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Odin statt Jesus?

Von Dr. Baal Müller

Gott- und Jenseitsvorstellungen im deutschen Neuheidentum

Donarseiche, Irminsul, Karl der „Sachsenschlächter“: Das Verhältnis neuheidnischer Bewegungen zum Christentum ist an der Oberfläche von polemischen Schlagworten geprägt. Schaut man genauer hin, zeigt sich ein komplexes Beziehungsgeflecht, das nachfolgend etwas entwirrt werden soll. Wir beschränken uns auf neugermanische Gruppierungen und lassen neokeltische, schamanistische oder Wicca-Gruppen außer Betracht, da sich diese im deutschen Sprachraum erst in den letzten Jahrzehnten gebildet haben, die christlichen Kirchen weniger deutlich herausfordern und auch politisch weniger umstritten sind. Welche Linien verfolgen germanische Neuheiden gegenüber dem Christentum?

Das organisierte germanische Neuheidentum kann mittlerweile auf eine gut hundertjährige Geschichte zurückblicken und ist, wie jede Subkultur, von Spaltungen, Abgrenzungen und Konkurrenzkämpfen geprägt. Konnte es vor 1933 noch die Hoffnung hegen, die deutsche Gesellschaft umzugestalten, und glaubten einige seiner Repräsentanten zeitweise, dem Nationalsozialismus ihr eigenes kulturrevolutionäres Programm unterschieben zu können, so mußten sie sich nach 1945 in den verbliebenen Nischen einrichten. Zu einem Wiedererstarken heidnischer Vorstellungen kam es in den siebziger und achtziger Jahren vor dem Hintergrund eines wachsenden Interesses an alternativen, meist vom indischen Kulturkreis geprägten Religionen, die für nachhaltiger und naturverbundener als das Christentum gehalten wurden, sowie durch die „Ásatrú“-Bewegung seit den neunziger Jahren. Deren Abgrenzung von völkischen Ideen – die durch die „unbelasteten“ Ursprünge des modernen Ásatrú in Skandinavien, England und den USA erleichtert wird – ist nach Auffassung der Ásatrúar die Voraussetzung der bisherigen „Erfolge“ sowie einer für die Zukunft erhofften Akzeptanz; bislang verfügen sämtliche Ásatrú-Vereine in Deutschland allerdings nur über wenige hundert Mitglieder, und der größte Teil der Szene entwickelt sich unabhängig von organisatorischen Strukturen. Weitaus mehr tragen Musikgruppen, Konzerte, Festivals, Literatur und Szeneprominenz zur Identitätsstiftung bei, und viele, die sich als germanische Heiden bezeichnen, stehen politisch-ideologischen Grabenkämpfen desinteressiert bis ablehnend gegenüber. Gleichwohl kann noch immer ein völkisches Lager von einer neueren postethnisch-unversalistischen bzw. „liberalen“ Richtung unterschieden werden, die jeweils anhand der Frage, in welchem Maße sie sich vom Christentum abgrenzen, untergliedert werden können. Insgesamt ergeben sich also vier verschiedene Grundrichtungen, die man als „völkische Gottgläubige“, „völkische Antichristen“, „liberale Multikulturalisten“ und „liberale Kirchenkritiker“ bezeichnen kann.
Unter den „Gottgläubigen“ fassen wir diejenigen Vertreter der – alldeutsch-nationalistische Ziele verfolgenden – völkischen Bewegung seit der Jahrhundertwende zusammen, die einem heidnischen Polytheismus trotz ihrer Anknüpfung an das Germanentum ablehnend gegenüberstanden und für einen Pantheismus oder eine nichtchristliche Version des Monotheismus eintraten. Hierzu zählen etwa der 1912 von Theodor Fritsch gegründete Reichshammerbund und dessen Geheimorganisation, der Germanenorden, die von dem Maler und Dichter Ludwig Fahrenkrog zur selben Zeit ins Leben gerufene Germanische Glaubens-Gemeinschaft (GGG), die Deutschreligiöse Gemeinschaft Otto Sigfrid Reuters oder, während der NS-Zeit, die Deutsche Glaubensbewegung des Indologen Jakob Wilhelm Hauers sowie manche Forscher und Esoteriker des SS-Ahnenerbes. Die Übergänge zu den Propagandisten einer „Germanisierung“ des Christentums wie Arthur Bonus und Max Bewer sind fließend; ab 1932 wurden diese Impulse von der Glaubensbewegung Deutsche Christen fortgesetzt.

Ein Gott oder viele Götter?

