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Warum wir den Euro brauchen

Von Stephan Baier

Die gemeinsame Währung ist das Symbol europäischer Souveränität im Zeitalter der Globalisierung

Braucht Europa den Euro? Präziser gefragt: Brauchen die in der Europäischen Union vereinten Länder eine gemeinsame Währung mit gemeinsamen Spielregeln? Auf den ersten Blick scheint das nicht der Fall zu sein, denn lange bevor es 1999 zur Einführung einer gemeinsamen Währung kam, gab es Schritte der Einigung Europas: 1951 die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“, 1957 die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“, 1967 die „Europäische Gemeinschaft“ und ab 1992 die „Europäische Union“. Auch auf den zweiten Blick scheint die gemeinsame Währung eher ein Appendix der Einigung, denn Großbritannien, Dänemark und Schweden gehören zwar der EU an, haben sich aber aus dem Euro willentlich und bewußt herausgenommen. Andere EU-Mitglieder haben die Voraussetzungen noch nicht erfüllt (Polen, Lettland, Litauen, Tschechien, Ungarn, Rumänien und Bulgarien). Sie dürfen und müssen dem Euro-Raum erst angehören, wenn sie die Maastricht-Kriterien erfüllen. Im Gegensatz zu 15 der 17 Euro-Staaten, die diese Kriterien nicht mehr erfüllen – wie man heute mit bitterer Ironie hinzufügen muß.

Die Geschichte des europäischen Einigungsgedankens zeigt jedoch, daß die Frage der gemeinsamen Währung von Anfang an im Blick war. Sogar in ihrer Vorgeschichte: Als der böhmische König Georg von Podjebrad im Jahr 1462 einen Föderations-Plan für Europa vorlegte, um den Frieden zwischen den christlichen Staaten zu sichern und das Abendland gegen die Türken zu verteidigen, schlug er (ähnlich der EU-Terminologie) einen Rat als höchstes Gremium dieses Bundes vor. Dieser sollte nicht nur über Krieg und Frieden sowie über die Stärke der Bundesarmee entscheiden, sondern auch Bundessteuern eintreiben und den Staatsschatz verwalten. Im Einigungsplan des Abbé de St. Pierre (1658–1743) bildet ein  Europäischer Senat das höchste Gremium des europäischen Bundes. Diesem obliegen nicht nur politische und juristische, sondern auch militärische und finanzielle Angelegenheiten.
Am Ende des Ersten Weltkriegs ersann Graf Richard Coudenhove-Kalergi seine paneuropäische Vision. Als er für seine Idee 1925 in den USA warb, mußte er feststellen, daß die Amerikaner nicht begreifen konnten, „wie es möglich wäre, in einem Chaos von Währungen und einem Netz von Zollschranken überhaupt zu leben und zu produzieren“. Coudenhove-Kalergi resümierte 1934, „daß die Währungsschranken den innereuropäischen Handel oft stärker unterbinden als die Zollschranken“, und forderte die „Schaffung einer gemeinsamen europäischen Währung“, durch die schließlich die Binnenzölle „als sinnlose Mauten empfunden werden“. Der Paneuropa-Gründer war 1934 der Ansicht, eine bloße Münzunion sei „sofort durchführbar, ohne politische Vorbedingungen“. Dagegen habe „eine europäische Zentralnotenbank nach dem Muster des amerikanischen Federal-Reserve-Systems“ als die höchste Stufe der Währungsgemeinschaft „einen europäischen Staatenbund zur Voraussetzung mit einer gemeinsamen Exekutive und soliden Friedensorganisation“.

