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Weltkrieg I – Das Ende der Neuzeit

Von Albert Pethö

Er war wie kein Krieg vor ihm, und er hatte gravierendere Folgen als alle Kriege seither (auch wenn diese ihn mitunter in mannigfacher Weise an Gewalttätigkeit noch übertreffen sollten). Er veränderte das Antlitz der Welt und war eine der großen Zäsuren der Geschichte, so wie der Fall Roms und die Entdeckung Amerikas. Der Erste Weltkrieg war das Trauma, das das vergangene Jahrhundert prägte. Mit seinem Ende beginnt ein neues und noch namenloses Zeitalter. Es ist das unsrige.

Im Sommer nächsten Jahres jährt sich zum neunzigsten Mal das Datum jenes heimtückischen Mordes, der sich als das folgenschwerste Attentat seit dem Erschlagen des Abel erweisen sollte – die Schüsse von Sarajevo, die den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz-Ferdinand und seine Gemahlin trafen und die den Kontinent in das blutige Inferno gegeneinander marschierender Millionenheere rissen. Jene fundamentale Erschütterung Europas und der Welt, die dieser Krieg darstellte, rückt nun gewissermaßen gerade über jene Linie, durch die wir Zeitgeschichte markieren, entschwindet jenem Bereich, für den es noch das Zeugnis Lebender gibt.
Als im Jahr 1918 jenes vierjährige, in seinem Ausmaß, seinen Opfern und seinen umstürzenden Auswirkungen alle Erwartungen übertroffen habende Schlachten zu Ende gegangen war, hatte Europa seine beherrschende Stellung in der Welt eingebüßt. Aus der Perspektive dieses Krieges erschienen die Jahrzehnte davor zu Recht wie ein goldenes Zeitalter, und die Jahrzehnte danach machten den Aberglauben der Aufklärung zunichte, daß die Entwicklung der Menschheit automatisch von einem steten Fortschritt hin zum Besseren bestimmt wäre. Europa hatte seinerzeit durch Clemens Fürst Metternich wieder eine stabile Ordnung erhalten, eine Ordnung, die zwar mitunter gewaltsam verschoben wurde (durch die Revolten von 1848, den Krimkrieg, Solferino und Königgrätz, den Deutsch-Französischen Krieg), die jedoch nicht grundsätzlich aus dem Gleichgewicht geriet. Diese Ordnung hatte dem Kontinent einen wirtschaftlichen Aufschwung und eine rasante technische Entwicklung ermöglicht, deren Intensität sich durchaus mit der unserer Tage zu messen vermag. Um die Jahrhundertwende steuerte durch die Erstarkung des kirchlichen Einflusses und die Entstehung der Christlich-sozialen Bewegungen sowie durch entsprechende konservative Gesetzgebung auch die von einer liberal-kapitalistischen Kahlfraßwirtschaft hervorgerufene soziale Frage langsam einer Lösung entgegen. Seit 1492, mit der Inbesitznahme Amerikas durch Spanien, griff Europa konsequent nach den anderen Erdteilen und etablierte auf ihnen seine Herrschaft und mit dieser Ordnung, Rechtssicherheit und die Vorteile einer zivilisatorischen Entfaltung in imperial vereinten Wirtschaftsräumen. Diese Entwicklung erreichte um 1900 ihren Höhepunkt. Das Konzert der Großmächte Europas dominierte den Erdkreis, wobei dann zwei Mitspieler in Übersee hinzutraten, im späten 19. Jahrhundert die USA und im beginnenden 20. Jahrhundert Japan. Es wurde nicht immer im Takt gespielt; dennoch war es mehr als eine Taktlosigkeit, die jene unerhört glanzvolle Welt, die sich so stark im Bestehen wähnte, jäh in einen finsteren Alptraum verwandelte.