Hat sich heute die Auffassung durchgesetzt, daß eine polytheistische Götterkonzeption zu den konstitutiven Merkmalen jeglichen Heidentums gehört, so war dies beim Aufkommen der völkischen Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts noch keineswegs der Fall; weite Kreise verstanden damals unter „Heidentum“ noch, dem kirchlichen Sprachgebrauch entsprechend, der sich wenig um die Besonderheiten anderer Religionen kümmerte, sämtliche nichtchristliche Religionen. Zudem war das völkische Germanenbild anfangs mehr von Caesar und Tacitus als von der Edda geprägt und ging von der Vorstellung aus, daß die Germanen unpersönliche Naturgottheiten in Wäldern und heiligen Hainen verehrten. Unter dem Einfluß des traditionellen, auf die Aufklärung zurückgehenden Pantheismus, der sich mit der – sozialdarwinistisch vulgarisierten – Evolutionslehre, der Rassentheorie Gobineaus und Chamberlains, dem naturwissenschaftlich geprägtem Monismus Ernst Haeckels sowie der Theosophie Helena P. Blavatskys verband, gingen die Völkischen zumeist von der Göttlichkeit der Natur und dem „Gott in uns“ aus, der sich besonders im „arischen Menschen“ zeige. So sieht etwa Heinz Melzer im von Fahrenkrog für die Deutsche Glaubens-Gemeinschaft herausgegebenen „Deutschen Buch“ (1923) die „göttliche Offenbarung“ im „germanischen Rasseempfinden“, das sich „in innerer Schauung gefühlsmäßig erahnen“ lasse,1 und gegenüber religionsphilosophischen Fragen ziemlich gleichgültig sei. Dennoch wird ein Pantheismus als Lehre vom „einzigen All-Gott, der die Welt durchdringt und aus sich selbst hervorbringt“,2 als dem „Arier“ wesensgemäß erachtet, obwohl er in den alten Kulturen Indiens und Ägyptens nur den Priesterkasten bekannt gewesen sei; lediglich für die unteren, „mischrassigen“ Bevölkerungsschichten habe man eine „Vielgötter-Religion“ erdichtet. Auffällig ist die Schwammigkeit des religiösen Konzepts im Vergleich mit den erwünschten gesellschaftlichen bzw. „rassenhygienischen“ Konsequenzen; Fahrenkrog „kündet“ in seinem Aufruf „An die Germanen aller Länder dieser Erde“3 im „Zarathustra“-Ton „den Gott im Menschen“, nimmt mit großem Pathos das Recht jedes Volkes auf seinen eigenen Gott in Anspruch und beläßt doch alles im Unbestimmten. Ähnlich hat Friedrich Murawski 1940 in seiner einflußreichen Schrift über „Das Gott“ den ursprünglich-germanischen Gottesbegriff als Neutrum dargestellt, das einer numinosen Erfahrung entspreche, die heute freilich durch den Aufweis der schöpferischen Kraft der Natur bestätigt werde.
Die Ablehnung des Polytheismus hing bei manchen Völkischen zweifellos damit zusammen, daß sie sich, sei es aufgrund kultureller Prägung oder pragmatischer Rücksichtnahme auf christlich geprägte Zielgruppen, noch nicht von ihrem christlichen Herkommen gelöst hatten oder nach einer Fusion heidnischer und christlicher Glaubenselemente strebten. Ging es den völkischen Christen um ein Deutsches Christentum, das sich – von seinen jüdischen Wurzeln abgelöst – nur auf das Neue Testament als Botschaft eines als „arisch“ imaginierten Jesus stützen sollte, so interpretierte etwa der Vorgeschichtsforscher, Matriarchatstheoretiker und Mitbegründer der „Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe“ Hermann Wirth zahllose prähistorische Relikte als Zeugnisse eines vorchristlichen „Urmonotheismus“. Vergleichbar, aber weitaus verstiegener, war der ebenfalls monotheistische „Irminismus“ des Runenesoterikers und SS-Brigadeführers Karl Maria Wiligut, genannt „Weisthor“, der sich für einen Abkömmling der „Wili-Goten“ hielt, auf eine mündliche Überlieferung der „Asa-Uana-Sippe“ berief und eine Fähigkeit zur „Erberinnerung“ für sich in Anspruch nahm. „Himmlers Rasputin“ phantasierte, gestützt auf mythologische Spekulationen von Ernst Betha,4 von einer Urkreuzigung des „Balder-Krestos“ bei Goslar. Sein Anhänger Rudolf Mundt teilt hierzu mit: „Mit Goslar verbindet sich das Kernstück der Wiligutschen Überlieferung, die der Uralte immer wieder […] erzählt hat: Das Golgatha-Mysterium der christlichen Kirchen habe ein urarisches Vorereignis in Goslar gehabt, das heute noch als tiefe Schuld im Bewußtsein von vereinzelten Eingeweihten lebt. Demnach soll zur Zeit des Unterganges von Atlantis um ca. 9600 v.Chr. […] Baldur-Krestos, als Urgottheit und Voranschreiter der Irminen-Menschheit, von den Wotanisten und den von ihnen gezüchteten Jötenbastarden auf dem Georgienberge ans Kreuz geschlagen worden sein.“5
Offensichtlich war – selbst in derart abseitigen Zerrbildern6 – die Vorbildfunktion des jüdischen Mythos noch so stark, daß man glaubte, ihn kopieren und in einen „urgermanischen“ Kontext versetzen zu müssen, um der eigenen „arischen Mythologie“ die gewünschte Dignität zu verleihen. Heinrich Himmler förderte im Rahmen des Ahnenerbes sowohl Fachwissenschaftler wie den Indogermanisten Walther Wüst als auch Esoteriker wie Wiligut oder Laienforscher wie den durch seine Publikationen zu den Externsteinen bekanntgewordenen Wilhelm Teudt und hatte am Konzept des „Urmonotheismus“ reges Interesse, nicht zuletzt, da er sich von diesem eine größere Akzeptanz als von einer Erneuerung des „primitiven“ Polytheismus erhoffte; langfristig sollte ein „arteigener“ Monotheismus an die Stelle des Christentums, dem Himmler verweichlichende und volkszersetzende Wirkungen zumaß, treten. Entgegen einem weitverbreiteten Vorurteil ging es Himmler also nicht um eine Erneuerung germanischer Religiosität, sondern um die Schaffung einer neuen Religion auf indoeuropäischer Grundlage.
Eine merkwürdige Stellung zwischen Mono- und Polytheismus nahm der Wiener Schriftsteller Guido von List (1848–1919) ein, der zu den wichtigsten Vordenkern der völkischen Bewegung zählte; sie findet sich auch in seiner Haltung zum Christentum wider, das er vordergründig bekämpfte, obwohl er viele heidnische Zeugnisse in christlichen Überlieferungen, Bräuchen und Kultstätten wiedererkannte. List ging zwar von der Einheit der „ario-germanischen“ Gotteslehre aus, die er in seiner Kunstsprache als „Wihinei“ bezeichnete, glaubte aber, daß die Auffassung von der All-Einheit Gottes dem gemeinen Volk nicht faßlich gewesen sei; daher habe dem esoterischen „Armanismus“7 der Priester-Gelehrten, Seher und Dichter ein exoterischer „Wuotanismus“ gegenübergestanden, der die verschiedenen Aspekte des Göttlichen in personifizierte Gestalten aufteilte. Während der Christianisierung seien die Armanen teils ausgewandert, teils haben sie ihr Wissen in die „Hohe heimliche Acht“ genommen, d.h. hinter anderen, schließlich von immer weniger Menschen verstandenen Symbolen verborgen bzw. „verkalt“.
Der „volkspädagogischen“ Zergliederung der Gottheit durch die Armanen entspricht jedoch auch ihre stufenförmige Selbst-Entäußerung, die List in Kategorien beschreibt, die teils dem Hinduismus, teils der – sehr frei interpretierten – nordischen Mythologie entstammen: Als der „ungenannte, ungeoffenbarte Gott durch seinen Willen, sich zu offenbaren, einatmete und sich verdichtete, damit den Stoff ins Dasein rief, trat er aus seiner Verborgenheit hervor, offenbarte sich, und diesen Moment nennt man den ersten Logos. Das war der Beginn von Zeit (nacheinander) und Raum (nebeneinander), welche gleichfalls als Erscheinungsformen zeitlich, d.h. nicht ewig sind, denn beide haben Anfang und Ende; es war die erste Wirkung der ursachenlosen Ursache.“ Dieser Urstoff, der sich als „beideinig-zweispältige Zwei-Einigkeit“ zum gesamten All entwickelt, ist als „Ginnungagap“ auch der „von ihm erschaffene Raum“; „als Wuotan, Donar, Loki (war, ist, wird) ist er die von ihm erschaffene Zeit; als Allvater, Wuotan, Donar, Loki und Gerda ist er die fünf Elemente und zwar ‚Aether‘, Feuer, Luft, Wasser und Erde; als Urda, Werdandi und Skuld ist er als die ursachenlose Ursache, die Ursache aller wirkungerzeugenden Ursachen, aller von ihm und durch ihn geschaffenen Geschehnisse; als Wuotan und Frigga ist er das vereinigte mannweibliche Wesen, das sich in Feuer – Wasser, Wärme – Kälte, Licht – Finsternis, Tag – Nacht, Geist – Stoff, Seele – Leib usw. trennt, um sich zu vereinigen, und vereinigt, um sich zu trennen.“8
Lists mystisch-romantische Ideen wurden seit 1908 von der Guido-von-List-Gesellschaft, zu deren Gründern der Wiener Bürgermeister Karl Lueger gehörte, propagiert. Als Kreis von „Eingeweihten“ fungierte seit 1911 der „Hohe Armanen-Orden“, der nach außen nicht in Erscheinung trat und in neuerer Zeit von Adolf Schleipfer wiederbelebt wurde, der 1969 den Vorsitz der Gesellschaft übernahm und 1976 den hierarchisch aufgebauten, logenartigen Armanen-Orden gründete, dessen „Großmeister“ er bis heute ist. Trotz – oder wegen – seiner relativen Abschottung und seines Selbstverständnis als Mysterienorden gehörte der AO lange Zeit zu den einflußreichsten heidnischen Vereinigungen in Deutschland.