Die Eurokrise ist eine Staatsschuldenkrise

Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Euro springen ins Auge: Zwar wurde mit der Europäischen Zentralbank (EZB) eine „europäische Zentralnotenbank“ geschaffen, doch mit weit weniger Kompetenzen als die US-amerikanische Fed. Und die EU ist zwar ein „europäischer Staatenbund“, doch konnten sich die nationalen Regierungen gerade in der Frage des Stabilitätspaktes ab 2003 über dessen „gemeinsame Exekutive“ (die EU-Kommission), einfach hinwegsetzen. Mit tragischen Folgen, denn dadurch wurden die im „Stabilitätspakt“ vorgesehenen Sanktionen unwirksam, weil die Schuldensünder – allen voran Deutschland und Frankreich – selbst darüber entscheiden wollten, ob ihre Sünde bestraft werden sollte. Wer nach dem Schuldigen für die Krise sucht, wird nicht bei der EU-Kommission oder bei der EZB fündig, sondern bei den nationalen Regierungen. Die Kriterien des Stabilitätspaktes, der gut und richtig gewesen wäre, wurden von den Mitgliedstaaten einfach ignoriert. So verstoßen heute 12 der 17 Euro-Länder gegen die Vorgabe, daß der Gesamtschuldenstand eines Landes nicht mehr als 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen darf – übrigens nicht nur Griechenland (132 %), sondern auch Österreich (73,5 %) und Deutschland (81,6 %). Diese exzessive Schuldenpolitik steht an der Wiege der heutigen Krise, die wir korrekt nicht als „Euro-Krise“, sondern als „Staatsschulden-Krise“ bezeichnen sollten.
Nach dieser nationalstaatlichen Demontage der europäischen Währung stehen wir vor der Frage: Sollen wir nicht ganz zu den nationalen Währungen zurückkehren? Oder braucht Europa den Euro? Es braucht ihn, wenn es seine monetäre Souveränität nicht an die Fed, die Zentralbank der USA, abtreten will. Wir sind längst gewohnt, daß der Ölpreis, von dem wir nicht nur aus klimatischen Gründen abhängig sind, in Dollar berechnet wird. Wir würden uns auch daran gewöhnen, daß der Ertrag unserer Exporte vom Dollar-Kurs und von der aggressiven chinesischen Weltwirtschaftspolitik abhängt. Wie souverän Europas Nationalstaaten in Währungsfragen sind, hat der 2011 verstorbene europäische Visionär Otto von Habsburg bereits 1974 so beschrieben: „So hat der Staat zwar das Münzrecht, ist aber nicht mehr fähig, den Kurs des von ihm ausgegebenen Geldes zu halten. Unsere Regierenden allesamt gebrauchen die gute Ausrede, unsere Inflation sei aus dem Ausland importiert. Trifft dies zu, so beweist es nur, daß unseren Staaten das Münzrecht eben nicht mehr zusteht, weil sie den Wert ihrer Banknoten nicht mehr garantieren können. Kurz gesagt: Sooft heute unsere Nationalstaaten Geld ausgeben, betreiben sie Falschmünzerei.“

