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Menschenrechte für Sudetendeutsche?

Von Herbert Schmidl

Diplomatischen Schutz gewährt in der Regel ein Aufenthaltsstaat seinen Bürgern gegenüber völkerrechtswidrigen Handlungen anderer Staaten. Die BRD verweigert solchen Schutz aber den sudetendeutschen Heimatvertriebenen gegenüber rechtswidrigen Akten des tschechischen Staates. Klagen vor deutschen Gerichten und vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte blieben erfolglos.

Gegenstand dieses Rechtsstreites war ein auf dem Erbweg erlangtes landwirtschaftliches Besitztum im Saazer Land, auf dem Territorium der Tschechischen Republik. Wegen der Deutschstämmigkeit wurde das gesamte bewegliche und unbewegliche Vermögen im Jahre 1945 entschädigungslos enteignet. Der Antrag auf Restitution wurde durch das tschechische Finanzministerium ebenso abgelehnt wie das Ansuchen an das deutsche Außenministerium, die Vermögensrückgabe in Prag zu fordern.
Da mit der Verweigerung des diplomatischen Schutzes ein öffentlich-rechtlicher Streitfall mit der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit entstanden war, wurde Klage beim seinerzeit zuständigen Verwaltungsgericht Köln eingereicht mit dem Antrag, die Bundesregierung zur Gewährung des diplomatischen Schutzes zu verurteilen, den sie gegen alle Regeln den sudetendeutschen Heimatvertriebenen verweigert hat. Dem Antrag wurde nicht stattgegeben, mit der Begründung, daß die Bundesregierung zwar zum Schutz deutscher Bürger und ihrer Interessen gegenüber von fremden Staaten von verfassungswegen verpflichtet sei (BverfGE 6, 290, 299), hinsichtlich Zeitpunkt sowie Art und Weise der Schutzmaßnahmen aber ein weites Ermessen habe, so daß sie über die diplomatische Protektion selbst bestimmen könne. Diese Argumentation wurde auch von der zweiten Instanz übernommen. In der ersten Instanz wurde darüber hinaus geltend gemacht, daß sich die Bundesregierung wegen der Beziehungen zu den europäischen Nachbarn nicht verstärkt für die Interessen des Klägers einsetzen wolle. Zum anderen schade ein Insistieren auf dessen Individualansprüchen den Interessen der Gesamtheit der Sudetendeutschen, da nach Aussagen von deren führenden Vertretern die Anerkennung des Vertreibungsunrechts primäres Ziel sei. Abgesehen davon, daß dieser Urteilsgrund dem geltenden Recht eklatant widerspricht, weil der Schutzpflicht des Staates auch ein entsprechender Anspruch des einzelnen Bürgers auf Schutzgewährung gegen übersteht (BverwGE 62, 11, 14), wurden die für die Verzichtspolitik bezeichneten führenden Vertreter der Sudetendeutschen zu keiner Zeit benannt, noch wurde deren Kompetenz nachgewiesen. Ein entsprechender Beweisantrag, diese Personen zu dem Verfahren hinzuzuziehen, wurde abgelehnt. Ihre Berechtigung zu dieser Aussage scheitert auch an der Tatsache, daß die sudetendeutschen Landsleute, und erst recht alle Führungspersonen, an die Satzung der Landsmannschaft gebunden sind, und diese schreibt als Satzungszweck die Forderung auf Rückgabe des Vermögens in der Form einer gerechten Entschädigung vor. Der in der Hauptsache geltend gemachte Ermessensspielraum hinsichtlich des Zeitpunktes und der Art und Weise der Schutzmaßnahmen geht auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zurück und soll im Hinblick auf die Gewaltenteilung die zurückhaltende Ausübung der Gerichtsbarkeit im Bereich der Auslandsbeziehungen ausdrücken. Die damit bewirkte geringe Kontrolldichte für hoheitliche Aufgaben darf nach dieser Rechtsprechung aber nicht den Wesensgehalt der Grundrechte beeinträchtigen, so z. B., wenn das geltend gemachte Offenhalten der sudetendeutschen Rechtsansprüche auf einen unbefristeten Verzicht auf Schutzmaßnahmen hinausliefe, was im vorliegenden Streitfall einzutreten droht (vgl. Blumenwitz in „Interessensausgleich zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarstaaten, S. 98).
Anwendbar ist diese verminderte Kontrolldichte insbesondere beim Abschluß völkerrechtlicher Verträge, weil deren Inhalte in der Regel nicht allein von Deutschland bestimmt werden können. Ausgeschlossen ist diese Handhabung hingegen im Verhältnis gegenüber Staaten, die völkerrechtswidrig gehandelt haben, so wie dies für den tschechischen Staat im Rahmen des an den Sudetendeutschen verübten Völkermordes zutrifft. Dennoch haben die Verwaltungsgerichte die Rechtsauslegung des Hinausschiebens von Schutzmaßnahmen übernommen.