Die Artgemeinschaft

Die 1951 von Wilhelm Kusserow gegründete Artgemeinschaft – seit 1989 mit dem Namenszusatz Germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung versehen – vertritt unter den völkischen Organisationen nach 1945 die vielleicht schärfste Stoßrichtung gegen das Christentum. Auch sie versteht sich als Lebensbund, dem nur Menschen von (augenscheinlich) überwiegend germanischer Abstammung beitreten können, hat aber die Rechtsform eines eingetragenen Vereins. Die esoterische Komponente ist hier weniger ausgeprägt; ähnlich der GGG Fahrenkrogs, deren Rechtsnachfolge sie erfolglos beanspruchte,9 steht ein „Sittengesetz unserer Art“ im Mittelpunkt, das Mut, Wehrhaftigkeit und Lebensbejahung, „gleichgeartete Gattenwahl“, „Treue und Vertrauen […] gegenüber Verwandten, Freunden und Gefährten, Wachsamkeit und Vorsicht gegenüber Fremden, Härte und Haß gegen Feinde“ verlangt.10
Kusserow war zuvor bereits Leiter der 1928 gegründeten Nordischen Glaubens-Gemeinschaft; unter seiner Führung konnte 1965 der Anschluß der Nordisch-Religiösen Gemeinschaft (gegründet 1954), später auch derjenige der bereits seit 1924 bestehenden Nordungen vollzogen werden. 1980 wurde Kusserow von jüngeren Mitgliedern abgesetzt und gründete mit verbliebenen Anhängern den Treuekreis Artglaube Irminsul; sein Nachfolger wurde bis 1989 Guido Lauenstein. Sodann leitete der Hamburger Rechtsanwalt Jürgen Rieger, ein „Multifunktionär“ des nationalen Lagers, zwanzig Jahre lang bis zu seinem Tod im Jahre 2009 die Organisation, die während seiner Führung – nicht zuletzt aufgrund seiner politischen Tätigkeit für die NPD, deren stellvertretender Vorsitzender er zeitweise war – eine gewisse Medienpräsenz und einen beachtlichen Einfluß im Übergangsfeld von Politik und völkisch-religiöser Subkultur erlangte. In der liberalen Ásatrú -Szene ist man, wie auch gegenüber dem Armanen-Orden, auf strikte Abgrenzung zur AG bedacht und mußte zähneknirschend hinnehmen, daß Rieger sich die Domain www.asatru.eu sichern konnte.
Auch die Artgemeinschaft vertritt die monistische Idee einer Einheit von Gott und der Natur, in deren Gesetzen er sich offenbare (vgl. ihr „Artbekenntnis“), verbindet diesen Deismus aber nicht nur, wie viele Völkisch-Freireligiöse, mit einem Antiklerikalismus, sondern mit einer fundamentalen Kritik am Christentum insgesamt. So stellt Rieger in seiner Schrift „Von der christlichen Moral zu einer biologisch begründeten Ethik“ zunächst die historische Existenz Jesu überhaupt in Frage und erklärt das Christentum zu einer Erfindung des jüdischen Patrioten und antirömischen Dissidenten Paulus, um durch die Propagierung eines „Judentums für die Völker“ mit seiner internationalistischen Ethik der Feindesliebe die Moral der Besatzungsmacht zu untergraben. Die altrömische Religion, die dem neuen Geist aus Judäa, der auf breiteste Bevölkerungsschichten so anziehend wirkte, nichts entgegenzusetzen hatte und ihn ignorierte, solange er nicht explizit politisch auftrat, ist für Rieger, wie jedes Heidentum, mit dem Christentum unvereinbar. Er stellt daher „Endzeiterwartung“ und „Willen zur Dauer“, „Weltfeindschaft“ und „Diesseitsheiligung“, „Egozentrik“ und „Familien-, Volks- und Rassengebundenheit“, „Feindesliebe“ und „Feindesbekämpfung“, „Gleichheitswahn“ und „Rangordnung“, „Staatsverneinung“ und „Staatsbejahung“, das Konzept der „Erbsünde“ und eine „realistische Einschätzung der menschlichen Natur“, „Ignoranz“ und „Erkenntnisstreben“, „Wundergläubigkeit“ und „Ordnungssinn“ sowie „Naturfeindschaft“ und die „Achtung der Natur“ kategorisch gegenüber und kann sich in der Gesamttendenz immerhin auf Nietzsche berufen: „Paulus, der Fleisch – der Genie gewordene – Tschandala-Haß gegen Rom, gegen ‚die Welt‘, der Jude, der ewige Jude par excellence […]. Was er erriet, das war, wie man mit Hilfe der kleinen sektiererischen Christen-Bewegung abseits des Judentums einen ‚Weltbrand‘ entzünden könne, wie man mit dem Symbol ‚Gott am Kreuze‘ alles Untenliegende, alles Heimlich-Aufrührerische, die ganze Erbschaft anarchistischer Umtriebe im Reich, zu einer ungeheuren Macht aufsummieren könne. […] Er begriff, daß er den Unsterblichkeits-Glauben nötig hatte, um die ‚Welt‘ zu entwerten, daß der Begriff ‚Hölle‘ über Rom noch Herr wird – daß man mit dem ‚Jenseits‘ das Leben tötet.“11 Niemals habe es ein „größeres Ereignis als diesen Kampf, diese Fragestellung, dieses todfeindlichen Widerspruch“ gegeben: „Rom gegen Judäa.“12