Währungssouveränität zurückerobern

Eine hellsichtige Analyse in einer Zeit, in der von Globalisierung noch wenig die Rede war. Tatsächlich entsprang der Euro nicht der demütigen Bereitschaft, nationale Währungssouveränität aufzugeben, sondern dem Willen, sie zurückzuerobern – geboren aus der Einsicht, dass die im Binnenmarkt verflochtenen Völker nur gemeinsam jenes ökonomische Gewicht haben können, das global betrachtet von Relevanz ist. Inzwischen ist die Globalisierung weiter fortgeschritten: Ganz Europa ist abhängig von russischem Gas und saudischem Öl, von den Börsen in New York und Tokio, von den politischen Weichenstellungen in Washington und Peking, von den Kriegen und Bürgerkriegen im Orient und in Afrika. Nur im globalen Zusammenhang wird offensichtlich, daß der Euro kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit ist.
Ein Beispiel: China ist längst zu einer ökonomischen Weltmacht aufgestiegen – und ist an Europa als Markt und Wirtschaftspartner durchaus interessiert. Seit 1978 hat sich das Handelsvolumen zwischen China und den EU-Mitgliedstaaten mehr als verhundertfacht. Wenn Peking heute bereit ist, den Euro zu stützen, dann aus einem egoistischen Grund: Die EU importiert jährlich chinesische Waren im Wert von 300 Milliarden Euro und ist damit Chinas größter Abnehmer. Umgekehrt wird China zum größten Abnehmer europäischer Waren, mit einem Volumen von 130 Milliarden Euro. China hat Devisenreserven im Wert von 3,2 Billionen Dollar, ein Viertel davon in Euro. Noch ist Europa als Handelspartner und Exportmarkt für die aufstrebenden Wirtschaftsmächte interessant. Doch die Finanz- und Wirtschaftskrise hat bewiesen, daß der Wohlstand der Europäer brüchig ist – und mit ihm die Sozialmodelle der europäischen Staaten.
China und Indien sind größer, schneller, rücksichtsloser, hungriger. Das betrifft nicht allein die Ökonomie, aber gerade Europa kann sich große wirtschaftliche Schwankungen viel weniger erlauben als andere Mächte. In Indien leben 700 Millionen Menschen in bitterer Armut, während 100 Millionen einen immensen persönlichen Reichtum aufgebaut haben. In China herrscht ein brutales soziales Gefälle zwischen boomenden Metropolen und ländlichem Elend. In Europa dagegen verträgt das wohlstandsverwöhnte Sozialmodell keine stärkeren Schwankungen. Nur eine auf dem Weltmarkt starke europäische Wirtschaft kann dieses Sozialmodell erhalten und verteidigen.
Angesichts der Globalisierung und der Abhängigkeit Europas von außereuropäischen Kräften ist die europäische Einigung keine Frage der Gesinnung mehr – sondern eine Frage der Vernunft. Wer in der trügerischen Illusion nationaler Souveränität verhindert, daß „die in Brüssel“ allzu viel zu sagen haben, bewirkt nur, daß „die“ in Washington, Peking und Moskau, vielleicht bald schon „die“ in New Delhi, Ankara und Riad, in Europa das Sagen haben. Das Schicksal nicht nur des österreichischen Bürgers, sondern auch des Deutschen und des Franzosen hängt heute stärker von den Ölpreisentscheidungen der OPEC und den Spekulationen an der New Yorker Börse als von Entscheidungen seiner jeweiligen Regierung ab. China exerziert als Wirtschaftsweltmacht derzeit nicht nur in Afrika, sondern auch gegenüber Amerika und Europa vor, daß politische Dominanz in unserer Zeit ohne Kriegserklärungen und Truppenbewegungen machbar ist.
Unsere Welt ist im Umbruch. Amerika und China sind unbestrittene Weltmächte. Rußland ist es gerade noch wegen seiner Atomstreitmacht, seines Erdgases und seines Vetorechts im UN-Sicherheitsrat. Wofür entscheiden sich die Europäer: Für einen wohlwollenden Diktator Amerika, für den globalen Banker China, für den Kotau gegenüber den Energiemächten Rußland und OPEC? Woraus gewinnen sie jene Stärke, die ihnen die Möglichkeit gibt, auch bei schlechtem Wetter Herren im eigenen Haus zu bleiben? Am Ende des Zweiten Weltkriegs war die Idee des vereinten Europa eine Friedensidee – die Alternative zum Europa der Weltkriege und Vertreibungen. Heute ist sie eine Frage des Überlebens: Die Freiheit, die Rechtsstaatlichkeit und die soziale Sicherheit der Europäer wird niemand schützen, retten und garantieren, wenn sie es nicht selbst tun.

