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Wirklicher oder absoluter Feind?

Von Jürgen Schwab

„Völkerrecht“ ist heute zu einer beliebigen, dem ursprünglichen Sinn nach verfälschten Vokabel verkommen. Das „internationale Recht“ der Vereinten Nationen, das den Krieg aus nationalem Interesse ächtet, wird meist synonym zu „Völkerrecht“ verwendet, so daß die Gegensätzlichkeit beider Ordnungsmodelle verschleiert wird.

Das Recht der Völker bestand einmal im Zeitalter des Jus Publicum Europaeum (16. bis 19. Jahrhundert) in der gegenseitigen Anerkennung europäischer Souveräne als Rechtspersonen. Jeder Herrscher gestand dem anderen das Recht auf Eigenstaatlichkeit und Kriegsführung zu. „Recht“ wurde hierbei nicht im eigentlichen, nämlich innerstaatlichen Rechtssinne verstanden, sondern lediglich als Ehrenkodex des europäischen Hochadels im zwischenstaatlichen Verkehr. Während der Staat im Regelfall sein Recht mittels Gericht und Polizei durchsetzen kann, ist diese Möglichkeit auf internationaler Ebene nicht gegeben. Man kann Slobodan Milosevic und Saddam Hussein vor das Tribunal in Den Haag zwingen, nicht aber George W. Bush. Der „Rechts“-Begriff führt deswegen in der internationalen Politik, auch wenn er sich nicht ganz vermeiden läßt („Völkerrecht“), zur Verwirrung. Darauf hat bereits Hegel 1821 in seiner Rechtsphilosophie hingewiesen.
Indem im Jus Publicum Europaeum jeder souveräne Staat zugunsten eigener nationaler Interessen Krieg führen durfte, hatte sich die noch im Zeitalter der Res publica Christiana (europäisches Mittelalter) anzutreffende Unterscheidung von gerechtem und ungerechtem Krieg erledigt, da nunmehr alle europäischen Kriege – aus welchem nationalen Interesse auch immer – als berechtigt galten. Der Feind wurde nun zum justus hostis. Wenn der potentielle Feind rechtmäßig ist, gesteht man ihm sogar das Recht zu, aus nationalem Interesse Krieg gegen einen selber zu führen. Dabei handelt es sich nach Carl Schmitt um einen wirklichen Feind, der sich von einem absoluten Feind, den man zu vernichten gedenkt, fundamental unterscheidet. Absolute Feindschaft, auch heute im sogenannten „Kampf der Kulturen“ (Samuel Huntington) kann nur durch die Bereitschaft und Fähigkeit, die Rechtmäßigkeit seines potentiellen Feind als gegeben (als "wirklich") anzuerkennen, überwunden werden. Dazu ist freilich die entsprechende geistesgeschichtliche Überlieferung unabdingbar, die auf das Jus Publicum Europaeum  Bezug nimmt.
Dieses europäische Zivilisationsniveau ermöglichte die Hegung des Krieges. Beim ‚Sport der Könige’ war es moralisch nicht mehr statthaft, den unterlegenen Feind staatlich oder einzeln zu diskriminieren. Dies betraf den Umgang mit Zivilisten, Kriegsgefangenen, Verwundeten und besiegten Staatsführern. Die Haager Landskriegsordnung von 1907 ließ diese Kriegskultur ein letztes Mal aufleben, obwohl sie schon keine rein europäische Übereinkunft gewesen war. Mit der Völkerbundsatzung und den Pariser Vorortverträgen von 1919 fand dieser „Nomos“ (Carl Schmitt) sein Ende. Seitdem werden wieder verstärkt Kriege geführt, um den Feind staatlich, ja physisch vernichten zu können. Im besetzten Irak bietet sich uns heute ein Beispiel für diese überwundene Hegung des Krieges.
