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Das Reich - Europas Zukunft?

Von Karl Richter

Warum wir noch lange nicht mit der Reichsidee fertig sind

Seit der Nummer I/03 lädt die „Neue Ordnung“ junge Publizisten ein, über die Frage, welche Aktualität die Reichsidee heute noch hat, nachzudenken. Während in der letzten Nummer Jürgen Schwab die so unterschiedlichen Reichskonzepte der deutschen Geschichte thematisierte und über eine völkerrechtliche Großraumordnung zwischen Lissabon und Wladiwostok nachdachte, versucht der Autor dieses Beitrags, die konstituierenden Grundzüge jedes europäischen Reichsgedankens herauszuarbeiten, gerade auch im Widerspruch zu den Konzepten der EU und des amerikanischen Imperialismus. Alle Artikel zur Reichsidee, auch die schon in den letzten Jahren publizierten, sind auf unserer Internet-Seite unter www.neue-ordnung.at einzusehen.

Im Frühjahr 2002, ein halbes Jahr nach den Anschlägen vom 11. September, veröffentlichte Peter Rosen, Direktor eines der zahlreichen neokonservativen „think-tanks“ in den USA, im renommierten „Harvard-Magazine“ einen außenpolitischen Grundsatzbeitrag. Spätere Historiker werden ihn womöglich einmal als zentralen Quellentext für die Geschichte des 21. Jahrhunderts betrachten, weil er ebenso programmatisch wie schnörkellos die neue amerikanische Sicht auf die Welt wiedergibt. In der Bundesrepublik wurde der Text vom ehemaligen SED-Organ „Neues Deutschland“ dokumentiert. Rosen schreibt:
„Die Vereinigten Staaten haben keinen Rivalen. Militärisch beherrschen wir die Welt. (…) Wir nutzen unsere militärische Vormachtstellung, um uns in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einzumischen, weil deren Einwohner einander umbringen, diese Länder Feinden der Vereinigten Staaten Zuflucht bieten oder atomare oder biologische Waffen entwickeln.
Eine politische Einheit, die eine überwältigende militärische Überlegenheit besitzt und diese benutzt, um die inneren Verhältnisse anderer Staaten zu beeinflussen, wird ‚Empire‘ genannt. Da es den Vereinigten Staaten nicht darum geht, nationales Hoheitsgebiet unter die eigene Herrschaft zu bringen oder die Bürger des Empire außerhalb der USA zu regieren, sind wir gewiß ein indirektes Empire, aber dennoch ein Empire. Wenn dies zutrifft, dann ist unser Ziel nicht der Sieg über einen Rivalen, sondern die Aufrechterhaltung unserer imperialen Stellung und der imperialen Ordnung. (…)
Die eigene Kraft kann und sollte aus psychologischen Gründen mit äußerster Härte und so schnell wie möglich eingesetzt werden, um zu demonstrieren, daß bestraft wird, wer das Empire herausfordert. (…) Schließlich konzentriert sich die imperiale Strategie darauf, zu verhindern, daß mächtige Feinde heraufwachsen, die das Empire bedrohen: wenn nötig, durch Krieg, wenn möglich, durch imperiale Assimilierung.“
Man muß solche Äußerungen ernstnehmen, nicht nur, weil die gegenwärtige amerikanische Weltpolitik unter George W. Bush ihre Vorgaben wortwörtlich bestätigt, sondern auch, weil das „Empire“ zur fixen Idee der neokonservativen Washingtoner Hintergrund-Szene geworden ist. Texte wie der zitierte stehen längst nicht mehr vereinzelt da. Falludscha hin, Nadschaf her: Amerika meint es ernst.
Und hat dabei wieder einmal alles falsch verstanden, was man nur falsch verstehen kann. Rosens imperiale Verlautbarung stünde einem Hollywood-Streifen wie „Star Wars“ oder jedem beliebigen Sandalenfilm der fünfziger oder sechziger Jahre gut an. Mit ihren historischen Vorbildern hat sie ungefähr so viel gemein wie Richard Burton mit Marc Anton. Umso mehr macht der unbekümmerte imperiale Gestus der Washingtoner Machtelite staunen. Er ist nämlich auf völlig unhistorische Weise historisch stimmig.
Es ist immer wieder darauf hingewiesen worden, die Amerikaner seien so etwas wie die Römer der Neuzeit. Richtig ist immerhin, daß sich die USA auf dem internationalen Parkett von jeher genau so skrupellos, machtbewußt und unbekümmert um internationale Verträge benehmen wie ehedem die Römer im Biotop der antiken Welt. Man muß nur an die verbrecherische und allen geltenden Verträgen zuwiderlaufende Eroberungspolitik Caesars in Gallien denken, die zwar vom Senat aufs heftigste kritisiert wurde, Rom aber unter dem Strich einen gewaltigen territorialen Zuwachs einbrachte.
Auch die Unversöhnlichkeit Roms im Umgang mit seinen Feinden erinnert auf handgreifliche Weise an amerikanische Gepflogenheiten: die Auslöschung Karthagos im Jahre 146 v. Chr., herbeiprovoziert durch einen nichtigen Anlaß, nimmt auf bestürzende Weise die Vernichtung Hiroshimas und Nagasakis im August 1945 vorweg, als die militärische Niederlage Japans längst ausgemacht war. Als spätgeborener Betrachter muß man es vermutlich bei der nüchternen Einsicht bewenden lassen, imperiale Größe wurzle per se im skrupellosen Gebrauch der eigenen Macht.
Dabei kennt die Geschichte auch andere Vorbilder, an denen sich amerikanische Macht-Denker am Beginn des 21. Jahrhunderts – theoretisch – orientieren könnten. Daß sie es nicht tun, läßt tief blicken und die Welt nichts Gutes erwarten.