Der ESM ist mit Recht umkämpft

Das bedeutet nicht, daß die Art wie sie es tun, immer richtig ist oder der Kontroverse entzogen sein darf. Wer Europa befürwortet, darf seine politische Klasse umso kritischer beobachten. Ob der ESM den Euro stabilisiert oder die Europäer in die Sackgasse einer Schuldenunion führt, ist mit vollem Recht umkämpft. Das gilt aber auch im Nationalstaat: Man kann ein patriotischer Deutscher sein, aber die Länderfinanzausgleich genannte permanente Umverteilung von West nach Ost kritisieren. Man kann ein guter Italiener sein und die jahrzehntelangen Transferzahlungen von Nord nach Süd kritisieren. Wer aber das Solidaritätsprinzip an sich in Frage stellt – wie Umberto Bossi mit seiner Lega Nord in Italien –, verspielt die Glaubwürdigkeit seiner Kritik. Ebenso auf der europäischen Ebene: Es bedarf einer echten, auch finanziellen Solidarität in Europa. Wenn das Solidaritätsprinzip aber mißbraucht wird, einen dauerhaften Ausgleich für Mißwirtschaft, Klientelismus und erstarrte Strukturen der Korruption zu etablieren, kollabieren nicht nur einzelne Länder, sondern das ganze System.
Nicht in der Aufkündigung europäischer Solidarität und in der Rückkehr zu nationalen Konzepten liegt die Lösung, sondern in der Verbindung von Subsidiarität, Solidarität und Gemeinwohl-Bewußtsein. Die katholische Soziallehre erweist sich als moderner und zukunftsfähiger als Sozialismus und Nationalismus: Die Idee, das Wachsen staatlicher Schuldenberge sei für den Wohlstand künftiger Generationen und für die Stabilität der Gesellschaft ohne Bedeutung, entspringt ja einer sozialistischen Ideologie – empirisch gestützt nur auf das Wissen, daß der Staat Geld drucken kann. Die heute wieder massentaugliche Idee, daß die Bürger nicht gut und sicher regiert werden wollen, sondern vor allem von Politikern ihrer Sprache in der Hauptstadt ihres Landes, entspringt einer nationalistischen Ideologie – empirisch gestützt nur auf die Wahlerfolge der Populisten aller Länder.
Beide Annahmen spülte die Finanz- und Wirtschaftskrise hinweg: Die 27 nationalen Regierungen der EU-Mitgliedstaaten wollten ihre steuerliche und finanzpolitische Souveränität nicht freiwillig an „die in Brüssel“ abgeben. Also gaben sie sie unfreiwillig an die „Finanzmärkte“ ab, die schneller, stärker und globalisierter als unsere nationalen Regierungen sind. Von der EU wollte man sich das Sparen nicht diktieren lassen, brach ab 2003 hemmungslos den unterschriebenen Stabilitätspakt. Nun läßt man sich nicht nur das Sparen und Schuldenbremsen von den „Finanzmärkten“ diktieren, sondern wirft mit dem Unvernünftigen auch noch das Vernünftige über Bord, etwa die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank.
Nicht aus Vernunft, sondern aus Not erinnern sich die Schuldenakrobaten in den nationalen Hauptstädten heute daran, daß auch Staaten auf lange Sicht nicht mehr ausgeben können als sie einnehmen. Nicht aus Vernunft, sondern aus Not plädiert die deutsche Kanzlerin für verbindliche Schuldenbremsen in den nationalen Haushalten, die kontrolliert und sanktioniert werden. Es wäre vernünftig gewesen, freiwillig und in wirtschaftlich stabilen Zeiten die Budget- und Steuerkontrolle an die EU zu geben, den Bruch des Stabilitätspaktes mit echten Strafen zu belegen. Doch man wollte die nationalstaatliche Souveränität gegen Europa verteidigen – und verlor sie an die „Finanzmärkte“. Was bei ruhiger See friedlich und harmonisch hätte getan werden können, muß nun bei stürmischer See unter Schmerzen und Gefahren geschehen: die Wiedergewinnung der Souveränität der Europäer durch die Aufgabe der Illusion nationalstaatlicher Souveränität.
Die USA haben nicht weniger ökonomische Probleme als die Europäische Union – ohne daß irgendjemand auf die Idee käme, diesen offiziell als Staatenbund definierten Bundesstaat in Frage zu stellen, ohne daß jemand den Dollar hinterfragen oder eigene Währungen für Kalifornien und Florida fordern würde. Der Unterschied zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und von Europa läßt sich nicht in Zahlen, Daten und Fakten fassen, sondern im Mythos: Die Amerikaner glauben selbst in Momenten der Schwäche an Amerika und seine Stärke. Die Europäer zweifeln selbst in Momenten der Stärke an Europa und seiner Zukunftsfähigkeit.

