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Der Krieg, den keiner wollte

Von Stephan Baier

Vor 90 Jahren stolperte Europa in den Ersten Weltkrieg. An dessen Folgen leiden seine Völker bis heute, denn auch das von Präsident Wilson proklamierte „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ wurde nie verwirklicht. Begonnen hatte alles am Sankt-Veits-Tag, dem Schicksalstag der Serben.

Der „Vidov dan“, der Sankt-Veits-Tag, ist ein mythenschwerer Tag: Am „Vidov dan“, dem 28. Juni des Jahres 1389, standen sich auf dem Amselfeld, dem „Kosovo polje“, die Truppen des serbischen Fürsten Lazar und des osmanischen Sultan Murad I. gegenüber. 34 Jahre nachdem die Osmanen die Dardanellen überschritten hatten, forderte der Sultan nach seinen Siegen in Bulgarien das christliche Fürstentum Serbien heraus. Als Überläufer getarnt, schlich sich der Serbe Milos Obilic ins türkische Lager ein und erdolchte den Sultan. Dennoch verloren die Serben die Schlacht gegen die osmanische Übermacht – und damit für mehrere Jahrhunderte ihre Unabhängigkeit.
Die Schlacht auf dem „Kosovo polje“ wurde zu „Serbiens Golgatha“ stilisiert, zum Mythos der serbischen Identität. In der Dichtung „Testament vom Kosovo“ wird geschildert, wie der Prophet Elias in Gestalt eines grauen Falken von Jerusalem nach Serbien flog, um Fürst Lazar vor die Wahl zwischen einem himmlischen und einem irdischen Reich zu stellen. Lazar wählte das himmlische und nahm damit die Niederlage gegen die Türken als Opfer auf sich. So wurde aus dem serbischen Volk ein „nebeski narod“, das „himmlische Volk“, aus den Rittern Lazars wurde im Mythos ein Heer von heiligen Märtyrern.
525 Jahre später: Wieder war es ein „Vidov dan“, der 28. Juni des Jahres 1914. Sechs junge serbische Nationalisten im Dienste des großserbischen Geheimbundes „Crna Ruka“ (Schwarze Hand) haben sich in der bosnischen Metropole Sarajevo postiert. Die „Crna Ruka“ hatte bereits 1903 den serbischen König Alexander Obrenovic, seine Frau Draga, ihre Brüder, den Ministerpräsidenten und den Verteidigungsminister Serbiens grausam ermordet, und so den Thron für die Dynastie Karadjordjevic frei gemacht. Der Führer jenes Blutbads war der damals 26jährige Dragutin Dimitrijevic, genannt „Apis“. Er warb später als Chef des serbischen Heeresgeheimdienstes und Kopf der „Schwarzen Hand“ in Belgrad junge Serben aus Bosnien an: darunter Gavrilo Princip, Trifko Grabez und Nedjelko Cabrinovic, die mit Pistolen und Handgranaten ausgestattet wurden.
In einem verdunkelten Raum hatten die künftigen Attentäter vor Kreuz, Revolver und Messer einen theatralischen Eid abzulegen: „Ich schwöre bei der Sonne, die mich wärmt, bei der Erde, die mich ernährt, bei Gott, bei dem Blute meiner Väter, bei meiner Ehre und bei meinem Leben, daß ich von diesem Augenblick an bis zu meinem Tode dieser Organisation treu dienen und immer bereit sein werde, für sie alle Opfer zu bringen.“

