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Frankfurter Schule und Kritische Theorie

Von Werner Olles

Geschichte – Entwicklung – Bedeutung

Seit dem 10. Geburtstag Theodor W. Adornos am 11. September 2003 hat die von offizieller politiko-kultureller Seite zu erwartende Lobhudelei der sogenannten Frankfurter Schule und der Kritischen Theorie ein geradezu ungeheures Ausmaß erreicht. Dies ist ein Grund mehr, ein kritisches Bild dieser Institution, die inzwischen bereits Züge eines Mythos angenommen hat, zu zeichnen. Denn die Welt der flüchtigen Ästhetik, in der die herrschenden Charaktermasken den Raum mit einem Simulakrum politischer Inszenierung füllen, einer verfügbaren, abrufbaren und daher kalten Veranstaltung, hätte das beträchtliche polemische Talent der „Frankfurter“ gewiß zu allerhöchsten Provokationshöhen animiert. Eine Politik, deren grundlegende Kategorie gezielt das Modell einer „allgemeinen Ökonomie“ forciert und gleichzeitig durch aneignenden Verrat nach der kompletten Auslöschung der Gedankenwelt der Frankfurter Schule trachtet, und eine Kulturindustrie, die solchen Verblendungs- und Verblödungszusammenhängen schamlos applaudiert: Bessere Voraussetzungen zur Schaffung eines totalitären Potentials hat es wohl in unserer Geschichte noch nie gegeben.

Daß die politische und kulturelle Linke die Frankfurter Schule zugunsten einer feigen Angepaßtheit längst verraten hat, ist eine Sache, daß die politische Rechte die „Frankfurter“ nie verstanden hat, eine andere. Wer die Kritische Theorie notorisch als „psychoanalytische Triebtheorie“ mißversteht, der wird auch dem Kulturpessimismus der „Frankfurter“ gegenüber einer alles nivellierenden Konsum- und Warengesellschaft kaum etwas abgewinnen können. Und doch sind seit der „Dialektik der Aufklärung“1 die Moderne und die Aufklärung mitsamt ihrer Kehrseite in dieser intellektuellen Schärfe und Brillanz nicht mehr kritisiert worden. Selbst wenn man zur Weltsicht der Frankfurter Schule im Widerspruch steht, ist es durchaus nicht ehrenrührig, von ihr zu lernen: Ob es sich um die Skepsis gegenüber der modernen Mediengesellschaft handelt, um den Abgesang auf die bürgerliche Persönlichkeit, um die offenen Fragen eines innerweltlichen Verständnisses von Erlösung oder um das Leiden an einer geschichtlich nicht erlösbaren Welt, wie Adorno es in seinem wohl persönlichstem Werk, der „Negativen Dialektik“2 ausdrückt – vom Niveau und der Schärfe der Kritischen Theorie können auch Konservative profitieren, wenn sie denn ihre Scheuklappen ablegen.