Das Bewußtsein bestimmt das Sein. Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert des Nationalwahns. Besonders desaströs wirkte sich dieser in Verbindung mit liberal-atheistisch-freimaurerischen oder sozialistischen Strömungen aus. Die Idiotie von der „nationalen Selbstbestimmung“ zerstörte in Jahrhunderten gewachsene historische Strukturen und schuf beispielsweise mit dem vereinten Italien ein unreifes Konstrukt, das die mangelnde Legitimität seiner Existenz durch permanenten Größenwahn kompensierte. Außerdem war man wissenschaftshörig. Die Naturwissenschaft vor allem war eine Ersatzreligion geworden. Man rezipierte weltweit begeistert den Darwinismus, legte den Terminus vom „Kampf ums Dasein“ auf die Politik um und erklärte den Krieg zur Naturnotwendigkeit. Derlei Überzeugungen bestimmten, zwar nicht immer, doch immer öfter, Handlungsweisen und Zielsetzungen der führenden Staatsmänner und Militärs Europas.

Österreich und Rußland

Trotz allgemeiner Aufrüstung, nationaler Hysterien, zunehmender Verstrickung in zwei Bündnisblöcke und mitunter scharfer Interessensgegensätze hätte das Gleichgewicht der Großmächte in Europa (Deutschland, Großbritannien, Rußland, Frankreich und Österreich) und damit der Friede erhalten werden können, wäre es nicht an einem Punkt plötzlich dramatisch um die Lebensinteressen einer dieser Mächte gegangen, nämlich um die Österreichs. Dieser Punkt war der Balkan, der auslösende Faktor die Aggressionspolitik Serbiens und der Motor der Konfrontation Rußland.
Serbien war seit dem Königsmord von 1903 in Händen einer ultranationalistischen Verschwörerclique, deren expansionistische Vorstellungen, ähnlich wie beim großen Vorbild Italien, mehr die Züge einer Geisteskrankheit denn die gerade noch vertretbarer Eigeninteressen trugen. Die Ziele serbischer Begehrlichkeit waren die benachbarten Provinzen des geschwächten Osmanischen Reiches, aus dessen europäischem Besitzstand man große Beutestücke zu tranchieren gedachte, und – die südöstlichen Provinzen des Reiches Kaiser Franz-Josephs, das man aufgrund seiner geduldigen und bedachtsamen Friedenspolitik fälschlich für ebenso schwach und zerteilbar hielt. Die direkte militärische Aktion bereitete der sehr geschickt vorgehende serbische Generalstab durch Propaganda- und Desinformationskampagnen, Mordanschläge und die Organisation von Aufständen in den zu „befreienden“ Gebieten vor. In den Balkankriegen kurz vor dem Weltkrieg war Serbien mit dieser Strategie in Verbindung mit militärischen Überfällen im Räuberbanden-Stil extrem erfolgreich gewesen. Nun gedachte Serbiens Führung dies gegenüber Österreich ebenso zu halten und trachtete, dessen südslawische Provinzen durch ständige Hetze in Aufruhr zu versetzen. Allerdings war Serbien trotz aller Erfolge etwas, das man in heutigen Kategorien mit „Bananen-Diktatur“ (selbstverständlich mit „demokratischem“ Vorzeigekasperltheater ausgestattet) und auf gut Wienerisch mit „pimperlhaft“ umschreiben würde. Es hätte nicht wagen können, alleine die Monarchie herauszufordern. Serbien hatte jedoch jemanden, dessen Macht ihm den Rücken deckte, es vor Bestrafung schützte und dessen verantwortungsloses Spiel mit dem Feuer animierte. Und diese Macht war Rußland. Das Reich des Zaren war es damals, dessen Politik das europäische Gleichgewicht umstürzte. Die Zustände in Rußland waren kompliziert. Der Zar war wohlmeinend und friedfertig, aber schwach; eine mächtige und die Politik des Landes in der entscheidenden Phase