Das Heilige Römische Reich  deutscher Nation

Das römische Imperium währte, seine republikanische Vorgeschichte nicht eingeschlossen, viereinhalb Jahrhunderte, von Augustus bis zur Machtübernahme durch den Germanen Odoaker im Jahre 476. Weitere rund eineinhalb Jahrtausende, bis zum Jahre 1806, existierte das Imperium formal weiter, unter christlichem Vorzeichen und im Zuge der sogenannten „translatio Imperii“ übergegangen auf die Deutschen als tragendes Volkstum.
Allerdings sind die damit einhergehenden Wandlungen sowohl des Reichsgedankens wie der Reichswirklichkeit von derart fundamentaler Natur, daß man mit dem historischen Befund schon sehr großzügig umgehen muß, um auf der vielbeschworenen römisch-germanischen bzw. römisch-deutschen Kontinuität zu beharren. Diese war zwar Bestandteil der mittelalterlichen Kaiserprogrammatik, die den Bezug zum heidnischen Imperium durch diverse Erneuerungsversuche (renovatio Imperii) herzustellen bemüht war; faktisch jedoch ruhte das mittelalterliche Reich auf einem völlig anderen Fundament als das antike.
Während sich das römische Imperium als Weltreich verstand und damit das historische Erbe anderer berühmter „Weltreiche“ der Antike übernahm, etwa des persischen und des babylonischen, kam das mittelalterliche Reich über die programmatische Formulierung des Universalitätsanspruches nicht mehr hinaus. Das römische Imperium umschloß mit seinen Grenzen tatsächlich weite Teile der bekannten antiken „Ökumene“, der bewohnten Welt. Dies gelang dem mittelalterlichen Reich bestenfalls in Ansätzen. Während den westeuropäischen Königtümern gegenüber, die ehedem ebenfalls Bestandteile des Imperium Romanum gewesen waren, zur Not noch formaler Vorrang beansprucht werden konnte, blieben andere Domänen des römischen Reiches dauerhaft ausgeschlossen, so etwa der ganze byzantinische Osten und die inzwischen an den Islam gefallenen Gebiete rund um das Mittelmeer.
Dennoch blieb der theoretische Weltreichs-Anspruch während des gesamten Mittelalters wirksam. Er war Teil der christlichen Mitgift, die dem fränkischen, später deutschen Reich im Zuge der „translatio“ zuwuchs. Man erinnert sich: nachdem sich das Frankenreich im siebten und achten Jahrhundert als stärkste christliche Macht im unruhigen europäischen Völkergemenge hatte etablieren können, empfahl es sich dem römischen Papsttum dadurch von selbst als realpolitische Schutzmacht. Denn der Papst besaß schon damals, worauf sich im Zweiten Weltkrieg Stalins höhnische Frage bezog, keine eigenen „Divisionen“. Stets gefährdet vom stadtrömischen Pöbel, durch örtliche Potentaten und selbst durch die Sarazenen, bedurfte das Papsttum eines weltlichen Arms zu seinem Schutz.
In der berühmten Szene am Weihnachtstag des Jahres 800 war es dann so weit: der Frankenkönig Karl wurde vom römischen Papst zum ersten „Kaiser“ gekrönt. Damit war fortan jeder deutsche König Schutzherr des Papsttums, vorausgesetzt, er ließ sich in Rom krönen. In der sich formierenden christlichen Welt des Mittelalters bedeutete dies einen ungeheuren Zuwachs an Autorität gegenüber allen anderen christlichen Herrschern: der Kaiser, den die Deutschen stellten, war fortan oberster Schutzherr der Christenheit. Ihm oblag es, die Grenzen des christlichen Erdkreises auszudehnen und die Völker zum wahren Glauben zu bekehren, bis Christus selbst am Ende der Zeiten die Herrschaft antreten würde.
Ein Wesensmerkmal des mittelalterlich-deutschen Reiches wird darin deutlich: das christlich fundierte Imperium der Deutschen verdankte sich göttlich-spirituellem Auftrag, nicht irdischem Eroberungswillen wie das römische. Die deutschen Könige, die durch ihre Krönung von der Hand des Papstes in ihr Kaiseramt hineinwuchsen, wurden dadurch zu Trägern und Wahrern der göttlichen Ordnung im Diesseits: realpolitische Handlungsträger und gleichzeitig unendlich viel mehr als „nur“ Völkerführer im irdisch-politischen Sinne.
Diesem halbmythischen, ins Transzendente reichenden Tiefengrund verdankte das deutsche Kaisertum seine Stellung im Kosmos der mittelalterlichen Menschheit. Von den Trägern der Reichsgewalt selbst, den deutschen Königen, wurde sie bald stärker, bald schwächer empfunden und zur Geltung gebracht; am stärksten und in programmatisch zugespitztester Form von den aus dem Schwäbischen stammenden Staufern (Ghibellinen), die knapp eineinhalb Jahrhunderte lang die Geschicke des Reiches lenkten.