Ásatrú – Asentreue

Sicherlich wird Nietzsches Kampfansage an das Christentum nicht nur von Mitgliedern der AG geteilt, sondern grundiert eine populäre Haltung heidnischer Kreise; dennoch würden die meisten sie in ihrer Aktualisierung und Politisierung durch Rieger entrüstet zurückweisen, was natürlich mit der Furcht vor Denunziation und Stigmatisierung, aber auch mit einer tatsächlichen Ablehnung politisch rechter Positionen zu tun hat.
Die Situation ist vielschichtig und verfahren: Einerseits haben liberale Ásatrúar recht, wenn sie große inhaltliche Differenzen zwischen ihrem polytheistischen Asenglauben und dem völkischen Monismus erkennen, und es ist auch legitim, eine Vermengung von Religion und Parteipolitik abzulehnen; andererseits darf aber nicht übersehen werden, daß Heidentum, worauf nicht nur Rieger hingewiesen hat, wesentlich auch Ahnenreligion und Ahnenkult ist. Zwar muß Abstammung nicht immer biologisch verstanden werden, aber die Ausnahme z.B. einer Adoption stellt die Grundregel nicht in Frage, sondern versucht, ihr vielmehr möglichst nahe zu kommen. Es läßt sich nicht bestreiten, daß heidnische Religiosität auf einer engen Bindung des Menschen an Heimat und Vorfahren sowie auf seiner Einbindung in die ihn umgebende Natur beruht. Da Sippenverbände, Völker und die von ihnen eingenommenen und sie prägenden Naturräume aber überall verschieden sind, ist das Heidentum keine universalistische Religion. Vielen Aktivitäten der liberalen Ásatrú-Szene wohnt daher eine gewisse Unernsthaftigkeit inne, die zu dem bündischen Prinzip von Artgemeinschaft oder Armanen-Orden in deutlichem Kontrast steht. Allerdings dürfen auch die postmodernen Heiden – ebenso wie die rechten – nicht über einen Kamm geschoren werden; insbesondere ist hervorzuheben, daß sich einige unter ihnen auf wissenschaftlichem Niveau um die Erforschung des germanischen Heidentums bemühen: In den angelsächsischen Ländern gibt es eine Reihe von Nordisten, die zugleich als bekennende Heiden auftreten. In Deutschland wäre dies derzeit noch fast undenkbar; selbst eine Publikation im dezidiert nichtvölkischen „Heidnischen Jahrbuch“13 wird von akademischen Autoren aus Angst um ihre Reputation abgelehnt.
Die strikte Abgrenzung der liberalen Ásatrúar von den völkischen Traditionalisten hat nicht nur politische Gründe, sondern beruht auf einem gänzlich anderen, postmodernen Lebensgefühl. Während die Völkischen der urbanen Gesellschaft ablehnend gegenüberstehen, nach Möglichkeit aufs Land ziehen, häufig viele Kinder haben, Landwirtschaft und traditionelles Handwerk wiederentdecken, bejahen die universalistischen Ásatrú-Anhänger Parteienstaat, Medien- und Massengesellschaft und messen das germanische Heidentum, etwas plakativ gesprochen, an seinem Verhältnis zu Multikulturalismus, Homosexualität und „Gender-Gerechtigkeit“. Gründliches Quellenstudium wird zwar gegen völkische Spekulation ins Feld geführt, aber den letztendlichen Maßstab bilden zeitgenössische Auffassungen. Die bei den Völkischen monierte Politisierung wird unter anderem Vorzeichen weitergeführt, was jedoch – da eine „politisch-korrekte“ Gesinnung als selbstverständlich gilt – gar nicht mehr bemerkt wird, wie die Satzung14 des 2000 – zunächst als deutsche Sektion des amerikanischen Ásatrú-Verbandes The Troth – gegründeten Eldaring verdeutlicht: Die kurze, feierliche „Präambel“ beginnt mit den schönen Worten: „Es ist wieder an der Zeit, das Volk zu versammeln“, und muß sich doch sogleich in die Niederungen des politischen Einheitsbreis begeben: „Diese Gemeinschaft, ihre Publikationen oder Aktivitäten als Plattform für politische oder rassistische Aktivitäten zu verwenden, wird in keiner Form geduldet.“ Daß ein Volk, zumal wenn es sich „versammelt“, eine politische Gemeinschaft ist, wird offenbar nicht reflektiert. Ebenso wird eine Antwort darauf vermieden, wer denn zu diesem Volk gehört oder gehören soll; sie findet sich indirekt jedoch in § 5 der Satzung: „Mitglied des Vereins kann jede natürliche Person werden, die die in § 2 genannten Ziele sowie die Präambel anerkennt und unterstützt und das 16. Lebensjahr vollendet hat.“ Unter diesen Zielen wird zwar auch die „Wiederbelebung“ und „Ausübung“ der germanischen Religion genannt, weitaus mehr ist aber von Bildung, Forschung, Publikationen, internationaler Zusammenarbeit die Rede, und das Themenfeld „Toleranz“, „Rechtsextremismus“ usw. wird gleich dreimal angesprochen. Insgesamt stellt sich der Eldaring eher als ein Verein von Menschen dar, die ein gemeinsames Interesse pflegen, als eine religiöse Gemeinschaft – dies entspricht auch seinem Selbstverständnis als „Serviceplattform“. Es ist nicht zu leugnen, daß im Umfeld des Eldaring beachtenswerte publizistische Aktivitäten entfaltet wurden, nur beschränkt sich die religiöse Praxis im Wesentlichen auf ein recht formlos durchgeführtes „Blót“ (Opferfest) bei der Jahreshauptversammlung sowie auf gelegentliche regionale Treffen einzelner Mitglieder. Die Hauptaktivität des mit rund 200 Mitgliedern stärksten Ásatrú-Vereins findet im Internet statt – mehr als 5.800 Nutzer sind derzeit in seinem Online-Forum registriert.
Eine ähnliche Ausrichtung verfolgt auch der Verein für Germanisches Heidentum (VfGH), der 1995 zunächst unter dem Namen Odinic Rite Deutschland gegründet wurde, sich mittlerweile aber vollständig – nicht zuletzt aus politischen Gründen – vom britischen Odinic Rite getrennt hat. Auch der VfGH betont den undogmatischen Charakter der germanischen Religion und vertritt ein „Leitbild freies Heidentum“, unter dem die Religion unserer Vorfahren, angepaßt an die Verhältnisse heutiger Zeit, erneuert werden soll. Während der für Lehrfragen zuständige „Bewahrer“ des Eldaring, der Skandinavist Kurt Oertel, sich den Quellen primär philologisch nähert, ist der langjährige „Esago“ (der Hauptverantwortliche für das Ritualwesen) des VfGH, der österreichische Journalist Fritz Steinbock, eher philosophisch orientiert, was sich jeweils in der Programmatik der Vereine niederschlägt. Besonders kennzeichnend für den VfGH ist allerdings die Betonung des Rituellen: Steinbock betrachtet Heidentum geradezu als Ritualreligion;15 heidnische Spiritualität besteht für ihn in erster Linie im Vollzug einer gemeinschaftlichen Kultpraxis und nicht, wie im Christentum, in der gläubigen Übernahme bestimmter Dogmen, oder, okkultistischen Traditionen entsprechend, in magischen Zeremonien, die eine spirituelle Selbstermächtigung oder -erlösung des Individuums zum Ziel haben. In der Tat ist das religiöse Praxisangebot des mit ca. 60 bis 70 Mitgliedern deutlich kleineren Vereins ausgeprägter als im Eldaring, der eher auf „heidnische“ Freizeitgestaltung abzielt; so bietet der VfGH auch für Nichtmitglieder „religiöse Dienstleistungen“ bei Kindsweihe, Trauung oder Bestattung an, und Steinbock hat in seinem Buch „Das Heilige Fest“ Handreichungen zur Durchführung heidnischer Rituale „für den Hausgebrauch“ vorgelegt. Die Praxis bleibt aber auch hier deutlich hinter dem Anspruch zurück; letztlich beschränkt sich der Kultus wie im Eldaring darauf, bei Zusammenkünften ein Methorn kreisen zu lassen, dabei auf die Götter oder die Ahnen zu trinken oder einige selbstverfaßte Texte vom Blatt abzulesen. Generell herrscht in der Ásatrú-Szene rituelles Laissez-faire; trotz immer wieder aufflammender Diskussionen über die Einführung verbindlicher Regeln ist man, da es sowohl an Autoritäten als auch an akzeptierten Traditionen mangelt, nicht in der Lage, sich etwa auf gemeinsame Ritualkleidung oder auch nur die gemeinsame Rezitation beispielsweise von Edda-Liedern zu einigen. Da man das Prinzip eines dogmenfreien, „anarchischen“ Individualismus verinnerlicht hat und zudem keinen Interessenten verprellen will, herrschen postmoderne Beliebigkeit und ein „anything goes“, das auf Neuinteressenten, die oft aus musikalischen Subkulturen stammen, zunächst sympathisch, bald aber langweilig wirkt, so daß die Fluktuation hoch ist und es für die meisten bei virtueller Betätigung bleibt. Auch bei der Wahl der Lokalitäten ist man, der Rede von „Kraftorten“ zum Trotz, meist nicht wählerisch und führt das Ritual auf einer beliebigen Grünfläche durch, wenn selbst ein Gang in den nächstgelegenen Wald zu weit erscheint.
Das Angebot „religiöser Dienstleistungen“ ähnelt der Selbstbeschreibung des Eldaring als „Serviceplattform“, jedoch versteht sich der VfGH in einem stärkeren Maße als Religionsgemeinschaft, was etwa in der Institution der „Schwurmannen“ zum Ausdruck kommt, die sich im Kreise der Mitglieder durch einen Eid in besonderer Weise an die Götter binden. Da solche Zeremonien auch auf Personen anziehend wirkt, die gerne ihr Bekenntnis zur Schau stellen und sich ein gewisses „Prestige“ erhoffen, und da ein Verein, in den man nach Belieben ein- und austreten kann, für solche Bindungsrituale einen wenig passenden Rahmen abgibt, bleibt auch dieser Versuch, das Bewußtsein persönlicher Verpflichtung zu erhöhen, oft folgenlos. Generell besteht das Problem, wie man eine Kultur, die sich wesentlich über ihre Tradition definierte, wiederbeleben kann, wenn diese Tradition erloschen ist. Es bleibt immer bei Neuschöpfungen, die von den einen als „nicht authentisch“ kritisiert und von anderen, sofern dennoch Authentizität behauptet wird, als autoritär oder dogmatisch abgelehnt wird.