Wie alles anfing …

Die Geschichte der Frankfurter Schule begann im Jahre 1923, als auf die Initiative des jüdischen Unternehmersohns Felix Weil, der sich seine politischen Sporen als Student der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften im Berliner Arbeiter- und Soldatenrat verdient hatte, die ministerielle Genehmigung für die Errichtung eines Instituts für Sozialforschung an der Frankfurter Universität erfolgte. Die Einweihungsfeier fand am 22. Juni 1924 statt, der Marxist Karl Grünberg eröffnete das Institut, das laut Weil eine „Heimstätte für den wissenschaftlichen Sozialismus“3 werden sollte. Damit stellte sich allerdings von Anfang an auch die Frage nach der wissenschaftlichen Objektivität der hier erforschten und vermittelten sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse. Unter Grünbergs Leitung konzentrierte man sich zunächst auf die Geschichte der Arbeiterbewegung, Wirtschaftsgeschichte und Geschichte und Kritik der politischen Ökonomie. Ab 1930 versuchte Max Horkheimer (1895– 1973), im Anklang an die sogenannte Wiener Schule, vermittels einer Metaphysik-Kritik und der Durchdringung von Sozialphilosophie und empirischen Sozialwissenschaften die Krise des Marxismus zu überwinden. Das einst religiös verkleidete Ungenügen an der irdischen Ordnung sollte von den neueren und eingängigen mythologischen Verkleidungen der politischen Rechten freigehalten werden, um zu einer wissenschaftlichen Theorie der Gesellschaft zu gelangen, die jedoch über den Positivismus hinauswies. Es ging Horkheimer dabei nicht allein um Tatsachenerkenntnis und Klarheit über das Grundsätzliche, sondern vor allem darum, aus der „Erfahrung der ganzen Unmenschlichkeit des kapitalistischen Arbeitsprozesses die drängende Notwendigkeit der Änderung“ zu folgern. Leitwissenschaft wurde den Frankfurtern daher auch nicht die Physik, sondern die Soziologie. Der Marxismus stand zwar immer noch im Mittelpunkt ihrer Theorie, jedoch erheblich angereichert und perpetuiert durch Psychoanalyse und Existentialismus. Damit hatte die Geburtsstunde der Kritischen Theorie und des Neo-Marxismus geschlagen.
Am 24. Januar 1931 übernahm Max Horkheimer den Lehrstuhl für Sozialphilosophie und die Leitung des Instituts. In seiner Antrittsrede betonte er, daß „wirkliche Erkenntnis“ im Unterschied zu „verklärender Ideologie“ den Menschen als Mittel dienen könnte, Sinn und Vernunft in die Welt zu bringen. Als Ziel der Sozialphilosophie galt ihm die „philosophische Deutung des Schicksals der Menschen, insofern sie nicht bloß Individuen, sondern Glieder einer Gemeinschaft“ sind. Schwangen in dieser differenzierten Aussage vielleicht schon Ansätze zu Horkheimers späterer Konversion zum Konservativismus mit?
Etwa ein Vierteljahr nach Horkheimers Amtsantritt kam Theodor Wiesengrund Adorno (1903–1969) als Privatdozent nach Frankfurt. Er war der Sohn eines wohlhabenden Weinhändlers jüdischer Herkunft, der allerdings evangelisch getauft war, den Sohn jedoch auf Wunsch seiner korsischen Ehefrau, einer ehemaligen kaiserlichen Hofopernsängerin, katholisch taufen ließ. Adorno hatte neben Philosophie auch Musik studiert und im Wiener Schönberg-Kreis Kompositionsunterricht genommen. So wurde ihm auch die Ästhetik zur wichtigsten Disziplin in der Philosophie. Horkheimer hatte Adorno bereits während seines Studiums kennengelernt, nun wollte man gemeinsam das Institut zu einer institutionellen Basis für den philosophischen Marxismus ausbauen. Tatsächlich lief das gesamte Forschungsprogramm auf eine marxistisch-psychoanalytische Mischung hinaus, die jedoch keinesfalls als klassisches Propagandainstrument des Kommunismus und der Sowjetunion dienen sollte, wenngleich man auch von einer grundlegenden Kritik dieser Systeme noch weit entfernt war4.