Tiefer blickende Zeitgenossen wie etwa Walter von der Vogelweide waren sich über den universalen Charakter des Reiches im klaren, der zur territorialen Interessenpolitik der sich formierenden nationalen Königreiche im Westen in klarem Gegensatz stand. Während etwa in Südfrankreich die Albigenserkriege tobten, die sowohl in religiöser wie in kultureller Hinsicht auf eine barbarische Homogenisierung in den betroffenen Gebieten hinausliefen, zelebrierte der Staufer Friedrich II. im sizilischen Königreich einen imperialen Musterstaat, der als modernste und zugleich humanste Staatsschöpfung des Mittelalters gelten kann.
Seine tragende Idee war die des christlichen Reiches, das ebenso übernational wie überzeitlich war. Nationale Exklusivität war kein Wesenszug des „deutschen“ Kaisertums, sehr wohl dagegen seine transzendente Grundierung, die ihm gleichzeitig eine heilsgeschichtliche, endzeitliche Funktion verlieh. So wurde aus dem Regnum Teutonicum, dem Reich der Deutschen, mit den Jahrhunderten das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Anders als die Nationalstaaten des Westens wurde es niemals in seiner Geschichte zum Schauplatz völkischer Gleichschaltung.
Friedrich II. (1194 – 1250), die faszinierendste Gestalt der deutschen Kaisergeschichte, war polyglott und in Glaubensdingen tolerant bis zur Ketzerei. Seine sizilische Leibwache bestand aus Sarazenen. Seinen Gegnern, vor allem dem Papsttum, dem der staufische Weltkaiser allzu souverän wurde, machte es Fried rich leicht, ihn zum „Antichristen“ zu stempeln; allzu weit eilte die ghibellinische Reichsidee der Wirklichkeit seiner Zeit voraus.
Mitwelt und Nachwelt ahnten, daß der Niedergang der Staufer einer Epochenwende gleichkam. Schon den Zeitgenossen fiel es schwer, sich mit dem Tod Friedrichs abzufinden, weshalb ihn die Volksphantasie in den Ätna versetzte, von wo er dereinst, am Ende der Tage, als „dritter Friedrich“ wiederkommen werde. Der Mythos vom Kaiser im Berge traf sich mit christlichen Endzeiterwartungen einerseits, germanischer Überlieferung andererseits und beschäftigte die nationale Prophetie der Deutschen noch nach Jahrhunderten; an die Stelle des zweiten trat später sein Großvater Friedrich I. (Barbarossa). In der einen wie in der anderen Variante belegt die Sage, daß das Reich in der Vorstellung der Menschen etwas Heiliges blieb, das in Wahrheit niemals untergehen konnte und am Ende der Zeiten unmittelbar die Herrschaft Christi einleiten werde.
Gerade Friedrich II., dem die überzeitliche Sendung des Reiches deutlicher bewußt sein mochte als den meisten anderen Trägern der Kaisergewalt, wob nach Kräften am Nimbus der imperialen Unvergänglichkeit. Der achteckige Grund riß seines Jagdschlosses Castel del Monte bei Foggia mutet bis heute rätselhaft an und kann doch unschwer als steingewordenes Emblem der Reichsidee gedeutet werden; denn bereits die um das Jahr 1000 angefertigte Reichskrone weist exakt den gleichen unverwechselbaren Achteck-Grundriß auf. Man kann es nur so deuten, daß dem Reich in Fried rich der souveränste, seiner Sendung bewußteste Lenker erwuchs.
Der Kampf, den das Papsttum im Verein mit wechselnden Handlangern gegen die Staufer führte, wurde deshalb mit der ganzen Erbitterung eines weltanschaulichen Vernichtungskrieges geführt. Noch heute klingt die Ausrottungspolemik, die sich die päpstliche Seite in der Auseinandersetzung mit Friedrich und seinen Erben zueigen machte, ausgesprochen widerwärtig; und die Hinrichtung des letzten Staufers, Konradins, der 1268 noch einmal den Versuch unternahm, das Ghibellinenreich im Süden aufzurichten, war ein ausgemachter Justizmord. Mit den Staufern sollte Blut und Seele des Reiches ausgelöscht werden.
Die Rechnung ging auf, denn auf die Staufer folgten Jahrhunderte einer richtungs- und phantasielosen Heirats- und Hausmachtpolitik, die nie wieder den idealen Schwung der ghibellinischen Ära erreichte. Unter Habsburgern und Luxemburgern verkam das Reich zum Schauplatz rein dynastischer Machtfehden; soziale Unruhen, äußere Bedrohungen wie die Hussiten- und die Türkengefahr und im 16. Jahrhundert die Glaubensspaltung taten ihr Übriges, um die Agonie zum Dauerzustand zu machen. Nur formal war das Reich noch am Leben. Doch seine Handlungsfähigkeit sollte es nie wieder zurückerlangen, bis endlich Napoleon dem Siechtum ein Ende machte.