kontrollierende Kriegspartei nationalliberaler Prägung, mit hohen Krediten vom revanchelüsternen verbündeten Frankreich zu großen Rüstungsanstrengungen veranlaßt, drängte zum Krieg gegen die Mittelmächte. Gerade hatte man mit Bomben und Granaten die Konfrontation mit dem über Nacht zur Großmacht gewordenen Japan und damit den Einfluß in Ostasien verloren und sah sich außerdem einer chaotischen Situation im Inneren gegenüber, als man eine völlig irrationale Konfliktpolitik mit der Monarchie um die Vorherrschaft auf dem Balkan begann. Auf diese hätte man selbst ohne weiteres auch verzichten können, doch man wollte nach dem Rückschlag in Asien an anderer Stelle Lorbeeren pflücken. Da solche Politik aber gegen den Fortbestand Österreichs zielte, konnte dieses somit nicht darauf verzichten, sich zur Wehr zu setzen. Würde sich die von Rußland unterstützte Aggressionspolitik Serbiens durchsetzen, so wäre der gesamte südslawische Länderkomplex unter Österreichs Zepter von der Irredenta gefährdet, gewaltsamen Übergriffen beliebig ausgesetzt und wahrscheinlich das Überleben des Kaisertums selbst in Frage gestellt gewesen. Diese „Strategie“ Rußlands mußte zwangsläufig in den Krieg münden. Im Falle ihres maximalen Erfolges winkten Ostpreußen und Galizien, vielleicht auch Ungarn und jedenfalls Konstantinopel als Kriegsbeute, im Falle der Niederlage aber die Selbstauflösung und der Sturz des Thrones. Leider waren keine russischen Staatsmänner mit dem rechten Augenmaß mehr zur Stelle. Der alte Zar, Alexander III., hatte das riesenhafte Reich noch unter Kontrolle gehabt und war ein nüchterner Politiker mit nüchternen Zielen und starker Hand gewesen. Er war leider zu früh verstorben (er gilt heute als „Gewaltherrscher“). Und Rußlands damals bedeutendste Friedenspolitiker, Witte und Stolypin, waren entmachtet beziehungsweise ermordet.
Der Erste Weltkrieg kann zu Recht auch als Auseinandersetzung eines konservativ geprägten Weltentwurfes (für den das Bündnis der beiden Kaisermächte in Mitteleuropa stand) gegen den des Liberalismus und der Freimaurerei (Frankreich, Großbritannien, USA) angesehen werden. Doch wäre es vielleicht gar nie zu dieser Auseinandersetzung gekommen, hätte Rußland den ihm weltanschaulich zustehenden Platz an der Seite der konservativen „Autokratien“ Österreich und Deutschland eingenommen oder doch zumindest eine wohlmeinende Neutralität im Gerangel zwischen den Blöcken bewahrt. So aber geriet Rußland durch eine fehlgeleitete nationalistische und längst jenseits aller Kategorien der Vernunft befindliche Politik zum destabilisierenden Faktor, viel mehr jenen absurden „Hurra-Patriotismus“ zur Darstellung bringend als die mit diesem Epitheton ornans bezeichnete Haltung des Wilhelminischen Deutschlands. Rußlands Haß auf Österreich datierte, mit einigem Recht übrigens, von dessen haarsträubendem Undank während des Krimkrieges her, den der Zar damals letztlich wegen Österreich auch verloren hatte. Und auf so manche Ungeschicklichkeiten danach, doch das lag alles in der Vergangenheit.
Das Auf und Ab von Annäherung und Feindseligkeit im russisch-österreichischen Verhältnis seither hätte unter der Regierung des österreichischen Thronfolgers vielleicht wieder zum Bündnis geraten können, dessen entscheidender Befürworter Franz-Ferdinand ja war, doch Franz-Ferdinand war tot, erschossen von einem vom serbischen Geheimdienst, dessen Politik Rußland deckte, auf ihn angesetzten Mörder, erschossen inmitten einer seiner eigenen Provinzen.