Das Ziel von George W. Bush bestand darin, die irakische Souveränität auszulöschen, was ihm zweifellos gelungen ist. Zu Beginn des anglo-amerikanischen Feldzuges sprach der Texaner davon, den vermeintlichen Unterschlupf von Terroristen (Al Qaida) „ausräuchern“ zu wollen – wie man eben als privater Hausbesitzer den städtischen Kammerjäger zur Ungezieferbekämpfung ruft. In diesem Sinne ist nur der eigene Krieg gerecht, die verzweifelte Gegenwehr des Feindes ungerecht. Mit dem Ungerechten darf der Sieger ohnehin machen, was er will: verhaften, foltern, demütigen und wirtschaftlich ausplündern. Somit sieht sich auch der ‚ungerechte’ Feind gezwungen, regellos zu kämpfen.
Im besiegten Irak haben die USA nun endlich den ihnen adäquaten Feind gefunden, für den – geistesgeschichtlich bedingt – „Völkerrecht“ (im europäischen Sinne) ebenso ein Fremdwort ist wie für die Herren Bush, Blair und Scharon. Vor laufender Kamera werden nun Geißeln die Köpfe abgeschnitten und, wie im April dieses Jahres im irakischen Falludscha, Leichen verstümmelt, geröstet, durch die Straßen geschleift und auf Brückengeländern zur Schau gestellt. Der Mensch ist eben auch ein Unmensch – gerade im Zeitalter der Menschenrechte, in dem nur Menschen, aber keinen Völkern in ihrer staatlichen Unabhängigkeit und kulturellen Verschiedenheit Rechte zugestanden werden.
Doch es gibt auch Gutes zu berichten. So informiert die nordfranzösische Zeitung L’Observateur du Cambrésis am 17. Juni 2004 ihre Leser darüber, daß bei Ausgrabungsarbeiten in der Umgebung von Cambrai vier Leichen deutscher Soldaten des Ersten Weltkrieges gefunden wurden. Zwei davon wurden bereits identifiziert: Heinrich Myrthe und Hermann Wittig aus dem Ruhrgebiet. Eine britische Artillerie-Granate hatte die vier Soldaten in ihrer Stellung an der Hindenburg-Linie getroffen. Davon zeugen Granatsplitter, welche die Archäologen nebst Gasmasken, Helmen, zwei Dienstmarken, Eßbesteck, Knöpfen, Stiefeln, Brotresten, Tinte und Schreibgriffel gefunden haben. Der für sie verhängnisvolle Angriff dürfte sich zwischen dem 8. und 15. September 1918 ereignet haben. So das Untersuchungsergebnis der französischen Archäologen.
Uns soll allerdings an dieser Stelle nicht die militärgeschichtliche Einordnung dieses Vorfalls interessieren, sondern vielmehr die völkerrechtliche Dimension. Es ist schon bemerkenswert: Sorgsam sammeln die französischen Archäologen die sterblichen Überreste des ehemaligen ‚wirklichen’ Feindes, der hier deutlich als Rechtsperson spürbar wird. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Kassel wurde verständigt, eine feierliche Bestattungsfeier auf einem deutschen Soldatenfriedhof anberaumt. In dem Zeitungsartikel ist auch ausdrücklich die Rede von der letzten Ehrerbietung („dernier hommage“), die man den vier Deutschen zukommen lassen möchte.
Als Fazit bleibt: Was kürzlich in Nordfrankreich zusammengefügt wurde – vom gegenseitigen Respekt europäischer Nationen bis hin zu den sterblichen Überresten ihrer gefallenen Soldaten – wird im Irak, aber auch in Palästina bewußt auseinandergerissen. Dort wird der Feind selbst als gefangener, gar als getöteter noch diskriminiert. Krieg ist dort nur ein Synonym für Haß und Vernichtungswut. Die Europäer sollten deshalb diese Tragödie, die sich ihnen auf den Mattscheiben präsentiert, mit Abscheu zur Kenntnis nehmen und militär-, bevölkerungs- und kulturpolitisch alle Vorkehrungen dafür treffen, daß diese, aus unserer eurozentristischen Sichtweise niedere geistige Entwicklungsstufe westlicher wie östlicher Version, konsequent aus Europa ausgegrenzt wird. Das gemeinsame europäische Ziel sollte – mit den Worten Carl Schmitts – in der Schaffung einer europäischen, „völkerrechtlichen Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ bestehen.

 
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