Drei Reiche ohne Transzendenz

Bekanntlich kennt die deutsche Geschichte noch mindestens drei weitere Reichsentwürfe: den österreichischen nach 1806, den kleindeutschen zwischen 1871 und 1918, den nationalsozialistischen nach 1933. Alle drei Reichs-Modelle waren von vergleichsweise kurzer Lebensdauer und muten wie „abgespeckte“ Varianten des alten Reiches an. Denn jedes zeichnete sich dem mittelalterlichen Urbild gegenüber durch ganz spezifische Defizite aus:
lDem österreichischen Reich, das sich 1867 zur österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie wandelte, fehlte die unbestrittene deutsche Dominanz des ersten Reiches. Es umfaßte an deutschen Volksteilen nur die Deutsch-Österreicher sowie die deutschsprachigen Bevölkerungssplitter in den verschiedenen Kronländern. Das war, wie sich bis 1918 zeigte, zu wenig, um die Monarchie auf Dauer zusammenzuhalten, und es war erst recht zu wenig für ein „deutsches“ Reich. Am Ende bekamen die nationalen Zentrifugalkräfte die Oberhand.
lDas Bismarck-Reich nach 1871 war zwar ein funktionsfähiger Nationalstaat im Stil der Zeit, aber eben auch nicht mehr. Es war noch nicht einmal das Reich aller Deutschen, denn es schloß die Deutsch-Österreicher aus. Die Beschränkung auf den kleindeutschen Nationalstaat beraubte das Reich jeder Universalität, die es in den unruhigen Jahrzehnten nach seiner Errichtung zu einem ernstzunehmen ordnungspolitischen Kraftfeld für Mittel- und Ostmitteleuropa hätte machen können. Doch dazu fehlte es im wilhelminischen Beamtenapparat an Gespür und jener Erfahrung im Umgang mit nationalen Minderheiten, über die die k.u.k.-Monarchie sehr wohl verfügte. Selbst in überschaubaren ethnisch-nationalen Mischbiotopen wie Posen oder Elsaß-Lothringen scheiterte die Berliner Verwaltung aufs jämmerlichste.
Auch das Dritte Reich verpaßte den rechtzeitigen Sprung in den übernationalen Aggregatzustand. Dazu hätte der Zweite Weltkrieg, der deutscherseits im Zeichen der europäischen Neuordnung und einer Befreiung vom Sowjetkommunismus geführt wurde, alle erdenklichen Chancen geboten. Sie wurden weniger von Hitler selbst als von einer Schicht reaktionärer Machtvollstrecker verspielt. 1944/45, als das SS-Hauptamt endlich mit einer Handvoll zukunftsweisender Planungspapiere aufwartete (Stichwort: „Europa-Charta“), war es endgültig zu spät.
Allen drei Reichs-Entwürfen nach 1806 ist außerdem gemeinsam, daß sie weitgehend ohne transzendenten „Auftrag“ auszukommen versuchten. „Imperium“ bedeutet dem lateinischen Wortsinn nach: das, was nicht untergeht (im-perire). Eine Reichsgründung, die ihre Verankerung im Überzeitlichen versäumt, ist ein Widerspruch in sich, denn jedes „Reich“ lebt aus der Ver-Ewigung seiner Kraft, aus der Verwurzelung diesseitiger Machtentfaltung in einer Sphäre zeitloser Unvergänglichkeit. Ein Reich ohne Gottesbezug ist eine Totgeburt.
Daß die transzendente Fundierung bei allen drei Reichs-Anläufen nach 1806 unterblieb, mag man noch nicht einmal den jeweiligen Gründervätern anlasten. Es war vielmehr so, daß das Massenzeitalter, das im Gefolge der Französischen Revolution von den Seelen Besitz ergriff, den Gottesbezug vor lauter nationalistisch-demokratischer Phraseologie verdrängte. So blieb „Gott“ Zierrat, in der Kaiserproklamation von 1871 ebenso wie am „Tag von Potsdam“ im März 1933.