Das war die De-facto-Kriegserklärung, die Kriegserklärung nämlich Serbiens an Österreich. Gegen alle Postulate heutiger Geschichtsschreibung sei hier festgehalten, daß die Kriegsschuld nicht bei Deutschland lag (was im Zweiten Weltkrieg dann anders sein würde, aber da war dann vieles ganz anders) und schon gar nicht bei Österreich; sie lag bei jenen Mächten, die die ersten Akte der Aggression und Bedrohung setzten, sie lag bei jener Gruppe politischer Verbrecher in Serbien, die ihr Land bewußt in den Krieg mit Österreich steuerten, und sie lag bei Rußland, das Serbien in seinem Vorgehen Schutz bot, es der gerechten Bestrafung durch sein Opfer zu entziehen trachtete und das durch seine Mobilisierung die österreichisch-serbische Konfrontation erst zum Weltkrieg gestaltete. Abgestuft lassen sich dann sekundäre Momente von Schuld feststellen. Frankreich etwa deckte seinerseits das russische Vorgehen vollständig und mobilisierte ebenfalls, was in der auf des Messers Schneide stehenden Situation nur als bewußte Herausforderung gewertet werden konnte.
England schließlich vermied, einen wirklich konstruktiven Vorschlag zur Behebung der Krise zu machen (etwa den, Serbien endgültig der österreichischen Einflußzone zuzurechnen und Rußland dafür freie Fahrt durch die Dardanellen ins Mittelmeer einzuräumen – man hatte einen Monat Zeit gehabt, vom Attentat bis zum österreichischen Ultimatum, um sich über Maßnahmen zur Sicherung des Friedens Klarheit zu verschaffen), und stellte sich nach Bekanntwerden des völlig gerechtfertigten österreichischen Ultimatums an Serbien (das man als „schreckliches“ und „unerfüllbares“ Dokument bezeichnete – was es eben nicht war) unter Verbreitung völlig unzureichender „Vermittlungsvorschläge“ sofort und deutlich gegen die Monarchie und auf seiten des serbischen Mörder-Regimes. England bezeichnete zwar Österreichs Politik als „tollkühn“ und zielte mit seinen „Vermittlungsbemühungen“ dahin, die Monarchie, die lediglich ihre vitalen Interessen wahrnahm, zum Nachgeben zu bewegen, hatte sich jedoch durchaus nicht dazu verstehen können, Rußlands Politik als tollkühn zu kritisieren, und etwa versucht, auch dieses zum Nachgeben zu veranlassen.
Und dann gab es die weiter zurückliegenden Beiträge zur Konfrontation der Mächte. Deutschland etwa hatte den Bismarckschen Rückversicherungsvertrag mit Rußland nicht erneuert, worauf dieses sich Frankreich angenähert hatte. Kaiser Wilhelm II. hatte 1907 in der sogenannten Daily-Telegraph-Affaire einen außerordentlich ungünstigen Eindruck erweckt, die von ihm selbst angestrebte englisch-deutsche Annäherung torpediert und das Vertrauen in die Berechenbarkeit der deutschen Politik erschüttert. Die österreichische Außenpolitik hatte 1908 mit der Art der Annexion Bosnien-Hercegovinas die Russen gefoppt und das seit 1903 wieder recht gute Klima zwischen Rußland und Österreich gründlich ruiniert. All das wirkte nun nach, obwohl es natürlich keine plausiblen Kriegsgründe waren.