Neben Horkheimer und Adorno wirkten vor allem Friedrich Pollock und Erich Fromm am Institut. Der Psychoanalytiker Fromm, dessen Vorfahren Rabbiner waren, legte seinen Analysen einen Wertmaßstab zugrunde, dessen ethische Komponenten durchaus auch im „Kontext der Gemeinschaftssehnsucht der Nachkriegszeit, der deutschen Jugendbewegung und eines auf das Ostjudentum projizierten Antikapitalismus“5 zu suchen waren. Auch sein Gesellschaftsbild war stark geprägt von den Vorstellungen einer idealisierten Gemeinschaft: „Dort wo die Masse durch keine oder nur durch unwesentliche Formen verbunden ist, da ist ihr gerade das triviale Geringwertige gemeinsam. Der Einzelne mag ihr der wertvolle, Sittliche sein, doch die Masse vieler solcher Einzelner ist unsittlich“6. Diese Gemengelage aus neo-marxistischer Klassentheorie, antibürgerlichen Motiven und entmythologisierender Modernität bildete zunehmend den Kern der Kritischen Theorie.
1932 erschien das erste Heft der von den Frankfurtern herausgegebenen „Zeitschrift für Sozialforschung“. Horkheimer schrieb über Wissenschaft und Krise, Pollock über die Möglichkeiten einer planwirtschaftlichen neuen Ordnung – die kommunistischen und nationalsozialistischen Parteien, die diese befürworteten, waren bereits dramatisch angewachsen –, Fromm über analytische Sozialpsychologie, Leo Löwenthal über die gesellschaftliche Lage der Literatur und Adorno über Musik und Klassenkampf. Gemeinsam bekannte man sich zum „historischen Materialismus“, wohl ahnend, daß in der Endphase der Weimarer Republik die Rettung nicht mehr von surrealistisch-existentialistischen Gesellschaftsutopien kommen würde, sondern – wenn überhaupt – nur noch durch das Bündnis der aufklärerischen linken Intelligenz mit den Arbeitern und Angestellten, deren tatsächliche Lage die Frankfurter, ihrer eigentlichen Zielsetzung folgend, nun endlich in Erfahrung bringen wollten.
Im April 1933, wenige Monate nach der Machtergreifung Hitlers, erließ die neue Reichsregierung das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, in dem die Entlassung von Beamten und Wissenschaftlern „nichtarischer Abstammung“ verkündet wurde. In Frankfurt wurden u. a. der Völkerrechtler Hermann Heller, der Soziologe Karl Mannheim, der Theologe Paul Tillich und der Historiker Ernst Kantorowicz, der zum George-Kreis zählte, entlassen. Auch Adorno verlor seine Lehrbefugnis, publizierte jedoch gelegentlich noch in der „Frankfurter Zeitung“ und in der „Vossischen“. Horkheimer hatte bereits zuvor in weiser Voraussicht das Institut nach Genf verlegt. Man wollte abwarten und hoffte insgeheim, daß „Hitlers Dilettantismus in Wirtschaftsdingen ihn rasch erledigen werde“7. Über den wahren Charakter des Regimes waren sich allerdings auch andere Kräfte der politischen Linken nicht im Klaren, selbst die SPD-Führung beurteilte die Regierung Hitlers zunächst durchaus als „verfassungsgemäß“ und „parlamentarisch fundiert“, und Otto Wels verwahrte sich im Reichstag scharf gegen die „Übertreibungen“ der ausländischen Presse angesichts der herrschenden Repression durch die Nationalsozialisten. Für die Frankfurter Sozialphilosophen, die auf eine – zwar autoritäre, aber eben nicht totalitäre – Regierung des Generals Schleicher gesetzt hatten, war die Fehleinschätzung des NS-Regimes und ihre Prognose von seiner „Unhaltbarkeit“ jedoch in jeder Hinsicht äußerst blamabel.