Die Aufgaben des Reiches

Heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, ist die Frage weniger, ob sich das Reich revitalisieren läßt, als vielmehr, ob die Menschen dauerhaft ohne spirituelle Verankerung auskommen können. Diese Frage ist alles andere als akademisch. Denn just in diesen Monaten ist Europa einmal mehr damit beschäftigt, sich einen Ordnungsrahmen für die nächsten Jahrzehnte zu geben, die sogenannte „EU-Verfassung“. Aber „Gott“ oder jeder andere transzendente Bezug ist auch dort nicht vorgesehen. Geht es nach dem Willen ihrer freimaurerisch-liberalen Konstrukteure, wird aus der EU demnächst ein atheistisches Konglomerat ohne tieferen Sinn. Das Verfallsdatum eines solchen Konstrukts ist absehbar. Gemessen an der europäischen Reichstradition, ist die EU nicht einmal deren Schwundstufe.
Es ist aber nicht nur die fehlende transzendente Vision, die die hanebüchene Unzulänglichkeit der Brüsseler Europa-Konzeption erweist. Denn auch in einer Reihe anderer Kritierien versagt die EU, versagt die neuzeitliche Demokratie überhaupt, wo das Reich erfolgreich war:
Das Reich als Ordnungsidee. Der Kosmos des Reiches – nicht nur des mittelalterlichen, sondern jedes Reiches – ist die hierarchische, geschichtete Weltordnung. Der Fluchtpunkt seiner letzten Legitimation ist Gott, der irdische Herrscher Vermittler und Transformator des Göttlichen an die weltliche Ordnung. Diese selbst kann theoretisch sogar demokratisch verfaßt sein und ihren Kaiser durch Wahlentscheidung bestellen, vergleichbar etwa der Wahl des Reichspräsidenten in der Weimarer Republik (der als „Ersatzkaiser“ galt) oder des Bundes präsidenten im heutigen Österreich. Auch 1848/49 wurde ein Wahlkaisertum diskutiert. Dennoch: die hierarchische Ordnung des Reiches verträgt sich im letzten nicht mit dem egalitären Ansatz von 1789. Es ist nun einmal ein Unterschied, ob die bestehende irdische Ordnung ein Extrakt menschengemachter Gesetze oder Ausfluß einer „ewigen“, heiligen Ordnung ist. Die Frage ist, inwieweit die Menschheit des 21. Jahrhunderts, die abendländische insonderheit, noch – oder wieder – für die Idee der „Ordnung“ empfänglich ist. Einstweilen steht zu befürchten, daß der diffuse „Freiheits“-Kult von 1789 noch die Gemüter mit Beschlag belegt.
Das Reich als übervölkischer Gestaltungsrahmen. Deutschem Herkommen nach war das Reich stets mehr als ein Nationalstaat. Das gilt selbst für das Dritte Reich, das spätestens mit der Einverleibung der „Rest-Tschechei“ 1939 in eine solche Rolle hineinwuchs. Man soll auch nicht verschweigen, daß das Protektorat Böhmen und Mähren eine gewissermaßen erfolgreiche Konstruktion war; bis Kriegsende herrschte tiefster Frieden, und die tschechische Kollaboration mit der Protektoratsmacht war geradezu eine Massenbewegung.