Österreichs Situation war eigentlich ohne Alternativen. Es hatte viele Fehler gemacht in den Jahren vor dem Krieg, doch keiner dieser Fehler in der Außenpolitik der Monarchie hatte ein anderes Land wirklich bedroht. Ein Fehler war paradoxer Weise wahrscheinlich auch die Friedenspolitik Kaiser Franz-Josephs. General Conrad hatte offensichtlich recht gehabt mit seinen Forderungen nach Präventivkriegen gegen Serbien wie gegen Italien. Letzteres heischte ebenso präpotent nach Provinzen der Monarchie wie ersteres. Nun hatten Faktoren von außen her und unter ungünstigen Umständen eine existenzbedrohende Krise herbeigeführt, die nur mehr zwei Lösungsvarianten offen ließ: entweder gab Serbien nach und erfüllte freiwillig die österreichischen Forderungen, was Österreich die Unterbindung der serbischen Wühl- und Hetzpolitik gestattet hätte – oder es gab eben Krieg. Serbien „akzeptierte“ das österreichische Ultimatum – bis auf dessen wesentlichsten Teil. Den akzeptierte es nicht. Serbien hielt also, Rußlands Schutz gewiß, bewußt an seiner Politik fest. Ein österreichisches Zurückweichen war unmöglich, wollte man sich nicht selbst aufgeben. Niemand läßt sich freiwillig ein Ohr abschneiden oder die Augen ausstechen. Ein Nachgeben der Monarchie hätte bedeutet, sich nach kurzer Zeit erneuter und wegen bereits erwiesener „Schwäche“ nur noch entschlossenerer serbischer Aufwiegelung in Bosnien und Hercegovina, in Dalmatien, sogar in Kroatien und Ungarn gegenüberzusehen – und im Falle der Notwehr erneut den Krieg mit Rußland zu riskieren; mit einem Rußland, das inzwischen seine Rüstung bedeutend vorangetrieben hatte und militärisch noch stärker sein würde. Serbien, auf die innenpolitische Destabilisierung der Monarchie zum Zwecke der Erfüllung seiner territorialen Expansion setzend, zwang Österreich förmlich zum Krieg. Und Deutschland ging mit Österreich, aus vielen Gründen, unter denen einer die Erfüllung seiner Bündnispflicht war.

Der Wendepunkt

Der Erste Weltkrieg war nicht nur in politischer Hinsicht ein Wendepunkt. Es mag zur Illustration dienen, daß an seinem Beginn noch in roten Hosen und Käppi und in blauen Blusen zum Sturmangriff geschritten wurde und man mit gezücktem Säbel zur großen Kavallerieattacke ritt – und daß an seinem Ende Stahlhelm, Schützengraben und Granate, Giftgas und Flammenwerfer, Panzer,
U-Boot-Krieg und Luftschlacht standen. 1915 trat gegen alle Verträge und gegen katholische Opposition Italiens Regierung auf seiten der Entente in den Krieg ein, um im „Heiligen Egoismus“, als welchen man die Infamie dieses Aktes umschrieb, nach bisher unerreichbaren Gebieten zu greifen, wofür man auch gerne hunderttausende Soldaten in den Tod schickte. Das Jahr 1918 brachte den Niederbruch Rußlands, das trotz der Weite seines Territoriums und der gewaltigen Massen an Soldaten militärisch geschlagen und politisch revolutioniert wurde. Letzteres hatte eine deutsche „Geheimwaffe“ vollbracht, der vom kaiserlichen Generalstab von der Schweiz nach Rußland geschaffte und mit viel Geld unterstützte Lenin. Der Krieg wurde aber entschieden durch das Eingreifen der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Deutschlands überragende militärische und organisatorische Kapazitäten hätten womöglich sonst auch noch den Sieg im Westen erzwungen oder doch zumindest eine überaus günstige Pattstellung, weil auf feindlichem Territorium stehend, ein besiegtes Rußland im Rücken und mit dem U-Boot-Krieg eine zwar nicht wie erhofft kriegsentscheidende, aber doch furchtbare Waffe führend.