Das Exil …

Während Adorno noch 1934 das nationalsozialistische Chorlied pries, in den vertonten Gedichten des Reichsjugendführers Baldur von Schirach einen „ungewöhnlichen Gestaltungswillen“ erkannte8 und gleichzeitig in der konservativen „Europäischen Rundschau“ heftig gegen „Negerjazz“ polemisierte9, rückte der Gedanke des Exils immer näher. Das Institut hatte inzwischen in mehreren europäischen Staaten mit Erhebungen über die sozialen Umstände, die zum Aufkommen des Faschismus und Nationalsozialismus geführt hatten, begonnen. Insbesondere in den „Studien über Autorität und Familie“ sollten die Zusammenhänge von Autoritätswandel und Familienunterhalt erforscht werden. Da sich auch in den USA die soziale Lage durch Arbeitslosigkeit und Einwanderung ständig verschlechterte, ergab sich die Möglichkeit, diese Untersuchungen an der Columbia Universität weiterzuführen. So erfolgte Ende 1934 in New York die Gründung des „International Institute of Social Research“.
In theoretischer Hinsicht begannen Horkheimer und Adorno gegen Ende der dreißiger Jahre ihre Zusammenarbeit an dem „Dialektik-Projekt“. Aus diesem ging schließlich die 1947 in Amsterdam veröffentlichte „Dialektik der Aufklärung“ hervor. Horkheimer hatte allerdings schon zehn Jahre zuvor seine grundsätzliche Kritik am Positivismus unter dem Titel „Traditionelle und Kritische Theorie“ niedergeschrieben. Sie stand unter dem Motto: „Dialektik statt Szientismus“ und half entscheidend, den Logischen Empirismus auch in den USA zu verbreiten. Im April 1941 siedelte er nach Los Angeles über. In New York verblieb nur ein kleiner Rest des Instituts. Unter dem Eindruck des Einmarsches der Wehrmacht in die Sowjetunion forcierten Adorno und Horkheimer ihr Dialektik-Projekt, da sich ihr Interesse von der „Theorie über die ausgebliebene Revolution“ nun auf die „Theorie der ausgebliebenen Zivilisation“ verschoben hatte. Es ging den „Frankfurtern“ fortan primär um eine Dialektik von Kultur und Barbarei. So heißt es in der Vorrede der „Dialektik der Aufklärung“ u. a.: „Wir glauben, daß die Ursache des Rückfalls von Aufklärung in Mythologie nicht so sehr bei den eigens zum Zwecke des Rückfalls ersonnenen nationalistischen, heidnischen und sonstigen modernen Mythologien zu suchen ist, sondern bei der in Furcht vor der Wahrheit erstarrenden Aufklärung selbst“.10
Aber man ging noch weiter. Den Begriff der Aufklärung im Sinne der Kritischen Theorie definierend, schrieben Horkheimer und Adorno: „Seit je hat Aufklärung das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen. Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt. Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft leisten die Menschen Verzicht. Sie ersetzen den Begriff durch die Formel, Ursache durch Regel und Wahrscheinlichkeit. Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent. Sie macht Ungleichnamiges kompatibel, indem sie es auf abstrakte Größe reduziert. Die Verweisung des Denkens aus der Logik ratifiziert im Hörsaal die Versachlichung des Menschen in Fabrik und Büro“.11 Als Dialektiker sahen sie in der Aufklärung durchaus nicht nur die Befreiung des Menschen von den Zwängen der Natur, sondern erkannten, daß der aus dem Naturzusammenhang gerissene Mensch in einer entzauberten Welt, aus der auch die Offenbarung verschwunden ist, nun von der Technik und dem Produktionsprozeß beherrscht wird. Die der bürgerlichen Gesellschaft entstammende Aufklärung brachte demnach nicht nur ihre eigene Kehrseite hervor, sie war auch nicht minder totalitär als ein der Stammesgesellschaft entspringender Mythos.