Geht man weiter in die Geschichte zurück, bleibt festzustellen, daß das Reich der Deutschen von jeher eine außerordentlich minderheitenfreund liche, ja multikulturelle Veranstaltung war: kein Assimiliationsdruck, keine Zwangsgermanisierung ethnischer Minderheiten, keine Zwangsangliederung nichtdeutscher Volkssplitter.
Das Reich als Freiheitsordnung. Lange, ehe die Brüsseler EU das sogenannte „Subsidiaritätsprinzip“ neu erfand, war es im Heiligen Römischen Reich verwirklicht. Es besagt nichts anderes, als daß Angelegenheiten, die in die Zuständigkeit einer untergeordneten Körperschaft – Gemeinde, Bezirk etc. – fallen, auch von dieser geregelt werden sollen.
In dieser Beziehung war das alte Reich tolerant fast bis zur Selbstaufgabe, was sich schon an der Vielgestaltigkeit seiner Glieder ablesen läßt. Neben reichsunmittelbaren Städten und Stiften gab es italienische Stadtrepubliken, kirchliche Besitzungen neben den Liegenschaften der erblich gewordenen Herzogtümer. Ein zentrales Reglement, einen verbindlichen Verwaltungs- und Rechtskodex für sämtliche territorialen Einheiten innerhalb der Reichsgrenzen gab es nicht. Alle Binnenglieder waren zwar durch die Zugehörigkeit zum Imperium deutscher Nation und zur römischen Christenheit zur größeren Einheit verklammert, prinzipiell schaltete sich das Imperium aber nicht in die Binnenangelegenheiten der Reichsglieder ein. Einheitliche Vorschriften etwa über den Krümmungsgrad von Bananen – eine EU-Erfindung – wären im alten Reich völlig absurd gewesen.
lDas Reich als mitteleuropäischer Sicherheitsfaktor. Eigentlich eine Binsenweisheit: schon früh, nämlich ebenfalls bereits zur Zeit des mittelalterlichen Reiches, bot dieses einen allseits respektierten Ordnungsrahmen zur Beilegung von Zwistigkeiten unter seinen Gliedern. Dieser war zwar nicht gegen Mängel gefeit; bekanntlich beschäftigte eine umfassende Reichsreform über Jahrhunderte hinweg die Reichstage, ohne daß es zur angestrebten Erneuerung an Haupt und Gliedern gekommen wäre. In den Glaubenskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts versagte das alte Korsett dann endgültig, und am Ende blieb, tatkräftig befördert durch französische Einflußnahme, ein handlungsunfähiger Flickenteppich.
Umgekehrt: in Perioden innerer Einheit bot das Reich seinen Gliedern größtmöglichen Schutz, etwa in Zeiten periodisch wiederkehrender Ungarn- oder Slaweneinfälle. Die letzte Konsequenz dieser Sicherheitsarchitektur unter dem Dach des Reiches war die „Festung Europa“. Sie wurde im übrigen nicht erst während des Zweiten Weltkrieges, sondern bereits unter Napoleon Realität und blieb, was in der Natur des Kontinents liegt, im einen wie im anderen Fall lückenhaft. Es ist müßig hervorzuheben, daß gerade der Aspekt autarker europäischer Sicherheit angesichts neuer Bedrohungen („Terrorismus“) unverhofft wieder aktuell wird. Auch auf diesem Terrain hat die EU bislang nichts als Stückwerk zuwege gebracht; die vorgeblichen „gemeinsamen“ Sicherheitsanstrengungen, etwa im Bereich des Eurokorps oder bei der Entwicklung des „Eurofighters“, sind nachgerade ein Witz.