Die Gegensätze zwischen den USA und den europäischen Mächten waren vielfältig, doch die zwischen den Staaten und Deutschland waren besonders tief. Es gab ein Geflecht britisch-amerikanischer Wirtschaftsinteressen, das es mit Deutschland so nicht gab. Da gab es vielmehr verdeckten Wirtschaftskrieg. Vor 1914 hatten die USA den Zugang ihrer agrarischen Billigstprodukte auf den deutschen Markt erzwungen und begonnen, die einheimische Landwirtschaft und die preußischen Junker niederzukonkurrenzieren. Andererseits fürchteten die USA Deutschlands Entfaltung in Lateinamerika und strebten eine Verdrängung seines wirtschaftlichen Engagements daselbst an. Auch ging es um die maritime Machtverteilung im Atlantik. Durch die starke deutsche Flottenrüstung war die britische Flotte zusehends in der Nordsee konzentriert, und die USA hatten begonnen, das von dieser hinterlassene Vakuum auszufüllen und ebenfalls maritim aufzurüsten. Die britische Kontrolle des Atlantiks (und der Weltmeere in der Folge) hoffte man zu brechen, eine deutsche wollte man keinesfalls zulassen. Schon vor dem Krieg war das kaiserliche Deutschland in den USA als der potentielle Hauptgegener gesehen worden (Kriegsfall „Black“). Die Einstellung führender US-Politiker und -Intellektueller zum deutschen Kaiserreich war geprägt von scharfer Antipathie. Der linksdemokratische US-Präsident Wilson sah die Welt (also die amerikanischen Interessen nach Dominanz auf den Märkten Europas, nach verstärkter Machtentfaltung auf den Weltmeeren, nach Fortdauer nordamerikanischer Kontrolle über Lateinamerika) durch einen deutschen Sieg gefährdet, und der einflußreiche US-Außenminister Lansing war für einen amerikanischen Kriegseintritt gegen die Mittelmächte ab dem Zeitpunkt, da sich deren Sieg abzeichnete. Die USA hofften auf ein Kriegsende, das mit der amerikanischen Interessenslage übereinstimmte und eine von den liberal-kapitalistischen Vorstellungen des eigenen Landes geprägte globale Ordnung zuließ. Ein möglicher alternativer Kriegsausgang erhöhte die Wahrscheinlichkeit eines bewaffneten Engagements der USA dramatisch. Mit der Erklärung des „Uneingeschränkten U-Boot-Krieges“ im Februar 1917 durch Deutschland wurde deutlich, daß England und Frankreich den Krieg verlieren könnten, ihn jedenfalls alleine nicht mehr gewinnen würden. Außerdem gefährdeten die deutschen U-Boote die amerikanischen Kriegslieferungen an die Alliierten. Die Weichen stellten sich somit auf den Kriegseintritt der USA. Dieser erfolgte dann im April 1917, wurde aber lange nicht wirksam und konnte erst mit Sommer 1918, nach dem Scheitern der großen deutschen Offensiven, durch schrittweises Landen und In-die-Fronten-Treten von über einer Million amerikanischer Soldaten und entsprechenden Mengen an Kriegsmaterial die Niederlage der Kaisermächte herbeiführen.

Die Folgen

Vier Kaiserreiche hatten mit Kriegsende aufgehört zu bestehen, die „Autokratien“, wie sie genannt wurden: das Wilhelminische Deutschland, das Heilige Rußland, das Osmanische Reich und, das vornehmste, wenn auch nicht mehr das mächtigste unter ihnen, jenes der Habsburger, das alte Österreich. Aus dem Chaos und den Trümmern Rußlands und Deutschlands krochen Bolschewismus und Nationalsozialismus zur Macht, deren Protagonisten mit diabolischer Unaufhaltsamkeit und blutiger Spur das Hereinbrechen der Moderne inszenierten. Der Sturz der Herrscherhäuser erlaubte den Aufstieg der Tyrannen.