Ein deutscher Heidenpapst

Ganz besonders zeigt sich dieses Dilemma bei der seit zehn Jahren immer wieder aufflackernden Kontroverse um den „deutschen Allsherjargoden“ Geza von Neményi, der für sich in Anspruch nimmt, alle traditionellen Heiden in Deutschland zu vertreten. Neményi begann seine „Karriere“ in den achtziger Jahren in der Berliner Heidnischen Gemeinschaft sowie bei den Grünen, die er jedoch aufgrund seiner Kontakte zu den Armanen verlassen mußte. 1991 übernahm er von Ludwig Dessel, dem Nachfolger Fahrenkrogs als Vorsitzendem der GGG, das Archiv des seit 1964 im Vereinsregister gelöschten Vereins, um ihn zu reaktivieren. Neményi steht dem „Godenrat“ der heutigen GGG nach einer Wahl auf Lebenszeit vor und betrachtet sich, unter Übernahme des Titels „Allsherjargodi“, den der jeweilige Leiter der seit 1972 auf Island als Religionsgemeinschaft anerkannten Ásatrúarfelagid führt, als Repräsentanten des deutschen Altheidentums nach innen und außen. Seine Lehrautorität leitet er aus einer „Godenprüfung“ ab, und er führt auch selbst solche Prüfungen unter seinen Anhängern durch; freilich wird er, außerhalb seiner Gruppierung, von kaum einem germanischen Heiden anerkannt,16 was er mit dem Argument zu entkräften sucht, daß er diese – als bloße Neuheiden – ja gar nicht vertreten wolle, schließlich beschränke sich seine Autorität nur auf das Altheidentum. Zwar sind seine Kenntnisse altnordischer Texte im Vergleich mit dem durchschnittlichen „Hobby-Heiden“ beachtlich, aber seine in mehreren Büchern17 vorgelegten Interpretationen sind aus der Sicht nicht nur seiner Kritiker, sondern auch von Fachwissenschaftlern, ebenso „modern“ und spekulativ wie die anderer populärer Sachbuchautoren. Führt er gegenüber anderen Heiden seine Sachkompetenz ins Feld, so begegnet er akademischen Kritikern damit, daß er gar kein Wissenschaftler sei und einen intuitiven Bezug zu den Göttern habe, der es ihm erlaube, die fragmentarischen Zeugnisse so zu deuten, daß sich das Gesamtbild eines traditionellen Heidentums ergebe.
Zweifellos ist dies legitim und sogar notwendig, nur kann daraus keine Anknüpfung an eine konkrete Tradition abgeleitet werden, und sein „Altheidentum“ bleibt eine moderne, synthetisierende Rekonstruktion. Auch der so vehement beanspruchte Titel des Allsherjargoden (vor dem man als Godenanwärter schriftliche und mündliche Prüfungen abzulegen hätte!), beruht auf keiner alten Überlieferung, sondern ist eine Erfindung moderner isländischer Neuheiden. Zudem ist die Rolle und sogar die Existenz eines altgermanischen Priestertums überhaupt umstritten; zwar gab es im wikingerzeitlichen Island Goden, denen kultische Aufgaben oblagen, jedoch handelte es sich bei ihnen nicht um hauptberufliches, in besonderer Weise initiiertes Kultpersonal, sondern um Personen, die nebenbei auch religiöse Riten durchführten, wie das nach Tacitus jeder germanische Hausvater getan hat. Andererseits deuten manche Quellen auch die Existenz „kultischer Geheimbünde“18 oder priesterlicher Autoritäten bei den Südgermanen an, so daß die Frage noch nicht abschließend beantwortet werden kann.
Eine vergleichbare Doppelstrategie von behaupteter Tradition und tatsächlicher Innovation verfolgt Neményi auch in bezug auf die GGG: Einerseits behauptet er, die älteste heidnische Gemeinschaft in Deutschland zu führen, und andererseits gibt er zu, daß die GGG als Verein aufgehört hatte zu bestehen und von ihm neugegründet wurde; zudem distanziert er sich von deren völkischem Gedankengut, das ihm gleichwohl, ebenso wie esoterische Traditionsmischung, immer wieder vorgeworfen wird. Daß dies nicht völlig abwegig ist, zeigen etwa seine Äußerungen über Jesus, der „ursprünglich Esus, Asus, der Hauptgott der celtischen Galater“ von dem „römischen Legionär Longinus in die Seite (Herzgegend) gestochen wird. Durch Zerschneiden des hier lokalisierten Hara-Chakras begingen auch die Japaner Selbstmord (‚Harakiri’). Da hinter Jesus eigentlich Asus, der ‚Ase’ (nämlich Óðinn), steht, finden wir noch weitere verblüffende Parallelen der Mythen. Auch das ‚Holz’ oder der ‚Baum’ beziehungsweise ‚Pfahl’ (später zum Sonnenkreuz umgedeutet) entspricht dem germanischen Weltbaum, statt der neun Nächte hängt Jesus neun Stunden.“19
Gegen vergleichende Mythologie ist, unabhängig von der Plausibilität der Bezüge im Einzelfall, nichts einzuwenden; nur sollte man seine Interpretation entweder als solche kenntlich machen oder sich zur Tradition völkisch-esoterischer Religionsneuschöpfung bekennen. Letztlich handelt es sich bei der religiösen Welterfahrung immer um einen imaginativen Prozeß, veranlaßt von den Phänomenen des In-der-Welt-Seins.
Was Neményis Haltung zum Christentum betrifft, so gehört er, trotz seiner Ausführungen über „Esus“ und „Asus“, sicher zu den dezidiertesten Kirchenkritikern im heidnischen Lager; er betrachtet das germanische Heidentum als angestammte Religion in Deutschland und die Christen als ungebetene Gäste. Die Nähe seines „obersten Priestertums“ aller „Altheiden“ zum Papsttum steht natürlich auf einem anderen Blatt.
Insgesamt tritt die Gegnerschaft zum Christentum bei den modernen Neuheiden, zu denen auch Neményi, von seinen völkischen Anleihen abgesehen, zu zählen ist, sonst meist nicht mehr als kämpferische Bestrebung in Erscheinung, sondern zeigt sich als populäre Kritik an der (katholischen) Kirche, die dieser eine scheinheilige Sexualmoral, die Beibehaltung des Zölibats, eine allgemein reaktionäre Grundhaltung und ihre auf gewaltsame Missionierung, Kreuzzüge, Hexenverbrennungen und Inquisition reduzierte Vergangenheit vorhält (die evangelischen Konfessionen, die in nicht geringerem Maße für die Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit verantwortlich sind, werden kaum noch wahrgenommen). Dieser, überall massenmedial vermittelten Stimmung steht das von den meisten Vereinsvorständen gepflegte pluralistische und laizistische Selbstverständnis gegenüber, nach dem man die religiöse Toleranz, von der man heute – wenigstens de jure – profitiere, auch den Christen entgegenbringen müsse; zudem weisen historisch gebildete Szene-Vordenker auf die wechselseitigen Einflüsse und oft friedlichen heidnisch-christlichen Durchmischungen hin, deren Kenntnis ein allzu simples Feindbild – nach dem T-Shirt-Motto „Odin statt Jesus“ – als oberflächliche und ideologisierte Verzerrung entlarvt.20