Das Reich kehrt wieder

Zuguterletzt: Reiche lassen sich nicht am grünen Tisch gründen. Das römische erwuchs aus der schrittweisen militärischen Überwältigung des Mittelmeerraumes bei gleichzeitiger Herstellung eines gemeinsamen Rechts- und Verwaltungsraumes. Die Überhöhung zum Caesarenstaat unter Caesar bzw. Augustus bedeutete den natürlichen Erweiterungsschritt in die Sphäre des Transzendenten; die Kaiser genossen göttliche Verehrung.
Das alte Reich der Deutschen erwuchs im 10. Jahrhundert aus der gemeinsamen Meisterung äußerer Bedrohungen und innerer Herausforderungen. Das zweite verdankte sich der Genialität Bismarcks und dem gewonnenen Krieg gegen Frankreich. Das dritte ging aus dem Kollaps der Weimarer Republik hervor und wäre nicht entstanden ohne Hitler als personalen Katalysator.
Gegenwärtig schlummert das Reich wieder als immerfort vorhandene Möglichkeit der Deutschen. Die Geschichte lehrt, daß es der bedeutenden Situation, der Krise, und bedeutender Männer zu seiner Verwirklichung bedarf. Beides läßt sich nicht auf dem Verwaltungswege herbeibeordern. Aber die Frage ist nicht, ob das Reich gewollt wird oder eines Tages auf dem Stimmzettel steht, als Option zum Ankreuzen. Das Reich der Deutschen und ihrer mitteleuropäischen Anverwandten kommt so sicher wie das Amen in der Kirche wieder. Es kann gar nicht sterben. Der österreichische Querdenker Günther Nenning sprach einmal vom „größtdeutschen“ Reich aller Zeiten. Das zeigt die ungefähre Richtung an. Die Zeit wird es richten, auch beim nächsten Mal.

 
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