Die Rückkehr …

Bereits im Oktober 1946 hatten Vertreter der Stadt Frankfurt und der Universität schriftlich um eine Rückkehr des Instituts für Sozialforschung an seine alte Wirkungsstätte geworben. Horkheimer kehrte im Frühsommer 1949 als erster zurück, nachdem u.a Raymond Aron, Paul Tillich und Eugen Kogon eine Petition zur Wiedereröffnung des 1933 von den Nationalsozialisten geschlossenen Instituts unterzeichnet hatten. Die ersten Lehrveranstaltungen im Wintersemester 1949/50 nahm jedoch Adorno, für den die Entscheidung, nach dem Ende der NS-Herrschaft nach Deutschland zurückzukehren, nie in Frage gestanden hatte, wahr, nachdem er sich nach seiner Rückkehr aus den USA zunächst in Paris von den Neurosen des amerikanischen Bürgertums erholt hatte. Im August 1950 begann das Institut offiziell wieder mit seiner Forschungsarbeit, wenige Monate später wurde der alte und neue Institutsdirektor, Max Horkheimer, zum Rektor der Johann Wolfgang Goethe-Universität gewählt. Damit stand zum ersten Mal ein Jude und zudem ein amerikanischer Staatsbürger – trotz seiner Remigration hatte er dank einer von Hochkommissar McCloy unterstützten Gesetzesinitiative die US-Staatsbürgerschaft behalten dürfen – an der Spitze einer deutschen Universität.
In Horkheimers zweijährige Amtszeit als Rektor fiel u.a. auch eine vom damaligen Bundespräsidenten Heuss geführte Auseinandersetzung mit Mensuren fechtenden Studentenverbindungen. Während Heuss vor einem „Anmarsch der restaurativen Burschenherrlichkeit“12 warnte, ging Horkheimer weitaus differenzierter mit diesem Komplex um. Sein politisches Urteil auf dem 3. Deutschen Studententag in München im Mai 1954 fiel geradezu salomonisch aus: „Wir wollen, sofern sie dazugehören, die Verbindungen gewiß nicht ausschließen, wenn wir auch bezweifeln, daß etwa die Mensur das beste Mittel zu solcher Erziehung sei. Allzu leicht verleitet gerade der Wert, den man ihr beimißt, dazu, die Bereitschaft, Schläge um ihrer selbst willen oder der männlichen Tugend willen auszuteilen und einzustecken, an die Stelle der Tapferkeit der Wenigen zu setzen, die man nach Goethes aktuellem Wort seit je gekreuzigt und verbrannt hat.“13
Beherrschendes innenpolitisches Thema jener Jahre war jedoch die Remilitarisierung, gegen die sich u.a. auch die Bewegung „Kampf dem Atomtod“ richtete. Horkheimer hatte auch hierzu recht eigenwillige Ansichten, seine Äußerungen nach einer Großkundgebung auf dem Frankfurter Römer „Als ob es um die Gefährlichkeit der Atome ginge! Wenn sie die Erde verwüsten, hat niemand mehr Kopfweh“14, waren jedoch weit eher von Resignation als von Zynismus oder Hochmut geprägt. In erster Linie galt dies aber Adornos jungem Assistenten Jürgen Habermas, der sich in der Anti-Atomtod-Bewegung betätigte und den Horkheimer als deren führenden „Propagandisten“ verdächtigte. Zudem behagte ihm die Habermassche Marx-Rezeption mit ihrem Anspruch einer „auf empirische Sicherung bedachten revolutionären Geschichtsphilosophie“ nicht. Horkheimers Intervention bei seinem Freund und Kollegen Adorno war nicht erfolglos, und Habermas mußte nach Marburg zu Wolfgang Abendroth, einem dem traditionellen Arbeiterbewegungs-Marxismus verpflichteten Wissenschaftler, ausweichen.