Deutsches Gericht erklärt Sudetendeutsche für kollektiv schuldig

Die Berufung gegen das ablehnende Urteil des Verwaltungsgerichtes Köln wurde neben der Ermessenszuständigkeit für Zeitpunkt oder Art und Weise der Schutzmaßnahmen damit abgelehnt, daß alle Sudetendeutschen von dem Urteil des tschechischen Verfassungsgerichtes vom 8. März 1995 betroffen seien. Hiernach wurde die Enteignung des gesamten Vermögens der Sudetendeutschen nicht nur als legal, sondern auch als legitim bezeichnet, weil die verjagte deutsche Bevölkerung – Zitat – „der Demokratie und ihrer Wertordnung feindlich gegenüberstand und in der Folge einen Angriffskrieg unterstützte“, so daß eine Bestrafung in der Form der Enteignung und Vertreibung gerechtfertigt sei. Wenn sich das Oberverwaltungsgericht Münster zustimmend auf das Brünner Urteil beruft, so stimmt es damit der Kollektivschuld und -haftung aller Deutschen zu, obwohl die christlichen Länder  Europas Schuld nur individuell und persönlich gelten lassen. Wo bleiben somit die Menschenrechte und die Verfahrenskultur in den Verwaltungsgerichtsverfahren? Hier handelt es sich um eine bewußte Übertretung des deutschen und europäischen Rechtes, weil hiernach jede Person bis zur ordnungsgemäßen Verurteilung durch ein unabhängiges, unparteiisches und auf Gesetz beruhendes Gericht als unschuldig zu gelten hat.
Eine Revision beim Bundesverwaltungsgericht wurde nicht zugelassen. Eine Verfassungsbeschwerde, die einem Rechtsstreit vor der europäischen Gerichtsbarkeit als nächster Schritt vorangehen müßte, kann hier unterbleiben, da das Klagebegehren auf Durchführung des diplomatischen Schutzes in der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes regelmäßig abgewiesen wurde (BverfGE vom 16. Dezember 1980 – 2 BvR 419/80 usw.).
Wie wenig die Rechtsansprüche der sudetendeutschen Heimatvertriebenen im vorliegenden Rechtsverfahren Berücksichtigung finden sollen, zeigt auch die Tatsache, daß sowohl durch die Bundesregierung als auch seitens der Verwaltungsgerichte den Beziehungen zum tschechischen Staat das größere Gewicht beigemessen wird als den Rechtsansprüchen der Sudetendeutschen auf Wiedergutmachung für die verletzten Grund- und Menschenrechte. Wenn somit diese Wiedergutmachungsansprüche höherrangigen Interessen zum Opfer fallen sollen, opfern die Betroffenen ihr Privatvermögen für einen öffentlichen Zweck. Die sich aus einer außenpolitischen Entscheidung ergebende besondere Last trifft somit nur den Personenkreis der Heimatvertriebenen und stellt ein besonderes, nach dem Sozialstaatsprinzip gemäß Art. 20 des Grundgesetzes entschädigungspflichtiges Opfer zugunsten der Allgemeinheit dar [BverfGE 27, 253 (283)], mit dem Anspruch auf eine Entschädigung nach den Aufopferungsgrundsätzen. Die Weigerung, hiernach zu verfahren, bedeutet deshalb eine Versagung des Ausgleichs für das Sonderopfer. Nur auf diesem Wege könnten die Lasten aus dem von der Gesamtheit zu tragenden Schicksal einer gerechten Lösung zugeführt werden.