Neuheidnische ­Jenseitsvorstellungen

Fragt man einen bekennenden Heiden, wie er sich das Leben nach dem Tod vorstellt, wird er vielleicht sagen, daß „die Germanen“ davon ausgingen, die Verstorbenen würden, je nach ihren Taten und Verdiensten, in das ihnen jeweils gemäße Götterheim, etwa Walhall oder Hel, eingehen. Daß er selbst daran glaubt, wird er meist entweder verneinen oder darauf antworten, daß es sich hier um Archetypen handle, die man nicht wörtlich, sondern symbolisch zu verstehen habe.
Vielleicht ist bereits die Frage falsch gestellt, wenn sie eine verbindliche Lehrmeinung als Antwort erwartet. Selbst im Christentum hat sich die Auffassung vom Weiterleben der Seelen nach ihrer Trennung vom verstorbenen Körper erst unter platonischem Einfluß gegenüber dem älteren Bilde von der „Auferstehung des Fleisches“ durchgesetzt, die durchaus mit dem altertümlichen Glauben der Germanen an Wiedergänger, die ihre Gräber verlassen und die Lebenden be- oder heimsuchen, korrespondiert. Schon der Mensch der Bronzezeit hat sich das Leben des Leichnams in seinem Grabhügel oder gar in seinem früheren Wohnhause sehr leibhaftig vorgestellt, da sonst die reichen Grabbeigaben keinen Sinn hätten. Manche Gebräuche wie die Fesselung der Füße, die sich in einigen Gegenden findet und wohl eine Rückkehr des Toten verhindern sollte, lassen auf die Furcht der Lebenden schließen; jedoch scheint sich eine solche nur in besonderen Fällen gezeigt zu haben, da man ihnen sonst keine Schwerter mitgegeben und keine Öffnungen an den Grabanlagen angebracht hätte. In germanischer Zeit dienten Gräber als Opfer- und Thingstätte, und man glaubte an eine förderliche Wirkung der verstorbenen Ahnen, die den Lebenden in Gestalt von Zwergen, Kobolden oder weiblichen Schutzgeistern (Fylgien) erschienen.
Angesichts der vielschichtigen, fragmentarischen Überlieferungssituation kann man kaum eine bestimmte Jenseitsvorstellung als allgemeine Überzeugung ansehen, und möglicherweise handelt es sich gerade bei dem bekannten Mythos von den bei Odin in Walhall lebenden und auf die letzte Schlacht wartenden Einherjern um eine späte dichterische Schöpfung, die zudem nur im skandinavischen Raum bekannt war. Christliche Einflüsse braucht man hierbei nicht zu vermuten, gewiß finden sie sich jedoch in der Umdeutung der germanischen Unterwelt Hel zur christlichen Hölle als Ort der Bestrafung. Letzterer Gedanke war der germanischen Welt, die den Begriff der (Erb-)Sünde noch nicht kannte, fremd.
Die Jenseitsvorstellungen heutiger germanischer Heiden sind, zumal auch die Götter und ihre jeweiligen Bezirke als Teile der Welt gedacht werden, von der Idee einer „irdischen Unsterblichkeit“ geprägt, für die es drei Grundmodelle gibt: ein monistisches, eines, das man als „daimonistisch“ bezeichnen könnte, und einen „Reinkarnationismus“. Ersteres spricht z. B. aus den Worten von Kurt Oertel: „Der vielleicht anschaulichste Vergleich […] mag in dem Bilde des Regentropfens liegen, der nach seiner langen Reise aus den Wolken auf die Oberfläche des Meeres trifft und darin aufgeht. Zwar hat der danach keine individuelle Existenz mehr, aber dennoch geht bei seiner Vereinigung mit dem Meer kein einziges seiner Moleküle und Atome verloren, sondern sie alle gehen auf in der unendlichen Gesamtheit des Ozeans […].“21 Oertel hält dies für die Quintessenz aller Religionen – besonders denkt man an das Nirwana der frühen Buddhisten oder die christliche unio mystica –, aber selbst ein Atheist könnte diesen Satz unterschreiben. Letztlich handelt es sich um eine euphemistische Metapher für den ersten Hauptsatz der Thermodynamik, den Energieerhaltungssatz. Nachdem Oertel in seinem kenntnisreichen Aufsatz über germanische Jenseitsvorstellungen viel Scharfsinn damit verbracht hat, den Seelenwanderungsglauben als ungermanisch darzustellen und auch sonst viel vermeintliches Wissen als Vorurteil zu entlarven, bleibt am Ende nur der Materialismus. Von dem für Glaubensfragen zuständigen Repräsentanten einer Gemeinschaft, die sich als religiös versteht, erwartet man aber doch etwas mehr; freilich folgt diese Bescheidenheit aus dem allzu dürren, übervorsichtigen Positivismus des Eldaring im Umgang mit den überlieferten Quellen. Nur auf Philologie und Archäologie kann man jedoch keine Religion bauen.