Schicksalstag Vidov dan

Am 28. Juni 1914 war es so weit: Die Attentäter warteten in den Straßen Sarajevos. Ihr Ziel war der Thronfolger Österreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand. Im offenen Wagen fuhren der Thronfolger und seine Gattin zum Rathaus von Sarajevo, das seit 1908 zur Habsburger-Monarchie gehörte. Cabrinovic warf eine Handgranate, die hinter dem Wagen explodierte. „Da kommt man zu Besuch, und wird mit Bomben empfangen“, schimpfte Franz Ferdinand wenige Minuten später vor dem Bürgermeister. Kurz darauf war die Wagenkolonne wieder unterwegs. Als sie bei der Latinski Most, der Lateinischen Brücke, falsch abbog, feuerte Gavrilo Princip zwei Schüsse auf das hohe Paar ab. Die erste Kugel traf die Gattin, Sophie von Hohenberg, die zweite den Thronfolger.
Über die Hintergründe wie über die Folgen jenes Doppelmordes, der am Beginn des Ersten Weltkriegs stand, ist viel spekuliert worden. Heute ist unbestreitbar, daß „Apis“ der Drahtzieher des Attentats war, und daß die serbische Regierung über die Ziele der „Schwarzen Hand“ genaue Kenntnis hatte. Es war kein Zufall, daß die Regierung in Belgrad einen Punkt der „Begehrnote“ Österreich-Ungarns ablehnte, nämlich die Teilnahme österreichischer Detektive bei der Aufhellung der Belgrader Hintergründe des Attentats.
Und es ist wohl auch kein Zufall, daß sich der serbische Regent und spätere König Alexander Karadjordjevic der „Schwarzen Hand“ radikal entledigte: Es kam zum Schauprozeß, bei dem jedoch alle ausländischen Aktivitäten des Geheimbundes sorgsam verschwiegen wurden. Wegen eines innerserbischen Putschversuchs wurden „Apis“ und die Seinen 1917 in einem Steinbruch bei Saloniki erschossen. Die Belastungszeugen für den Mord von Sarajevo waren liquidiert. An die Stelle der „Schwarzen Hand“ trat als neues, brutales Instrument der serbischen Geheimpolitik die „Bela Ruka“, die „Weiße Hand“.
Auch die Motive der großserbischen Nationalisten sind klar: Gavrilo Princip, der in der Kerkerhaft in Theresienstadt starb, hatte als Motiv genannt, daß Franz Ferdinand den Slawen durch seine Reformen Schaden zugefügt hätte. Tatsächlich hatte der Thronfolger richtig erkannt, daß den slawischen Völkern der Monarchie – insbesondere in der ungarischen Reichshälfte – zu viele Rechte vorenthalten wurden. Sein Vorhaben, die Südslawen und die Tschechen in der Habsburger-Monarchie den Deutschen und Ungarn gleichzustellen, hätte die bipolare Donaumonarchie zu einer Föderation von Völkern umgewandelt. Dadurch wäre den nationalistischen Bestrebungen die Spitze genommen worden. Genau deshalb aber fürchteten die Nationalisten den Thronfolger. Nicht als Feind, sondern als Freund der Slawen geriet er ins Fadenkreuz der großserbischen Verschwörer.
Europa schlitterte 1914 in einen Weltkrieg, den niemand wollte. „In Europa gehen die Lichter aus“, sagte der britische Außenminister Grey prophetisch. Wie aus der Satisfaktion fordernden Begehrnote Wiens an Belgrad ein jahrelanges, Millionen Menschenopfer forderndes Völkerringen wurde, ist von der historischen Wissenschaft seit Jahrzehnten beleuchtet, erforscht und diskutiert worden. Weniger aber der geistesgeschichtliche Hintergrund, der jedoch zugleich mehr Folgewirkungen gebar. Es war die Ideologie des Nationalismus, die von Frankreich ab 1789 ausgegangene Vision, ganz Europa in Nationalstaaten – Staaten einer Sprache, eines Blutes oder einer Rasse – einzuteilen. Diese historisch eher junge, nationalstaatliche Idee eroberte im 19. Jahrhundert auch Mitteleuropa und den Balkanraum. Bismarck und Garibaldi schufen den deutschen beziehungsweise den italienischen Nationalstaat. In Südosteuropa rangen Serben, Makedonen, Bulgaren und Griechen nach Jahrhunderten osmanischer Herrschaft um nationale Selbstverwirklichung.