Schlußstrich nur für deutsche Opfer

Das den sudetendeutschen Heimatvertriebenen zugedachte Sonderopfer ergibt sich auch aus den vorgelegten anderen Beweismitteln, wonach die Eigentumsansprüche der Geschädigten wegen möglicher Gegenforderungen des tschechischen Staates nicht verfolgt werden sollen. Dies geht aus einer Niederschrift über die Koalitionsverhandlungen vom 16. Jänner 1991 zwischen der CDU und der FDP gemäß den Aufzeichnungen auf Seite 3 wie folgt hervor: „Der Herr Bundeskanzler (hat) nämlich für die bevorstehenden Verhandlungen und die Haltung der Koalition zu diesen Verhandlungen über die Verträge vorgegeben: Wenn man beispielsweise jetzt anfange, die Eigentumsproblematik aufzurollen, mache man einen Sack auf, den man nicht mehr schließen könne“. Hierauf bemerkte der Bundesminister des Auswärtigen … (S. 5): „Wenn man beispielsweise gegenüber der CSFR Vermögensansprüche stelle, dann kämen mit Sicherheit Gegenforderungen. Er habe über dies Frage offen mit seinem tschechischen Kollegen gesprochen und sei sich mit ihm einig gewesen, daß es das Beste sei, über beides nicht zu reden.” Wie man Presseberichten der letzten Zeit entnehmen konnte, hat diese Frage tatsächlich auch weiterhin eine Bewandtnis insofern, als die deutsch-tschechische Reparationsfrage als noch unerledigt gilt, weil die Tschechische Republik – im Gegensatz zu Polen – auf Reparationen noch nicht verzichtet hat. Mit der Drohung, dies nachzuholen, will sie ein Faustpfand gegen sudetendeutsche Wiedergutmachungsforderungen in der Hand behalten. Eine hohe Aktualität erlangt diese Frage durch eine kürzliche US-Note auf eine Anfrage des tschechischen Staates, wonach man sich bestätigen ließ, daß die tschechische Position in Reparationsfragen nach wie vor unverändert fortbestehe. Alle Zeitungsberichte und Kommentare waren sich einig, daß die Tschechische Republik damit das Fortbestehen ihrer Reparationsansprüche gegenüber Deutschland in Erinnerung rufen wollte. Diese doppelseitigen Pressionen, zum Nachteil der durch die Totalenteignung geschädigten Sudetendeutschen, machen einen ebenso doppelten institutionellen Verfall von Staatsgewalten deutlich. Recht und Gerechtigkeit zählen nicht mehr, nur noch der Wille der Mächtigen.
