwei mächtigen fünfgeschossigen Westtürmen, deren steile, kupfergedeckte Hauben hoch in den Himmel ragen. Aber nicht nur die Kirchen, auch das Rathaus, das Spital und die Stadttore, wie das bekannte Holstentor und das Burgtor, sowie viele Bürgerhäuser sind im selben Stil erbaut.
Da kein Haustein vorhanden war, musste auch die plastische Gestaltung der Fassaden und Außenmauern in Ziegelmauerwerk ausgeführt werden, aber man wußte aus der Not eine Tugend zu machen und fand eine Fülle von Möglichkeiten, die Mauern durch Fenster, Nischen, Querbänder und Strebepfeiler plastisch zu gestalten, so daß diese Bauwerke mit ihrem warmen Ziegelrot und dem Spiel von Licht und Schatten einen ganz eigenen Charme entfalten, streng und angenehm zugleich. Mancherorts, wie in Wismar oder Danzig, sind die Fassaden der Rat- und Bürgerhäuser oft hoch über die Giebel hinaufgezogen und geradezu filigran durchbrochen, so daß sie fast wie Spitzendecken wirken. Wenn man längere Zeit davorsteht und die Wolken dahinter vorbeiziehen sieht, wird einem ganz schwindlig, weil man irgendwann nicht mehr unterscheiden kann, ob sich die Wolken oder nicht doch die Fassaden bewegen.
So hat sich der gotische Stil, ursprünglich eine Erfindung Nordfrankreichs, in verwandelter Form allmählich das ganze Ostseegebiet bis ins Baltikum und nach Südskandinavien erobert, das zu jener Zeit durch den Städtebund der Hanse beherrscht wurde. Man könnte sogar behaupten, die Backsteingotik sei der Stil der Hanse überhaupt. Er prägt die Stadtbilder von Lübeck, Wismar, Rostock, Stralsund, Stettin, Danzig, Riga, Reval und nicht zuletzt von Wisby auf Gotland, wo die Gotik, die ja keineswegs von den Goten stammt, schließlich in deren Heimat angekommen ist.
Während um 1200 die Romanik als der deutsche, die Gotik als der französische Stil galt, war letztere um 1500 so sehr angenommen worden, daß sie geradezu als d e r deutsche Stil angesehen wurde. Als in Italien die Renaissance schon längst ihren Siegeszug angetreten hatte, hielten die Deutschen unbeirrt an ihrer Gotik fest. So wurde zum Beispiel noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts in der kleinen Reichsstadt Dinkelsbühl die Georgskirche als rein spätgotische Hallenkirche erbaut, ohne das mindeste Zugeständnis an die Renaissance. Die Hochschätzung der Gotik als Ausdruck deutscher Gesinnung und Empfindung war selbst im 19. Jahrhundert noch so lebendig, daß die Vollendung des Kölner Doms von 1842 bis 1880 als große nationale Aufgabe begriffen werden konnte. Daneben wurden um dieselbe Zeit auch der Ulmer Münsterturm und das Turmpaar des Regenburger Doms vollendet.

Renaissance als Schloßbaustil

Die Renaissance hat in Deutschland keine besonders tiefen Spuren hinterlassen, zumal da ihr größtes und schönstes Denkmal, das Heidelberger Schloß, bereits im Pfälzischen Krieg (1688–1697) zerstört worden war. So sind nur einige Schlösser der „Weserrenaissance“ geblieben, deren bekanntestes die Hämelschenburg bei Hameln ist, oder das hohenlohische Schloß Weikersheim. Andere Beispiele sind die Innenhöfe des Alten Schlosses in Stuttgart, des Schlosses Hartenfels in Torgau und der Plassenburg bei Kulmbach. Das kurmainzische Schloß Aschaffenburg, 1605 bis 1614 von Georg Ridinger aus Straßburg erbaut, ist mit seiner ebenmäßigen Vierflügelanlage auch noch ganz der Renaissance verpflichtet, obwohl es zeitlich schon dem Barock zugehört.
In Frankreich verhält es sich merklich anders, denn hier scheint die Renaissance d e r Schloßbaustil schlechthin zu sein, auch wenn im Barock weitere Schlösser hinzugekommen sind. Vor allem an der Loire läßt sich diese Baukunst bewundern: im königlichen Schloß von Blois, im pompösen Chambord wie im eleganten Chenonceau, im burgähnlichen Chatauneuf-sur-Cher wie in Chinon oder im Schloß Meillant, das den Übergang von der Spätgotik zur Frührenaissance verkörpert. Cheverny dagegen ist schon barock. D a s barocke Schloß überhaupt, Vorbild für zahlreiche Schlösser in Europa, ist ohne Zweifel das von Versailles. Noch heute vermittelt es ein anschauliches Bild davon, wie der Sonnenkönig wohnen und repräsentieren wollte. Vielleicht dürfte man sogar in einer Abwandlung seines berühmten Ausspruchs sagen: „Versailles c’est moi!“