Die 68er-Studentenbewegung …

Im Sommersemester des Jahres 1965 hatte der bis dahin völlig unbekannte Student Rudi Dutschke im Anschluß an einen Vortrag Adornos im Auditorium Maximum der FU Berlin über den „Begriff der Gewalt“ diesen scharf angegriffen. Dutschke kritisierte vor allem das Mißverhältnis zwischen Theorie und Praxis in der kritischen Soziologie. Das Verhältnis zwischen den Lehrern der Kritischen Theorie und ihren studentischen Schülern begann sich langsam zu trüben. Als sich Horkheimer im Mai 1967 bei der Eröffnung der Deutsch-Amerikanischen Freundschaftswoche auf dem Frankfurter Römer demonstrativ mit einem US-General zeigte und am Abend im Amerika-Haus einen Vortrag hielt, in dem er die studentischen Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg verurteilte, reagierte der Frankfurter Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) mit einem „Offenen Brief“ in dem der Vorwurf erhoben wurde, die Äußerungen des emeritierten Sozialphilosophen seien eine „mit dem Mantel der Privatheit verkleidete Unwissenschaftlichkeit“, entstanden aus einer „in die Apologie des Faschismus und Imperialismus umgeschlagenen Resignation“.15
Wie weit die Entfremdung zwischen den „Frankfurtern“ und den linksradikalen Studenten gediehen war, zeigte auch ein Vorfall im Audimax der FU Berlin im Juli 1967, als Adorno bei seinem Vortrag über Goethes „Iphigenie“ von SDS-Leuten und Kommunarden um Dieter Kunzelmann, Rainer Langhans und Fritz Teufel gestört wurde. So las man auf einem Transparent „Berlins linke Faschisten grüßen Teddy, den Klassizisten“. Nur wenige Tage später hielt der Philosoph Herbert Marcuse im gleichen Hörsaal eine Vortragsreihe über „Das Ende der Utopie“, die begeistert aufgenommen wurde. Marcuse (1888–1979), ein ehemaliger Institutskollege der „Frankfurter“, der inzwischen in Kalifornien lebte und an der Universität in Berkeley lehrte, war der Sohn eines jüdischen Textilfabrikanten aus Pommern und hatte 1918 im Berliner Soldatenrat eine nicht unwichtige Rolle gespielt. Nach seiner Emigration in die USA war er zwischen 1942 und 1950 Sektionschef und später Leiter der Europa-Abteilung im Office of Strategic Services, dem Vorläufer der Spionageorganisation CIA. Der 1966 erschienene Sammelband „Kritik der reinen Toleranz“ mit Marcuses Essay „Repressive Toleranz“16 war neben Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“ die eigentliche Grundlegungsschrift der Fundamentalopposition von 1967/68.17 Ein Jahr später erschien Marcuses „Der eindimensionale Mensch“, ein weiteres Standardwerk der Studentenbewegung.18 Vor allem aber teilte Marcuse nicht den Pessimismus der anderen Vertreter der Kritischen Theorie, die, wie Horkheimer und Adorno, zwar die gesellschaftlichen Mißstände in unerhörter Schärfe und Brillanz kritisierten, aber weit davon entfernt waren, irgendwelche Lösungsmöglichkeiten anzubieten.
Nach dem Attentat auf den Berliner SDS-Sprecher Rudi Dutschke am Karfreitag 1968 und darauf an den Ostertagen folgenden gewaltsamen Aktionen gegen die Springer-Presse, die man für den Mordanschlag verantwortlich machte, kam es Ende September 1968 zu einer Podiumsdiskussion zum Thema „Autoritäten und Revolution“, an der sich neben Adorno und Habermas auch der Frankfurter SDS-Sprecher Hans-Jürgen Krahl, einer der begabtesten Schüler Adornos, beteiligte. Dies war die letzte ernsthafte Auseinandersetzung zwischen Vertretern der Kritischen Theorie und des SDS. Ein Vierteljahr später besetzte ein Stoßtrupp des SDS unter Führung Krahls das Institut für Sozialforschung und zwang Adorno, das Haus durch die Polizei räumen zu lassen. Damit wurden für den SDS die Kritischen Theoretiker endgültig zu Komplizen der Staatsmacht. Auch Adornos Vorlesungen wurden nun systematisch gestört. Absoluter Höhepunkt dieser Aktionen war eine perfide Attacke von SDS-Studentinnen, die ihn auf dem Podium bedrängten, Flugblätter mit der Überschrift „Adorno als Institution ist tot!“ verteilten und schließlich vor ihm ihren Busen entblößten. Wie sehr diese Geschmacklosigkeit gerade den Ästheten Adorno, der weiblicher Anmut und Schönheit durchaus zugeneigt war, getroffen und verletzt hat, kann man nur erahnen.
Zwischen Januar und Juli 1969 kam es zu einem intensiven Briefwechsel zwischen Adorno und Marcuse. Adorno klagte über eine Phase äußerster Depression und schrieb u.a. „Die Gefahr des Umschlags der Studentenbewegung in Faschismus nehme ich viel schwerer als Du.“19 Und wenig später: „Die Meriten der Studentenbewegung bin ich der letzte zu unterschätzen; sie hat den glatten Übergang zur verwalteten Welt unterbrochen. Aber es ist ihr ein Quentchen Wahn beigemischt, dem das Totalitäre teleologisch innewohnt … Von dem Maß an Haß, das sich auf Friedeburg, Habermas und mich konzentriert, machst Du Dir offenbar keine Vorstellung… Herbert, nach Zürich oder Pontresina kann ich wirklich nicht kommen. Du mußt …wirklich mit einem schwer ramponierten Teddy rechnen, Max wird es Dir bestätigen.“20 In dem Augenblick, in dem eine Sekretärin den Brief tippte, lag Adorno bereits im Sterben. Einen Abend zuvor war er mit starken Herzbeschwerden ins Krankenhaus eingeliefert worden. Hier erlag der wohl wichtigste Vertreter der Frankfurter Schule und der Kritischen Theorie einen Tag später einem Infarkt.