Trotz der intensiven Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Güter, die in einer die Menschenwürde verletztenden Weise vollzogen wurden und in der Verletzungsintensität durch die Fortdauer über 55 Jahre verstärkt werden, hat sich die Bundesregierung zur Duldung und Hinnahme der tschechischen Untaten an den Sudetendeutschen durch die Erklärung von Bundeskanzler Schröder vom 8. März 1999 anläßlich des Besuches des tschechischen Ministerpräsidenten Zeman wie folgt entschlossen: „Die im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg stehenden Ereignisse sind Teil einer abgeschlossenen Periode, einer abgeschlossenen historischen Epoche, und sind nach unserer Auffassung unumkehrbar. Denen, die gelitten haben, denen gilt naturgemäß unser Respekt, aber wir müssen jetzt daran arbeiten, daß wir Perspektiven für die Gegenwart und Zukunft entwickeln. Wir sind uns deswegen einig, daß wir unsere Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten, sondern auf die Zukunft ausrichten. Wir betrachten diese Fragen also als abgeschlossen. Und als Folge dessen werden die Regierungen beider Staaten weder heute noch in Zukunft Vermögensfragen in diesem Zusammenhang aufwerfen oder Forderungen stellen – ich unterstreiche ausdrücklich: das gilt für beide, und ich habe Herrn Zeman natürlich gesagt, daß gelegentlich geäußerte Wünsche der deutschen Vertriebenenverbände nicht die deutsche Außenpolitik beeinflussen werden.”
Diese Erklärung des Bundeskanzlers, die teilweise mit der Gemeinsamen Erklärung zur Versöhnung beider Völker übereinstimmt, erlangt gemäß Art. 7 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge eine Verbindlichkeit, weil hiernach Staatsoberhäupter, Regierungschefs und Außenminister kraft Amtes zur Festlegung authentischer Texte und verbindlicher Erklärungen bevollmächtigt sind. Das bedeutet, daß hierdurch die tschechische Raubsicherungspolitik bestätigt wird mit der gleichzeitigen Respektierung der tschechischen Staatsraison, die sich wie folgt darstellt: Wer hiernach gesonnen ist, seinen Nachbarn zu töten oder zu verjagen, erwirbt damit gleichzeitig das Recht, das Eigentum des Opfers in Besitz zu nehmen. Mit dem Verzicht des Bundeskanzlers auf die Geltendmachung des Rechtsinstituts Privateigentum wird gegen den wichtigsten Baustein der freiheitlichen Gesellschaftsordnung verstoßen. Die Eigentumsordnung ist für die Stellung des einzelnen Bürgers im Staat und für die Gesellschaftsordnung als Ganzes von zentraler Bedeutung. Wer dies mißachtet oder aushöhlt, rüttelt an der freiheitlichen Ordnung des Staates.

