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Nationalstaaten als Grundlage Europas

Von Wilfried Böhm

Nach zwei Weltkriegen faßte Salvador de Madariaga die Idee vom künftigen Europa in seinem Aufruf zusammen: „Laßt uns ein Europa schaffen, das sowohl sokratisch als auch christlich ist, zugleich zweifelnd und glaubend, erfüllt von Freiheit und Ordnung, von Vielfalt und Einheit.“ Viele Europäer machten sich auf den Weg. Ihr Denken war an der abendländischen Überlieferung und an seiner Vielfalt orientiert. Sie suchten nach Formen der Einheit, die dieser Vielfalt gemäß sind.
Der große Wurf konnte nach dem Ende des Nationalsozialismus nicht gelingen, weil die kommunistische Bedrohung zum Kalten Krieg führte, in dem sich Ost und West jahrzehntelang – hochgerüstet und von Mauern geteilt – gegenüberstanden. Die Kommunisten strebten ideologiebesessen nach dem Sieg des Sozialismus in der ganzen Welt, der Westen zelebrierte den Status quo – seinen eigenen Wohlstand mehrend und seine Freiheit bewahrend. Der Westen gewöhnte sich daran, mit „Europa“ den Bereich der Europäischen Gemeinschaft zu meinen, die sich aus Marshall-Plan, Schuman-Plan und Euratom entwickelt hatte und seit dem Vertrag von Maastricht Europäische Union (EU) genannt wird – jenen Teil Europas also, der in die westlichen Allianzen eingebunden war.
Beide Teile Europas entfremdeten sich in einem halben Jahrhundert des Kalten Krieges. In Antwort auf die zentralistische kommunistische Herausforderung schuf sich der Westen verteidigungspolitisch richtige, notwendige und letztlich erfolgreiche Strukturen. Der Kalte Krieg gestattete nicht die Organisation gesamt
europäischer Vielfalt, sondern erzwang im westlichen – dem direkten kommunistischen Zugriff nicht ausgelieferten – Teil des Kontinents Strukturen und Organisationsformen, die in erster Linie den Notwendigkeiten der militärischen, wirtschaftlichen und sozialen Verteidigung entsprachen. Diese bestimmen noch heute das Denken und Handeln der im Raum Brüssel angesiedelten Institutionen von EU und NATO.
Angesichts der seit dem Zusammenbruch des Ostblocks eingetretenen Veränderung der europäischen Realität und der gleichzeitigen rasanten weltweiten Entwicklungen, die einander bedingen, erscheint dieses Denken und Handeln – nicht nur in der subjektiven Wahrnehmung der Menschen in Europa – im höchsten Maß orientierungslos und führt zu wachsendem Verdruß bei mehr und mehr Bürgern. Der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt beschrieb dies als „Gefühl der Ziellosigkeit, das viele Menschen haben“. Schmidts zusammenfassende Bewertung: „Die EU beschließt zuviel Quatsch“. Als „grotesk“ bezeichnete es der Altkanzler, daß es heute keinen Quadratmeter europäischen Bodens gebe, auf dem nicht irgendwie und irgendwo die Kommission in Brüssel reguliere und bis in die Details hinein mitrede. Das habe zu einem „undurchschaubaren Mischsystem von Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten“ geführt.
Zugleich erhebt diese EU einen mediengestützten Alleinvertretungsanspruch für die Gestaltung der europäischen Zukunft und bezeichnet jede Kritik an ihr als antieuropäisch, nationalistisch oder reaktionär und behandelt sie als schlimmen Verstoß gegen die „politische Korrektheit“. Die Eurokraten verschanzen sich in ihren Brüsseler Papierburgen. Was die Bürger denken, scheint sie kaum zu interessieren.
Das Versagen auf dem Balkan und die unsäglichen Sanktionen gegen Österreich waren zwei Beispiele von Fehlverhalten, die zur Europaverdrossenheit führen. Auch die EU-Reaktionen auf das Votum der Dänen gegen den Euro – mit dem arroganten „Die werden es schon noch lernen“ und „Die Kleinen halten uns nicht auf“ – entlarvten die oft zur Schau gestellte Hypermoral. Hatten doch die medialen Diskussionen nach der dänischen Entscheidung fatale Ähnlichkeiten mit dem einstmals aus dem Ostblock bekannten Ritual, nach dem auf der festen Grundlage der Ideologie verschiedene Aspekte des Themas erörtert, die Grundlage selbst aber nie in Frage gestellt werden durfte. Das aber bedeutet, daß die „Idee Europa“ zu einer „EU-Ideologie“ degeneriert und letztlich in ihr Gegenteil verkehrt wird.
Der Ausweg findet sich in den grundlegenden Gedanken des Spaniers Salvador de Madariaga. Es ist der einzige Weg, der die Zustimmung der Mehrheit der Europäer finden kann, weil er die Rechte der „kleineren Einheiten“ – das Subsidiaritätsprinzip – respektiert. Er bedeutet: Zurück in die Zukunftsfähigkeit Europas, zurück zum demokratischen Nationalstaat als Grundlage europäischer Einheit in Vielfalt.

 
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