Resümee

Daß die freundschaftliche Lehrer-Schüler-Beziehung, die zunächst zwischen dem aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrten Sozialphilosophen Horkheimer und Adorno und den Studenten existierte, ab Mitte der sechziger Jahre immer größeren Spannungen ausgesetzt war und 1969 schließlich zum offenen Konflikt mit Institutsbesetzung, Polizeieinsatz und Vorlesungsstörungen führte, war vorauszusehen gewesen. Spätestens seit Adornos tragischem Eingeständnis „Ich habe ein theoretisches Denkmodell aufgestellt. Wie konnte ich ahnen, daß Leute es mit Molotow-Cocktails verwirklichen wollen“, war der gemeinsame Faden abgerissen.
Horkheimers Erkenntnis der „Hölle einer chinesischen Weltherrschaft“ und seine Aussagen, radikal sein heiße heute konservativ sein, und ihm sei der Terror zuwider, ob links oder rechts, Adornos Vorwurf an Marcuse, er wolle „alles Dissentierende verbieten“, den Horkheimer noch überbot, indem er Marcuse verdächtigte, mit den „Zuchthaussystemen des Ostens“ zu sympathisieren und damit die „schlimmste Art der Barbarei“ zu propagieren, taten ein Übriges.
Und wie um das Maß vollzumachen schrieb Erich Fromm, daß „traditionelle Klischees wie ‚links‘ oder ‚rechts‘ und ‚Kommunismus‘ oder ‚Kapitalismus‘ ihre Bedeutung verloren haben“ und empfahl eine „neue Orientierung, eine neue Philosophie, die sich nach den Prioritäten des physischen und geistigen Lebens richtet“, weil „die Sehnsucht des Menschen nach dem wirklich Dramatischen, das die Grundlage der menschlichen Existenz anrührt, nicht tot ist …und Menschen nach dem Drama hungern.“21
Marcuse hatte indes auf die an ihn gerichteten Vorwürfe in seinem Essay „Repressive Toleranz“ eine die linksradikalen Studenten verteidigende Antwort gegeben, auf die sich die Aktivisten bei ihren gewalttätigen Aktionen fortan beriefen: „Aber ich glaube, daß es für unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein Naturrecht auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben. Gesetz und Ordnung sind immer und überall Gesetz und Ordnung derjenigen, welche die etablierte Herrschaft schützen; es ist unsinnig an die absolute Autorität dieses Gesetzes und dieser Ordnung denen gegenüber zu appellieren, die unter ihr leiden und gegen sie kämpfen – nicht für persönlichen Vorteil und aus persönlicher Rache, sondern weil sie Menschen sein wollen. Es gibt keinen anderen Richter über ihnen außer den eingesetzten Behörden, der Polizei und ihrem eigenen Gewissen. Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle das Recht, ihnen Enthaltsamkeit zu predigen.“22
Dies war nun in der Tat aus der Feder eines führenden Intellektuellen ein Freibrief, Gewalt anzuwenden, und selbst Max Horkheimer konnte darauf nur noch resignativ reagieren: „Eine herrlich einfache Welt wird da vorausgesetzt ohne den leisesten Hinweis auf die Verkettung von Schuld, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Freiheit und Zwang. Man hat zwar Dialektik studiert, ja, sogar Bücher darüber geschrieben, um jedoch für Intellektualität noch Reklame zu machen, ist nichts trivial genug.“23

Die Kritische Theorie heute …

80 Jahre nach der Gründung des Instituts für Sozialforschung und mehr als drei Jahrzehnte nach der 68er-Revolte hat die Kritische Theorie – trotz oder vielleicht auch gerade wegen der pessimistischen Wende ihrer Väter – nichts von ihrer intellektuellen Strahlkraft eingebüßt. Ihre Enkelschüler haben sich jedoch nicht nur in fanatische Verteidiger der sozialstaatlichen Massendemokratie verwandelt, sondern verkörpern als Kreuzritter der Aufklärung den Weltgeist im Kampfbomber, der wahlweise in Serbien oder im Irak die Zivilgesellschaft und den Werte-Pluralismus herbeibombt. Man suchte das Heil in der Aufklärung, ganz so als hätte es deren mehrhundertjährige Destruktionsgeschichte nicht gegeben und als hätten Horkheimer und Adorno in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ nicht aufgezeigt, daß der Irrationalismus nur die Rückseite der Aufklärungsvernunft ist, und diese ohne jenen also nicht zu haben ist. Wo Adorno aber ganz nahe an die Entschlüsselung des Idealismus und der Metaphysik heranreichte, indem er einen entscheidenden Schritt über die Aufklärung und den traditionellen Marxismus mit seinem kruden Materialismus hinaus tat, ohne sich indes gänzlich aus dessen Denkuniversum zu lösen, rechtfertigen seine Schüler in einem beispiellosen Akt des Verrats und in plump-dreister Selbstrechtfertigung inzwischen jede nur denkbare „zivilisatorische Anstrengung“, bestenfalls als Berater diverser rot-grüner Parteigremien, schlimmstenfalls mit Bomben und Raketen, um solche logischen Produkte der Aufklärung wie Bin Laden und seine Freunde im Sinne des unauflöslichen Bündnisses von Vernunft und Untat zu pazifizieren. Vor derartigen zivilisatorischen Leistungen hätten sich die „Frankfurter“ sicherlich mit Grauen abgewandt.24
Die intellektuelle Neue Rechte in Deutschland hat sich – von wenigen rühmlichen Ausnahmen wie dem Ex-Kommunisten Günter Maschke abgesehen –25 mit der Aufklärungskritik von Horkheimer und Adorno nie rational auseinandergesetzt. Ihre allgemeinen Überlegungen zur Frankfurter Schule und zur Kritischen Theorie entbehren dann auch nicht einer verblüffenden Naivität. Dabei geht es doch keineswegs um eine unkritische Adaption, sondern allein um bestimmte Fragestellungen: Welche Auswirkungen haben die Ideen der Frankfurter auf die politische Entwicklung gehabt und wie sind diese zu bewerten? Wo kann Aufklärungskritik heute ansetzen? Kann die Kritische Theorie eine Erklärung der umfassenden Krise der Gesellschaft und des Menschen leisten? Bedeutet Aufklärung zwingend immer auch Aufklärung der Herrschenden?
Eine neue Rezeption der Kritischen Theorie als Krisentheorie, die das Zerstörungsniveau des herrschenden Systems und die gesamtgesellschaftliche Krise nüchtern und illusionslos analysiert, wäre dann auch kein „Neubeginn“, sondern etwas viel Bescheideneres, nämlich der Versuch, die Köpfe von einem Begriffsgerümpel zu befreien, das unentwegt elitäre Kritikfiguren stilisiert und spielerische Inszenierungen, ironischen Fatalismus und ästhetisierende Bonmots pflegt, anstatt Stereotypen von analytischen Begriffen zu trennen und für ein wenig intellektuelle Unruhe in der fellachisierten und disneyfizierten Aufklärungsmoderne mit ihrem postmodern glitzernden lässigen Werterelativismus und -pluralismus zu sorgen. Daß die Kritische Theorie kaum Trost bringt, dafür aber umso mehr Unbehagen, und man in dem Unbehaglichsten etwas entdeckt, was einen verstummen läßt, Resignation und Bescheidwissen eben, gehört zu den Risiken, die man einzugehen hat, will man die grausame Wahrheit des Politischen enthüllen.