Bundesregierung mißachtet Menschenrechte

Die Schutzverweigerung der Bundesregierung spiegelt sich darüber hinaus in der folgenden Mißachtung menschenrechtlicher Grundsätze wider: Die Vertreibung der Sudetendeutschen ist nach Beurteilung des österreichischen Völkerrechtlers Prof. Dr. Felix Ermacora ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, es ist Völkermord. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Völkermordkonvention unterschrieben und ratifiziert, so daß jede Anerkennung eines Genozids unter Strafandrohung steht. Nach Maßgabe der Konvention ist die Bundesregierung verpflichtet, eine entsprechende Anzeige beim Internationalen Gerichtshof zu erstatten, und nach § 220 a des Strafgesetzbuches wird die Hinnahme eines Genozids mit einer Freiheitsstrafe bis zu lebenslänglich bedroht. Die Bundesregierung weigert sich, entsprechend diesen Vorschriften tätig zu werden, so daß die genozidischen Massenverbrechen an den Sudetendeutschen ungesühnt bleiben sollen. 241.000 Tote säumen die blutigen Wege aus der jahrhundertelangen Heimat. Hauptsächlich Alte, Kranke, Frauen und Kinder sind tschechischen Massakern zum Opfer gefallen. Das Bundesarchiv in Koblenz beschreibt ihr trauriges Schicksal wie folgt: „Zu den Gewalttaten gehören Tötungen, verübt in verschiedenster Weise durch Erschießen, Erhängen, Erschlagen, Ertränken, brutale und sadistische Mißhandlungen, ferner Vergewaltigungen von Frauen.“
Die Verweigerung europäischer Rechtsgebräuche zeigt sich insbesondere auch in der Tatsache, daß die Bundesregierung alle Anträge zurückweist, die Tschechische Republik durch geeignete Maßnahmen zu einem völkerrechtskonformen Verhalten zu veranlassen, wie folgt: Gemäß Artikel 33 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte besteht für jeden Hohen Vertragsschließenden Teil die Möglichkeit der sogenannten Staatenbeschwerde, wenn ein Teilnehmerstaat die Menschenrechte und Grundfreiheiten der Konvention oder ihrer Protokolle verletzt, wie dies für die tschechischen Vertreibungsmaßnahmen zutrifft. Ein Antrag meinerseits, gegen den tschechischen Staat eine solche Beschwerde zu erheben, wurde ohne nähere Begründung abgelehnt.
Gleiches gilt auch für einen weiteren Antrag, ein Ausschlußverfahren aus dem Europarat wegen der tschechischen Rechtsbrüche im Rahmen der Vertreibung zu beantragen. Gemäß Artikel 3 der Satzung des Europarates erkennt jedes Mitglied die Vorherrschaft des Rechts an sowie die Ansprüche aller Bürger, der Menschenrechte und Grundfreiheiten teilhaftig zu werden. Dies gilt auch für die Bundesrepublik und für die Tschechische Republik, und beide Staaten dürfen die Sudetendeutschen hiervon nicht ausschließen. Jedes Mitglied des Europarats ist satzungsmäßig verpflichtet, zur Erfüllung der im Kapitel I bestimmten Aufgaben aufrichtig und tatkräftig mitzuarbeiten, woran es beide Staaten leider mangeln lassen. Beide Vorgänge machen im übrigen deutlich, daß es eine Fülle von Menschenrechtserklärungen und entsprechenden Vorschriften gibt, die sich in der Poesie der Konventionen und Satzungen wiederfinden. In der Prosa deutscher und europäischer Verfassungs- und Konventionswirklichkeit werden die Grund- und Menschenrechte der Sudetendeutschen jedoch der „Abstellkammer“ dieser Schutzvorschriften überantwortet. Dies ist auch die Erklärung dafür, daß der Ausschluß aus dem Europarat gegenüber der Tschechischen Republik nicht vollzogen werden kann.
Daß die Bundesregierung keine der national und international anerkannten Schutzmechanismen zur Durchsetzung der Grund- und Menschenrechte der Sudetendeutschen ergreift, zeigt auch die Tatsache, daß sie die fundamentalen völkerrechtlichen Rechtssätze ignoriert, die sie in rechtsstaatskonformer Weise anzuwenden hätte, wie folgt: Gemäß Artikel 25 des Grundgesetzes ist die Bundesregierung unmittelbar und zwingend verpflichtet, ausländischen Hoheitsakten, wie die tschechischen Enteignungs- und Vertreibungsmaßnahmen, die dem Völkerrecht zuwiderlaufen, innerstaatlich jede Geltung zu versagen. Die Anerkennung der dem jus cogens (völkerrechtlicher Grundsatz) widersprechenden tschechischen Rechtssätze der Enteignungsdekrete ist hiernach untersagt. Achtet hingegen die Bundesregierung im eigenen Hoheitsbereich die jus cogenswidrigen Präsidialdekrete, wie es mit der Gemeinsamen Erklärung geschehen ist, so beeinträchtigt sie die der verletzten Norm zugrundeliegenden Wertvorstellungen, und damit verletzt sie ihrerseits jus cogens. Diese Schutzverweigerung wiegt umso schwerer, als die Heimatvertriebenen wegen der Mediatisierung des Bürgers im Völkerrecht gegenüber der Tschechischen Republik nicht im eigenen Namen tätig werden können.