Dabei ist durchaus noch mehr aus den Quellen ableitbar, wie das zweite Modell belegt, das modernen Neuheiden aber fremdbleiben muß, wenn sie von ihren „Ahnen“ reden, aber schon ihren Großvater nicht mehr kennen (wollen) und kinderlos bleiben: Nach diesem „verkörpern“ sich die Ahnen in den Enkeln – nicht jedoch im Sinne einer Seelenwanderung, sondern so, daß die gleiche charakterliche Art, etwa gleiche Tüchtigkeit oder auch ein gleiches Lebensschicksal „übertragen“ wird. Nach griechischer und römischer Vorstellung ging der Daimon oder Genius eines Geschlechtes von einem Träger auf den anderen über; im nordischen Kontext entspricht diesem „Sippengeist“ die Hamingja oder Fylgja, die auch als Schutzgeist wirkt. Rieger, der diese Form der Wiedergeburt vertritt und in heutigen genetischen Begriffen interpretiert, geht sogar so weit, Götter überhaupt im Sinne des Euhemerismus nur als – aufgrund herausragender Taten – vergöttlichte Ahnen-Heroen zu verstehen.22
Drittens gibt es germanische Neuheiden, die einem Wiedergeburtsglauben anhängen, der mittlerweile auch – manche würden sagen: wieder – im Abendland heimisch geworden ist, meist aber mit dem Buddhismus assoziiert wird. In der Regel berufen sie sich auf antike Autoren, die den keltischen Druiden diese Lehre zugeschrieben haben, verbinden damit die Hinweise auf Wiedergeburt in nordischen Texten und leiten daraus einen gemeinindogermanischen Glauben ab. Es ist zwar überhaupt nicht ausgeschlossen, daß die antiken Kelten von einer Neuverkörperung der Seelen Verstorbener ausgingen und den Tod daher tatsächlich wenig fürchteten, aber die verschiedenen Aussagen hierzu gehen, wie man mittlerweile weiß, sämtlich auf Poseidonios zurück, der möglicherweise – orientalisch beeinflußtes – pythagoräisches Gedankengut auf die Druiden projizierte. Auch die in Frage kommenden altnordischen Zeugnisse werden von der Fachwelt nicht mehr als Belege für den Wiedergeburtsgedanken angesehen: Zwar wird beispielsweise von dem norwegischen König Olaf Haraldsson vermutet, daß er eine Wiedergeburt des Königs Olaf Geirstadálfr sei, und von Helgi Hundingsbana und seiner Gemahlin Sigrun wird in den Helgi-Liedern berichtet, daß sie sich mehrmals verkörpert hätten. Schließlich ist auch an Baldur und seinen Widerpart Hödur zu denken, die nach der Zerstörung der alten Welt aus dem Totenreich auf die erneuerte Erde zurückkehren werden. Auffällig ist allerdings, daß in diesen Quellen entweder nur von Göttern oder mythischen Helden die Rede ist (was einem generellen Wiedergeburtsglauben jedoch nicht widersprechen muß) oder daß diese Behauptung, wenn sie auf Menschen bezogen wird, auf etwas anderes verweist, nämlich nur auf das Wiederaufscheinen der besonderen Wesensart eines Vorfahren.23
Der Schluß, ein Seelenwanderungsglauben sei daraus nicht abzuleiten, mag berechtigt sein, jedoch ist Wiedergeburt gerade auch im Buddhismus nicht gleichbedeutend mit Seelenwanderung, im Gegenteil: Da dieser ein individuelles Selbst als Täuschung24 ansieht, kann ein solches zwischen Tod und Wiedergeburt auch nicht auf einen anderen Körper übertragen werden, sondern es manifestieren sich nach buddhistischer Doktrin lediglich Denk- und Handlungsimpulse aus dem früheren Leben, die als Ursachen in ihren Wirkungen – analog zur physischen Welt – fortbestehen. Wenn es sich aber um besonders auffällige Impulse handelt, kann man durchaus von der Übertragung eines bestimmten (aber nicht „essenzialistisch verhärteten“) Charakters sprechen; und da solche Auffälligkeit vornehmlich bei wirkmächtigen Königen und Fürsten zu beobachten ist, läßt sich daraus das Fehlen von Wiedergeburtserzählungen bei „kleinen Leuten“ (die ohnehin in der Heldenepik kaum eine Rolle spielen) ableiten.
In die germanisch-neuheidnische Tradition wurde der so vielschichtige wie mißverständliche Wiedergeburtsgedanke vor allem von Guido von List eingebracht, der durch Vermittlung der Theosophie von indischem Gedankengut beeinflußt war, allerdings – eher „hinduistisch“ und unbuddhistisch – von einer „Wanderung“ individueller Seelen ausging. Er versteht diese als ewige Funken göttlichen Lichtes, die seit Anbeginn existieren, nach dem Tode vorläufig in dasjenige Götterreich einkehren, das ihrem Wesen entspricht, um sich dann erneut „einzukörpern“, bis sie nach unzähligen Inkarnationen ihre „Gottinnerlichkeit“ wiederfinden und in den jenseits aller Göttergestalten liegenden „Urgrund“ des Seins eingehen. Natürlich lassen sich Theorien solcher Art nicht philologisch exakt aus den Quellen herleiten, und zweifellos handelt es sich bei ihnen um westlich-moderne, nicht nur rezeptive, sondern auch produktive Traditionsmischungen – andererseits betrachtet der religiöse Mensch seine überlieferten heiligen Schriften nicht wie ein Philologe; das ist im Heidentum nicht anders als im Christentum.
Nach einer Verständigung der Heiden untereinander über religiöse Fragen sieht es derzeit noch nicht aus; allerdings scheint es, daß die alte Frontlinie zum Christentum längst bröckelt. Die Schlachten von gestern, um Donarseiche und Irminsul, können nicht noch einmal geschlagen werden, und die neue Herausforderung durch den Islam läßt alte Gegner, bei aller Verschiedenheit im Detail, vielleicht etwas zusammenrücken.