Der süddeutsche Spätbarock

In Deutschland, vor allem im Süden, hat sich eine eigenständige Art von Barock entwickelt, kraftvoller, plastischer als der französische. Und man tut Versailles gewiß nicht unrecht, wenn man ihm Schlösser wie die Würzburger Residenz oder das Belvedere des Prinzen Eugen in Wien vorzieht. Andere wie Schloß Schönbrunn bei Wien, Schloß Ludwigsburg oder das Neue Schloß in Stuttgart oder Schloß Nymphenburg bei München zeigen dagegen eher den französischen Stil, ebenso die kleinen Lust- und Jagdschlösser wie Sanssouci in Potsdam oder die Solitude bei Stuttgart.
Die bedeutendste Leistung des süddeutschen Barocks stellen aber nicht seine Schlösser, sondern seine Kirchen dar, wahre Gesamtkunstwerke von Architektur, Plastik, Stukkatur und Malerei, die ihre Herrlichkeit erst ganz entfalten, wenn – bei einem feierlichen Gottesdienst oder einem Kirchenkonzert – auch noch die Musik hinzutritt; denn ganz wesentlich gehören zu diesen Kirchen die großen Orgeln wie in Weingarten oder Ottobeuren. Norddeutsche haben meist wenig Sinn für diese komplexen Wunderwerke, die so katholisch und so sinnenfroh sind; sie verlieren sich in der Betrachtung einzelner Heiligenfiguren oder Putten, die sie womöglich kitschig finden, weil sie mit ihren Sehgewohnheiten nicht imstande sind, einen solchen Raum als Ganzes in den Blick zu fassen. Auch Franzosen sind manchmal ein wenig irritiert, weil sie diese Art von Kunst zwar aus ihren Schlössern, nicht jedoch aus ihren Kirchen kennen. Für sie wie für die Norddeutschen scheint die Gotik der einzig angemessene Stil für eine christliche Kirche zu sein. Barockkirchen aber sind Festsäle, die ganz anders als gotische Kathedralen eine Ahnung der himmlischen Freuden zu vermitteln suchen; im übrigen sind sie Ausdruck der Frömmigkeit des 18. Jahrhunderts, historisch also doch sehr weit von der des Mittelalters entfernt und darum auch kaum vergleichbar.
Gotik und Barock vertragen sich kaum in einem Bau, aber es gibt romanische Kirchen, die eindrucksvoll und überzeugend barockisiert worden sind, zum Beispiel die Stiftskirche in Ellwangen, vor allem aber die Klosterkirche von Zwiefalten (westlich von Ulm), die so völlig barock wirkt, daß man ihren romanischen Kern gar nicht mehr erkennt. Grandiosere Kirchen haben die Barockbaumeister nur dort geschaffen, wo sie ohne Rücksicht auf einen Vorgängerbau ihrem Gestaltungswillen völlig freien Lauf lassen konnten. Da entwarfen sie Grundrisse, wo fast alle geraden Linien durch geschwungene und die Rechtecke durch Kreise und schließlich Ellipsen ersetzt werden. So entstehen Bauten, die förmlich zu atmen scheinen, zumal da die raffinierte Lichtführung den Eindruck fortwährend verändert. Es gibt Zwei-Schalen-Konstruktionen, bei denen die Außenwände mit ihren Fenstern so hinter Pfeilern und Säulen verschwinden, daß man kaum erkennt, woher das Licht scheint. Dazu kommt, daß die Flachkuppeln, welche die einzelnen Baukörper überwölben, durch eine gekonnte Illusionsmalerei nach oben offen erscheinen, so daß man den paradoxen Eindruck empfängt, an einen nicht-räumlichen Ort versetzt zu sein, einen betörenden Vorraum des Ewigen.
Eines der schönsten Beispiele dieser Kunst ist ohne Zweifel die Basilika von Ottobeuren (in Schwaben), die alles vereinigt, was der Barock zu leisten vermag, ein anderes Vierzehnheiligen hoch über dem Main, das späteste Neresheim (auf der Ostalb), dessen ungeheure Wirkung leider durch eine gefühllose Restauration (alles Weiß in Weiß, bis auf die Deckengemälde) merklich abgeschwächt ist. Zauberhaft sind auch die kleineren Kirchen dieses Stils wie die Birnau (am Bodensee), die berühmte Wieskirche bei Steingaden (in Oberbayern) und die Kirche von Steinhausen in Oberschwaben, die von Enthusiasten als „die schönste Dorfkirche der Welt“ angesehen wird.
Dieser süddeutsche Spätbarock, der etwas ganz anderes darstellt als das zeitgleiche französische Rokoko, ist nahezu zwangsläufig zum Endpunkt der Architekturentwicklung seit der Antike geworden, denn was sollte man nun bauen, nachdem die Architektur sich geradezu selbst aufgelöst und in Illusion verwandelt hatte? Verstört von dieser Ausweglosigkeit, wandte man sich nun längst vergangenen Epochen zu, baute klassizistisch, neuromanisch oder neugotisch, als gäbe es kein Vorwärts mehr, sondern nur noch ein Zurück.