Moskau, einst das „Dritte Rom“, geriet zur Kapitale der Weltrevolution, Exporterfolg garantiert. Als 1917 die Romanows entthront wurden, entstand zur Belohnung das, was viel später dann Amerikas großer Präsident, Ronald Reagan, das „Reich des Bösen“ nennen sollte. Die „Sowjetunion“. Diese konsolidierte sich erst nach Jahren des Bürgerkrieges und Massenmordes. Sie war ein modernes „Reich“, das gegen Gott „herrschte“ und schließlich über noch mehr Völker als das alte Rußland. Der Kult des Sozialismus hielt sie zusammen, und sie sandte ihre Propagandisten in alle Erdteile, Revolution war jener Religionsersatz, der unsere Welt dann von Kuba bis Kambodscha mit Grausamkeiten überzog. Und obwohl man sich 1945 unter Marginalisierung Europas mit dem eigentlichen Sieger beider Weltkriege, den USA, die Herrschaft über den Erdkreis geteilt hatte, kam jenes annus mirabilis, da der bolschewistische Koloß in sich zusammenbrach. Was der Umsturz von 1989 zu bedeuten hat, kann letztgültig heute noch nicht beurteilt werden. Jedenfalls scheint Rußland in Europa auf die Grenzen vor Peter dem Großen zurückgeworfen. Ein Zerfall, der auch immense Tragik in sich birgt und vielleicht noch weiter voranschreitet. All dies ist in gewisser Weise auch eine Spätfolge der russischen Kriegspolitik von 1914, ohne die man sich den Kommunismus und all dessen offenkundig verheerende Ineffizienz und Selbstdestruktion erspart hätte.
Mit dem alten Österreich aber war die letzte katholische Großmacht dieser Welt zerschlagen worden. Der demokratische Schwachsinn Präsident Wilsons und seine sektiererisch verstiegenen Auffassungen vom „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ (als ob das Amerika den Indianern je zugestanden hätte), der Traditionshaß des französischen National-Sozialisten Clemenceau (der von Österreich als „dem Rest“ sprach), nationale Idiotie und Raffgier und nicht zuletzt das Desinteresse der herrschenden britischen Liberalen liquidierten die neben dem päpstlichen Stuhl erhabenste Monarchie ihrer Zeit, die Monarchie schlechthin. Aber Torheiten dieser Art bestraft die Geschichte, in diesem Fall kam die Strafe bald und besonders grausam. Denn der Sturz Habsburgs und Hohenzollerns ermöglichte Hitler, der sich über Wahlsiege und Putsch den Weg durch die wenig überzeugende Weimarer Republik bahnte. Ein 1938 von allen mächtigen Demokratien im Stich gelassenes kleines Österreich wurde „angeschlossen“ und wird von den geistigen Erben dieser „Demokraten“ heute dafür wieder angespuckt. Und die kraftvolle Dynamik, die ein durch die Innovationen des Nationalsozialismus modernisiertes Deutschland dann der Welt vorführte, ließ vom alten Europa keinen Stein mehr auf dem anderen. Und alle, die 1918 Österreich verraten hatten, die Tschechen und Slowaken, die Ungarn und Polen, die Rumänen und Ruthenen, die Südslawen und Italiener und – vergessen wir sie nicht – die Deutschen der Monarchie, durften ernten, was sie gesät. Man legt nicht folgenlos Hand an den Thron und ruft Republiken aus.