Der Mythos der Identität von Staat und Nation

Objektiv betrachtet könnte die Europäische Union zukunftsfähiger und solider sein als jede zu ihr denkbare Alternative. Genau aus diesem Grund waren die Staaten, aus denen sie heute besteht, in den zurückliegenden Jahrzehnten auch bereit, sich schleichend von ihrer nationalen Souveränität zu verabschieden. Es waren nicht Ideale und Überzeugungen, sondern Krisen und Nöte, die zum Souveränitätstransfer führten. Nun aber kehrt ein Mythos zurück, der keiner rationalen Argumentation standhält: die Idee der Identität von Staat und Nation, des naturgegebenen und stabilen Nationalstaates. Bis heute glauben nicht nur Politikwissenschaftler aus dem 20. Jahrhundert, sondern leider auch Politiker und Völker, daß ein Staat eines homogenen Staatsvolkes bedürfe, und zwar möglichst mit einer einzigen Staatssprache. Dabei kennt die Geschichte Europas nur drei tausendjährige Reiche, die allerdings multinationale, römische Vielvölkerreiche waren und länger hielten als alle Nationalstaatsmodelle: das römische Reich, das oströmisch-byzantinische Reich und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. In Österreich-Ungarn wurde die dem Kaiser gewidmete „Volkshymne“ in 14 Sprachen gesungen. Die mehrsprachige, betont föderalistische und multiethnische Schweiz hat sich nicht nur in zwei Weltkriegen, sondern bis heute als Hort der Stabilität erwiesen. Dennoch gelten vielen Europäern bis heute monoethnische Nationalstaaten als stabil, föderalistische und multiethnische Staaten dagegen als fragil.
Tatsächlich haben die Einteilung Europas in Nationalstaaten und die Wahnidee ethnisch reiner Räume nicht nur viele Kriege und Vertreibungen über die Völker Europas gebracht. Sie haben auch dazu geführt, daß Millionen autochthoner Europäer auf dem eigenen Grund und Boden als nationale Minderheit diskriminiert wurden. Dies alles relativierte sich durch die Fortschritte der europäischen Einigung. Durch den Binnenmarkt, gemeinsame Rechtsrahmen, die Degradierung von Staatsgrenzen zu Verwaltungsgrenzen im Zuge des Schengen-Systems, durch die Unionsbürgerschaft und schließlich durch die gemeinsame Währung verloren die Grenzen innerhalb der Europäischen Union mehr und mehr ihren trennenden Charakter.
Ein Beispiel: Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatten die Tiroler südlich der willkürlich gezogenen Brennergrenze lange unter einer nationalistischen Italianisierung, unter der Tirol teilenden Grenze und unter dem Pakt des deutschen mit dem italienischen Tyrannen zu leiden. Heute sind Süd- und Nordtiroler in der Europäischen Union, im Schengen-System und im Euro-Raum vereint – ohne daß dafür Blut fließen, Kriege geführt oder die Existenz Italiens in Frage gestellt werden mußten.
Nicht national, sondern nur gemeinsam können die Europäer im 21. Jahrhundert souverän sein. In diesem Sinn ist der Euro mehr als eine Währung. Er gießt die Überzeugung, daß das europäische Lebensmodell nur in europäischer Solidarität erhalten und verteidigt werden kann, in harte Münze. Er platziert Europa zumindest währungspolitisch dort, wohin es auch weltpolitisch gehört: auf Augenhöhe mit den USA. Er ist sichtbarer Ausdruck des europäischen Anspruchs, keine Diktate aus Washington, Moskau oder Peking zu akzeptieren, sondern im Zeitalter der Globalisierung selbst ein Global Player zu sein oder zu werden. Er ist die Währung einer Weltmacht, deren außenpolitische Stärke nicht auf militärischer Stärke und Aggression, sondern auf der sozialen Sicherheit, dem Leistungswillen und dem Wohlstand der eigenen Bürger beruht. Doch wenn die Europäer dies alles nicht gemeinschaftlich verteidigen, dann werden sie es verspielen. Diese Lektion sollten wir aus der Krise gelernt haben, in die uns die nationalen Schuldenmacher geführt haben.

Staatlichkeit als gegliederte Ordnung

Wir werden uns also daran gewöhnen müssen, Staatlichkeit als gegliederte Ordnung zu denken. Das kann Bürgern traditionell föderalistischer Staaten leichter fallen als ihren Nachbarn aus Nationalstaaten mit zentralistischer Tradition. Die europäische Geschichte gibt uns dabei drei große Hilfestellungen: Sie beweist erstens, daß der Nationalstaat – die Idee einer geografischen Deckungsgleichheit von Staat und Nation – eine Idee des späten 18. Jahrhunderts ist, die im 20. Jahrhundert blutig scheiterte. Sie zeigt zweitens, daß vielsprachige und multinationale Staaten auf europäischem Boden besonders langlebig und krisenfest sein können: wie Byzanz, das Heilige Römische Reich und die Schweiz. Drittens lehrt uns die Geschichte, daß der Mensch in seinem Herzen nicht nur für einen Patriotismus Platz hat: Wie ein Mensch – was Bismarck ebenso leugnete wie die aktuelle chinesische Religionspolitik – zugleich romtreuer Katholik und loyaler Staatsbürger sein kann, so kann er zugleich seine Heimat lieben, seinem Vaterland verbunden sein und sich als Weltbürger fühlen.
Man kann steirischer, österreichischer und europäischer Patriot sein, wie man sizilianischer, italienischer und europäischer Patriot sein kann.

 
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