Vorwärts zurück

Es ist kaum ein Zufall, daß dieser Umbruch in der Architekturgeschichte eben zu der Zeit erfolgt ist, wo die Französische Revolution das Ancien Régime beseitigt hat. Die Revolutionäre wandten sich bewußt und entschieden von einer Tradition ab, die eindeutig christlich geprägt war, und dafür der heidnischen Antike zu: bauten Tempel statt Kirchen, Triumphbögen statt der Calvaires und stellten Obelisken statt Mariensäulen auf. Paris als die Hauptstadt der Revolution ist hierin zum Vorbild für viele andere Hauptstädte geworden. Selbst Berlin, wo die Revolution erst 1918 siegte, baute klassizistisch, wie man am Brandenburger Tor erkennt oder am Gendarmenmarkt studieren kann.
Abschließend ergibt sich also: Romanik gibt es in Frankreich und in Deutschland gleichermaßen, nur entfaltet sie sich dort vor allem in großen Klöstern (wie Cluny), hier in den Kaiserdomen (wie Speyer). Die Gotik stammt aus Frankreich, gelangt dort auch zur höchsten Blüte, strahlt aber so stark nach Deutschland aus, daß sie hier für drei Jahrhunderte den Kirchenbau völlig beherrscht. Außerdem entwickelt sie in der Backsteingotik des Nordens ganz eigene Ausdrucksformen. Renaissance und Barock kommen aus Italien; die eine gewinnt in Frankreich stärkeren Einfluß als in Deutschland, der andere dagegen entfaltet seine schönste Blüte im südlichen Deutschland (womit hier auch die Schweiz und Österreich gemeint sind).
Es ist in der Architektur wie in vielen anderen kulturellen Gebieten auch: Die Impulse gehen entweder von Italien oder von Frankreich aus und beeinflussen zunächst Deutschland; dieses wird dann zum Vermittler für Skandinavien, das Baltikum, Polen, Böhmen und Ungarn. Darum ist die Architektur Ostmitteleuropas im wesentlichen deutsch, und das gilt nicht nur für die ehemals deutschen Städte wie Breslau oder Danzig, sondern vor allem für Prag (das ja als erste deutsche Hauptstadt gelten kann) und für Krakau, die alte polnische Königsstadt. Der Westen Deutschlands dagegen gleicht eher Frankreich, wovon nicht nur der Kölner Dom und die Münster von Freiburg, Basel und Bern Zeugnis geben, sondern auch die schiefergedeckten Häuser der Kleinstädte und Dörfer am Fuße von Weinbergen. Hier wirkt Deutschland gewissermaßen französisch, wie die Städte Ostmitteleuropas deutsch wirken. Kultur hat sich im Mittelalter wenig um Landesgrenzen gekümmert und sollte es (nach den Verwirrungen des Nationalismus) auch künftig nicht tun.

 
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