Und Österreich hatte noch Glück im Unglück. Die meisten der Nachfolgestaaten der Monarchie wurden nach Nationalsozialismus und Weltkrieg für lange Jahrzehnte der Segnungen des Kommunismus teilhaftig. Die Westalliierten hatten mit Ende des Ersten Weltkrieges einen Pyrrhussieg errungen. Schuldner gegenüber den USA, machtpolitisch diesen längst nicht mehr vorrangig, bestenfalls noch gleichgeordnet, die Weltmärkte nicht mehr beherrschend, durch die im Vergleich mit der Vorkriegszeit gar nicht mehr so glanzvollen 20er und 30er Jahre langsam bergab gleitend in die sich aus der brüchigen Friedensordnung der Pariser Vororteverträge entfaltende nächste Katastrophe, den nächsten Weltkrieg. Das geteilte und aus dem Schutt dann wiederaufgebaute Europa nach 1945 erlebte nur in seiner nicht vom Kommunismus terrorisierten Hälfte wieder eine Periode des Friedens und der Prosperität, eingeschränkt freilich durch die Bitterkeiten, die England und Frankreich der Zerfall ihrer Imperien in Übersee bereitete, und das Realisieren, daß die eigene ungestörte Existenz von der Gnade des großen Bruders jenseits des Atlantiks abhing.
Mit der Niederlage gegen die westliche Übermacht vollzog sich auch die Auflösung des Osmanischen Reichsverbandes. Der siegreiche General Mustafa Kemal bewahrte die Türkei vor der ihr von der Hybris der Sieger zugedachten völligen Zerstückelung. Doch gleichzeitig mit dem Ausspielen der nationalen Karte, dem Atout „Modernisierung“, zerstörte er gründlich alle traditionellen Bindungen. Der Religionshasser Kemal stürzte das Haus Osman, „schaffte“ das Kalifat „ab“, verwandelte die Hagia Sofia in ein „Museum“, vertrieb die christlichen Griechen und verbot bei Strafe das Tragen von Fes und Schleier. Ein geschichtsloser Nationalstaat war entstanden, in seiner historischen Identität schließlich auf das mumifizierte Idol „Atatürk“ reduziert. Ähnlich wie die einstige „Sowjetuntion“ wird sich die Türkei irgendwann einmal unter Schmerzen auf die Suche nach ihren Wurzeln begeben – der Vormarsch des einstmals tief geächteten Islam hat schon begonnen. Auch hier wirkt der Weltkrieg fort. Aus der Zerstörung des Osmanischen Reiches, das ein Vielvölkerstaat wie das alte Österreich gewesen war, ergaben und ergeben sich die Krisen des Nahen und Mittleren Ostens bis ins Ende des 20. Jahrhunderts; ebenso sind die jüngsten Balkankriege Resultat des Wegfalls der drei alten Ordnungsmächte der Region, Rußlands, des Osmanischen Reiches und Österreichs.
Das 20. Jahrhundert ist mit den zwei Weltkriegen, dem nationalsozialistischen Rassenwahn und dem Massenmord an den Juden, den Kommunistengreueln in Rußland und China, Indochina und Afrika, dem Irrsinn der Entkolonialisierung und all den zahllosen Kriegen in der Nachfolge eines dieser Ereignisse, es ist mit seinen gewaltigen Völkerwanderungen, der Atombombe, dem Massenmord am ungeborenen Kind und den Anfängen der Euthanasie an den Alten das blutigste, grausamste, widerwärtigste, blasphemischste Zeitalter in der bisherigen Geschichte der Menschheit. Das alte Österreich, Symbol noch des Ancien Régime, übernational, aristokratisch, feudal, tief christlich geprägt (wie auf seine Weise auch das alte Rußland), das Zentrum und letzter Rest des Heiligen Römischen Reiches, war ein Anachronismus in diesem 20. Jahrhundert. Von einem ganz bestimmten Blickpunkt aus kann man den Ersten Weltkrieg auch als Krieg der Moderne speziell gegen das alte Österreich verstehen. Und die Moderne hat, zu unser aller Unglück, gesiegt. Menschlichkeit und Menschenwürde jedenfalls waren bei diesem Österreich, als es unterging. Daher stehen wir zu Anachronismen. Wir wollen sie wiederhaben.

Der Autor ist Herausgeber der konservativen Zeitschrift „Weiße Rose“.
Kontakt: Weiße Rose, Postfach 192, 1060 Wien

 
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