Österreichs Sendung

In diesem Europa der Nationalstaaten schien die übernationale Habsburger-Monarchie ein Anachronismus zu sein. Treffender als die Historiker hat der aus dem extremen Osten der Donaumonarchie, aus dem von Ukrainern, Polen, Deutschen, Russen und Juden bewohnten Galizien stammende Schriftsteller Joseph Roth diesen Kontrast geschildert. In seinem Roman „Radetzkymarsch“ schrieb er: „Die Zeit will uns nicht mehr! Diese Zeit will sich erst selbständige Nationalstaaten schaffen! Man glaubt nicht mehr an Gott. Die neue Religion ist der Nationalismus. Die Völker gehen nicht mehr in die Kirchen. Sie gehen in nationale Vereine. Die Monarchie, unsere Monarchie, ist gegründet auf der Frömmigkeit: auf dem Glauben, daß Gott die Habsburger erwählt hat, über so und so viel christliche Völker zu regieren. Unser Kaiser ist ein weltlicher Bruder des Papstes, es ist seine K.u.K. Apostolische Majestät, keine andere wie er apostolisch, keine andere Majestät in Europa so abhängig von der Gnade Gottes und vom Glauben der Völker an die Gnade Gottes. Der deutsche Kaiser regiert, wenn Gott ihn verläßt, immer noch; eventuell von der Gnade der Nation. Der Kaiser von Österreich-Ungarn darf nicht von Gott verlassen werden. Nun aber hat ihn Gott verlassen.“

Kein Selbstbestimmungsrecht der Völker

Die unmittelbaren Folgen des Weltkriegs sind bekannt: Die Donaumonarchie, diese letzte Bastion des mittelalterlichen Reichsgedankens, wurde zerschlagen. An ihre Stelle traten Kleinstaaten, die sich beim Ansturm der braunen und der roten Flut 1938/39 als nicht lebensfähig erwiesen. Willkürlich gezogene Grenzen schufen neue Kunststaaten: Die Tschechoslowakei als vermeintlichen Nationalstaat der Tschechen und Slowaken, in dem aber auch Millionen von Deutschen und Ungarn sowie Ruthenen und Juden lebten; ein um zwei Drittel seines Staatsgebietes dezimiertes Ungarn; das „Kö nig reich der Serben, Kroaten und Slowenen“, in dem die Albaner und Makedonen von Anfang an unterdrückt wurden, und das schon bald zu einer zentralistischen serbischen Königsdiktatur mutierte. Die Südtiroler kamen ebenso unter eine nationalistische Fremdherrschaft wie Millionen von Ukrainern, Ungarn oder Deutschböhmen. Aus einstigen Staatsvölkern wurden nationale Minderheiten.
Das vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson im Januar 1918 proklamierte „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ wurde in der Zerschlagung Österreich-Ungarns und der Neuordnung Mitteleuropas nicht verwirklicht, sondern mit Füßen getreten. Gleichzeitig wurden Ungarn mit dem Vertrag von Trianon, Deutschland mit dem Vertrag von Versailles schwer verletzt und gedemütigt. Im Gegensatz zum Wiener Kongreß, der am Ende der Napoleonischen Kriege mit seiner Friedensordnung die Grundlagen für eine jahrzehntelange friedliche Entwicklung legte, wurde durch die Pariser Vorortverträge des Jahres 1919 das Fundament für weiteres Unglück gelegt. Mit dem Ende Österreich-Ungarns, des russischen Zarenreiches und des Osmanischen Reichs war – in der Sprache ihrer Gegner formuliert – das Zeitalter der Feudalherrschaft endgültig zu Ende.
Die stärksten unter den „modernen“ Ideen, die Europa am Ende des Ersten Weltkriegs beherrschten, waren der Kommunismus und die zahlreichen Nationalismen. Diese Ideologien stürzten Europa in die größten Dramen seiner Geschichte: in Rassenwahn und Klassenhaß, in Bürgerkriege und Schauprozesse, in den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg, in Gulag und Konzentrationslager, in Vertreibungen und ethnische Säuberungen.
Am „Vidov dan“ des Jahres 1987 rief Slobodan Milosevic unter ausdrücklicher Berufung auf die Mythen des Amselfelds zum Aufstand der Serben gegen die albanische Mehrheit des Kosovo auf. Die Autonomie des Kosovo endete, und das großserbisch motivierte Morden im Kosovo, in Kroatien und Bosnien-Herzegowina begann von neuem. Und wer den Balkan heute unter die Lupe nimmt, der muß traurig erkennen, daß die blutigen Mythen von Fürst Lazar bis zur „Schwarzen Hand“ noch immer lebendig sind. Auch wenn in Sarajevo die in den Beton gegossenen Fußspuren des Gavrilo Princip verschwunden sind und ihn kein Museum an der „Latinski Most“ mehr als Freiheitshelden ehrt: Der Ungeist, der ihn trieb, lebt noch immer.

 
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