Anmerkungen

1  Heinz Melzer: Religion und Rasse, in: Das Deutsche Buch, dritte vermehrte und verbesserte Auflage hrsg. von der Germanischen Glaubens-Gemeinschaft, Leipzig 1923 (Nachdruck Verlag Uwe Berg, Toppenstedt 2007), S. 58.
2  Ebd., S. 59.
3  Ludwig Fahrenkrog: An die Germanen aller Länder dieser Erde, in: Das Deutsche Buch, S. 12.
4  Ernst Betha: Die Erde und unsere Ahnen, Berlin 1913.
5  Zit. nach: Hans-Jürgen Lange: Weisthor. Karl-Maria Wiligut – Himmlers Rasputin und seine Erben, Engerda 1998, S. 291.
6  Siehe z. B. auch „Edda, Atlantis und Bibel“ von Hermann Wieland und „Baldur und Bibel“ von Friedrich Döllinger.
7  List interpretiert die drei germanischen Hauptstämme des Tacitus – Ingaevonen, Istaevonen und Herminonen – als gesellschaftliche Klassen, gleichsam als Nährstand, Wehrstand und Lehrstand, wobei die Herminonen in seiner Kunstsprache als Armanen erscheinen.
8  Guido List: Die Religion der Ario-Germanen in ihrer Esoterik und Exoterik, Leipzig/Zürich o.J., S. 38 und 39.
9  Sie verlor den Prozeß um die Namensrechte gegen die von Geza von Neményi erneuerte GGG.
10  Jürgen Rieger: Von der christlichen Moral zu einer biologisch begründeten Ethik. Heft 21 der Schriftenreihe der Artgemeinschaft – Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V. (Privatdruck), S. 72f.
11  Friedrich Nietzsche: Der Antichrist, in: Werke in drei Bänden, hrsg. von Karl Schlechta, München 1966, Bd. 2, S. 1230.
12  Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, ebd., S. 16.
13  Das „Heidnische Jahrbuch“ erschien erstmals 2006 im Verlag Daniel Junker und wird mittlerweile von Holger Kliemannel in der Edition Roter Drache herausgegeben.
14  Siehe www.eldaring.de/pages/der-eldaring-e.v/satzung.php.
15  Fritz Steinbock: Das Heilige Fest – Rituale des traditionellen germanischen Heidentums in heutiger Zeit, Hamburg 2004.
16  Eldaring und VfGH haben seinen Anspruch in entsprechenden Stellungnahmen zurückgewiesen.
17  Geza von Neményi: Heidnische Naturreligion – Altüberlieferte Glaubensvorstellungen, Riten und Bräuche, Bergen 1988, Holdenstedt 2003; Heilige Runen – Zauberzeichen des Nordens, München 2003; Götter, Mythen, Jahresfeste – Heidnische Naturreligion, Norderstedt 2004; Die Wurzeln von Weihnacht und Ostern: Heidnische Feste und Bräuche, Norderstedt 206; Kommentar zu den Götterliedern der Edda, Teil 1 und 2, Norderstedt 2008/2012.
18  Siehe Kris Kershaw: Odin – Der einäugige Gott und die indogermanischen Männerbünde. Aus dem Englischen von Baal Müller, Engerda 2004.
19  Geza von Nemény: Heilige Runen, a. a. O., S. 59.
20  Siehe z.B. Kurt Oertel: Von den Beschwernissen der letzten Reise, in: Heidnisches Jahrbuch 3/2008, S. 179–220.
21  Ebd., S. 214.
22  Vgl. Jürgen Rieger: Ahnenverehrung – Weg zur irdischen Unsterblichkeit, Bd. 10 der Buchreihe der Artgemeinschaft. Freilich reduziert Rieger Heidentum auf Ahnenverehrung und blendet andere Aspekte – etwa des Heidentums als Naturreligion – vollkommen aus. Einwände können zudem auch dann gegen seinen Rassenbegriff erhoben werden, wenn man die Existenz von Rassen nicht pauschal bestreitet.
23  Besonders charakteristisch dazu die Sturlunga Saga, in der von einer Verkörperung Kolbeinns in seinem Neffen – zu einer Zeit, als Kolbeinn noch lebte! – berichtet wird.
24  Wessen Täuschung, könnte man hier natürlich fragen …

 
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