Anmerkungen

1) Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main 1988. Erstveröffentlichung 1947
2) Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt am Main 1992. Erstveröffentlichung 1966
3) Ulrike Migdal: Die Frühgeschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Frankfurt am Main 1981, S. 12
4) Vgl. Lorenz Jäger: Adorno. Eine politische Biographie. München 2003, S. 72/73
5) Ebda. S. 79
6) Erich Fromm: Das jüdische Gesetz. Zur Soziologie des Diaspora-Judentums. Weinheim 1989. S.40
7) Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Frankfurt am Main 1970–1986, Bd. 7, S.117
8) Ebda. Bd. 19
9) Ebda. Bd.18, S. 795
10) Dialektik der Aufklärung
11) Ebda.
12) Wolfgang Kraushaar: Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail. 1946 bis 1995. Chronik. Hamburg 1998, Bd. 1, S. 23
13) Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Frankfurt am Main 1988–1996; Bd. 8, S. 498
14) Ebda. Bd. 14, S. 83
15) (Ohne Autor) Vietnam – ein Vortrag und zwei Briefe, in: Diskus, Frankfurter Studentenzeitung. Nr. 4. Juni 1967; vgl. auch Werner Olles: Prophet der Neuen Linken. Vor 30 Jahren starb der Theoretiker Hans-Jürgen Krahl, in Junge Freiheit 7/2000 v. 11. Febr. 2000
16) Herbert Marcuse: Repressive Toleranz, in: Wolff, Moore, Marcuse: Kritik der reinen Toleranz. Frankfurt am Main 1965
17) Vgl. Frank Böckelmann: Emanzipation ins Leere. Beiträge zur Gesinnungsgeschichte. 1960–2000. Berlin, Wien 2000, S. 96
18) Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Frankfurt am Main 1967
19) Brief von Adorno an Marcuse vom 4. Juli 1969. Herbert Marcuse-Archiv der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main
20) Brief von Adorno an Marcuse vom 6. August 1969
21) Erich Fromm: Die Revolution der Hoffnung. Frankfurt am Main 1968
22) Herbert Marcuse: Repressive Toleranz; vgl auch Werner Olles: Neomarxismus und Philosophie. Marcuse als Ersatzvater für die Kinder der Revolution, in: Junge Freiheit v. 30. Juli 1999
23) Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Bd. 14, S. 163
24) vgl. Werner Olles: Ein Mythos wird entzaubert. Die Chiffre „1986“ dient heute als Herr
schaftsinstrument, in: Junge Freiheit 9/2001 vom 23. Februar 2001
25) Günter Maschke: Sankt Jürgen und der triumphierende Drache. Anläßlich Habermas‘ neuestem Angriff auf Carl Schmitt, in: Günter Maschke: Der Tod des Carl Schmitt. Wien 1987; vgl. auch Günter Maschke: Adorno – Frankfurts sperriger Sohn. Aufruf zu einem kritischen Kongreß. Juni 2003

 

 
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