Nur das Europäische Parlament achtet die europäischen Rechtsgrundsätze

Das Unrecht dieser Rechtsverweigerungen gleicht dem Unrecht, das den sudetendeutschen Heimatvertriebenen in der Zeit ihrer größten Erniedrigung, der Vertreibung, widerfahren ist, die Zeit der kollektiven Aberkennung der Staatsbürgerrechte, der entschädigungslosen Enteignung und der Straffreistellung derjenigen Tschechen, die Unschuldige beraubt, verjagt oder getötet haben. Im Gegensatz zur Bundesregierung, zu den deutschen Verwaltungsgerichten sowie im Unterschied zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hat das Europäische Parlament die Aufhebung der rassistischen Dekrete gefordert, die die juristische Grundlage für den Genozid an der sudetendeutschen Volksgruppe waren. Diese Entscheidung stimmt mit der europäischen Rechtsordnung überein, die alle dem Europarat beigetretenen Staaten verpflichtet, die im Abschnitt I der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten enthaltenen Rechte und Freiheiten für alle in ihrem Hoheitsbereich lebenden Personen sicherzustellen.
Nach der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges hat nach der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (künftig EMRK) jeder Bürger die Möglichkeit, sich beschwerdeführend an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (künftig EGMR) zu wenden, der sowohl die Einhaltung des europäischen als auch des jeweiligen nationalen Rechts zu überwachen hat. Zur Frage der innerstaatlichen Rechtsprechung hat er erklärt, daß er einen kooperativen Grundrechtsschutz mit den nationalen Gerichten praktizieren wolle. Dazu verpflichte ihn seit dem Maastricht-Vertrag auch Artikel 6 Abs. 2 des EU-Vertrages (FAZ vom 5. September 2000, S. 10). In Anbetracht dieser Zusicherung, auch innerstaatliches Recht zu berücksichtigen, erwächst dem EGMR die Pflicht zur Rechtsverfolgung der deutschen Verweigerungshaltung, und zwar in Anbetracht der vorerwähnten Deliktformen nach den Vorschriften der EMRK, des deutschen Grundgesetzes, des Rechtsgrundsatzes von jus cogens, des Bürgerlichen- und des Strafgesetzbuches und nach der Satzung des Europarates. Trotz dieser mehrfachen Rechtsverletzungen, sowohl durch Schutzverweigerung als auch durch daraus resultierende eigene Eingriffe in die Rechtssphäre der Heimatvertriebenen, hat der EGMR die Beschwerde kurzerhand mit der alleinigen Feststellung zurückgewiesen: „… befindet das Gericht, daß sie (die Schutzverweigerung) keinen Anhaltspunkt für eine Verletzung der Rechte und Freiheiten gemäß der Konvention oder ihrer Protokolle ... darstellen”.
Dieses Urteil ist fern den europäischen Rechtspflichten und Rechtsbefugnissen. Das Bestreiten der Schuld an den Sudetendeutschen – sowohl durch den Vertreiber- als auch durch den Aufenthaltsstaat, ebenso wie durch die neue Wertegemeinschaft Europa – bedeutet nichts anderes als das Umdeuten und Leugnen der schrecklichen Wirklichkeit des übermächtigen Schuldkomplexes gegenüber einer diskriminierten Volksgruppe, deren Marginalität unterstellt wird.
Die Fragwürdigkeit des Urteils spiegelt sich auch in der Tatsache wider, daß es entgegen der Vorschrift des Artikels 45 EMRK nicht begründet wurde. Die Herausgabe des Wortlauts des bei der Entscheidung herangezogenen Artikels 56 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs wurde verweigert. Der nach Art. 30 EMRK gestellte Antrag auf Abgabe dieser Rechtssache an die Große Kammer wurde ohne jede Begründung wie folgt zurückgewiesen: „Das Verfahren ist mit der Entscheidung vom 13. 6. 2000 abgeschlossen.“

Hierarchie der Opfer

An die Stelle der Unrechtsdekrete tritt nunmehr ein Ausschuß von drei Richtern, die entgegen den Kammerurteilen Beschwerden für unzulässig erklären können, „wenn eine solche Entscheidung ohne weitere Prüfung getroffen werden kann”. Eine Entscheidung, und zwar eine endgültige, die wiederum ohne Rechtsmittel getroffen werden kann! In beiden Fällen werden somit den Heimatvertriebenen weniger Menschenrechte zuerkannt, was gleichbedeutend damit ist, auch weniger Mensch zu sein. Nicht auszudenken, wenn man der Last der Shoa die gleiche Geringschätzung angedeihen ließe, die man dem Völkermord an den Sudetendeutschen zuteil werden läßt. Sowohl in Deutschland als auch in Europa gibt es demnach eine Hierarchie der Opfer von Gewalttaten, wobei die Sudetendeutschen eine der untersten Plätze einnehmen müssen.

 
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