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Deutsche Minderheiten in Europa - Elsässer und Lothringer

Von Dr. Rolf Sauerzapf

Seit ca. 1.500 Jahren hat das Elsaß seine historischen Grenzen zwischen dem Sundgau im Süden und Weißenburg im Norden; die Vogesen im Westen und der Oberrhein im Osten bilden die weiteren natürlichen Grenzen. Das sogenannte „Krumme Elsaß“ reicht bei Drulingen und Lützelstein nach Lothringen hinein. Vom Sundgau bis zum Hagenauer Forst wird ein alemanischer Dialekt gesprochen; nördlich davon eine rheinfränkische Mundart. Ost- oder auch Deutsch-Lothringen reicht von Bitsch bis Diedenhofen. Metz ist die Hauptstadt; es hat seinerseits seit dem Mittelalter eine französischsprachige Mehrheit. Dabei ist dieses deutschsprachige Lothringen aber nur etwa ein Viertel des alten Lothringen, das wiederum seine natürlichen Zentren in Nancy (deutsch Nanzig) und Lunéville hat. Wenn künftig von der Entwicklung der Elsässer die Rede ist, schließt dies die Deutsch-Lothringer mit ein.

wurde Das Friedensdiktat von Versailles 1919 besagte, daß das Reichsland Elsaß-Lothringen wieder französisch werden mußte. Ohne Volksabstimmung, wie es auch ohne eine solche 1871 deutsch wurde. Die fast 50 Jahre, in denen das Elsaß und der Bezirk Lothringen deutsch waren, erbrachte auf allen Gebieten eine Blütezeit. Dazu trug v.a. die Straßburger Kaiser Wilhelm-Universität bei. Seit 1911 war das Reichsland ein gleichberechtigter Bundesstaat im Deutschen Reich. Die Mehrzahl der Elsässer hatte die neue Lage akzeptiert. Dabei wurde bewußt an die lange deutsche Zeit vom alten Herzogtum Schwaben bis zur Reformation und Renaissance angeknüpft, in der das Elsaß eine „Brunnenstube des deutschen Geistes“ war. Die älteste deutsche Sprachurkunde ist ja die Evangelienharmonie des Mönches Otfried von Weißenburg vom Jahr 870 n. Chr.
Als Frankreich nach dem 30jährigen Krieg große Teile des Landes annektierte – die Reichstadt Straßburg erst 1681 –, änderte sich für die große Mehrheit der Bevölkerung in sprachlicher und kultureller Hinsicht nichts. Erst seit der Französischen Revolution und dem napoleonischen Empire tendierte das Bürgertum in Richtung Frankreich. Unter Napoleon III., der im Elsaß selbst deutsch sprach, nahm der „Verwelschungsdruck“ zu.
Frankreich wies 1918/19 ca. 150.000 Elsässer und Lothringer und natürlich auch die nach 1871 als Beamte, Wissenschaftler und Handwerker ins Land gekommenen „Altdeutschen“ aus. Aus dem Reichsland Elsaß-Lothringen wurden wieder die Départements Haut Rhin, Bas Rhin und Moselle. Der französische Zentralismus wurde auf allen Gebieten angewandt. Dagegen formierte sich der Widerstand der Bevölkerung: Im sog. Pfister-Poincaré-Abkommen mußte Frankreich einen deutschen Pflichtunterricht bereits in der Volksschule akzeptieren. Die Elsaß-Lothringische Landespartei unter dem Schuldirektor Dr. Karl Roos und die „Heimatrechtsbewegung“ lehnten Zentralismus und „Verwelschung“ ab. Der sogenannte Komplott-Prozeß von Colmar und Besançon machte Roos zum Volkshelden. 1938 verhafteten die Franzosen die meisten Führer der Heimatrechtsbewegung und steckten sie in ein Gefängnis in Nancy. Diese „Nanziger“ wurden 1940 in Südfrankreich, wohin sie bei Kriegsausbruch verschleppt worden waren, von der Wehrmacht befreit. Karl Roos aber wurde zum Märtyrer des deutschen Elsasses: Am 7. Februar 1940 wurde er in Nancy als angeblicher deutscher Spion, der er nachweislich nicht war, erschossen.

Die Elsässer und Lothringer, Opfer des Zweiten Weltkriegs

Das Elsaß wurde 1940 mit Baden zu einem NS-Gau Oberrhein zusammengeschlossen; Lothringen wurde zusammen mit der Pfalz und dem Saargebiet Bestandteil eines Gaues. Völkerrechtlich gehörte das Land nach wie vor zu Frankreich. Die Einberufung zur Wehrmacht bzw. zur Waffen-SS folgte einer „Germanisierungspolitik“. Die meisten der befreiten „Nanziger“ stellten sich der deutschen Verwaltung zur Verfügung, die als „Generalreferenten“ und Oberbürgermeister von Straßburg in Dr. Robert Ernst einen ausgewiesenen Alt-Elsässer als Symbolfigur hatte. Er und die meisten der „Nanziger“ gerieten aber bald mit den beiden NS-Gauleitern Wagner und Bürckel in Konflikt und meldeten sich zur Wehrmacht.
1944/45 erbrachte die „Säuberung“ (frz. „épuration“) durch die Franzosen den größten Bruch in der Geschichte des Landes. Deutsch wurde als die „Sprache Hitlers“ aus der Schule und Öffentlichkeit verbannt. Der „épuration“ sind in ganz Frankreich etwa 150.000 Menschen zum Opfer gefallen – davon überdurchschnittlich viele Elsässer und Lothringer. Die NS-Konzentrationslager Strutthof und Schirmeck in den Vogesen füllten sich jetzt mit Elsässern und „Reichsdeutschen“. Frankreich nutzte die psychologische Situation geschickt aus, um das Land auch geistig endgültig zu annektieren. Aus diesem psychologischen Druck und der Tatsache, daß die Menschen in diesem Grenzland innerhalb von 50 Jahren fünfmal ihre Nationalität wechseln mußten, resultiert die von manchen Deutschen verallgemeinerte angebliche „Unzuverlässigkeit“ der Elsässer, die nicht wissen, was sie sind. Aber auch viele Franzosen empfinden bis heute ihre Landsleute zwischen Vogesen und Oberrhein als wesensfremd. Die „têtes carrées“ sind ihnen in vielfacher Hinsicht unheimlich, wenn ihnen auch ein „keltischer Ursprung“ nicht mehr nachgesagt und ihre Umgangssprache heute als „patois germanique“ bezeichnet wird…
Zu dieser Identitätskrise kam, daß es „chic“ war, „de parler français“. Deutsch war und ist bis heute weithin „a Sproch fir nix“. Hier waren es bis in die sechziger Jahre die beiden großen Kirchen, die am Hochdeutschen im Gottesdienst festhielten. Nach dem 2. Vatikanischen Konzil wurde aber in der katholischen Kirche im Elsaß französisch als „Landessprache“ auch zur Sprache des Gottesdienstes. Für dasjenige Viertel der Elsässer, das sich zur evangelischen Kirche bekennt, finden auch heute noch deutschsprachige oder zweisprachige Gottesdienste statt.

Die Renaissance des Dialektes

Seit den sechziger Jahren kann im Elsaß, in geringem Maße auch in Lothringen, von einer Renaissance des Dialektes gesprochen werden. Eine junge Genera tion, von den Belastungen der Kriegs- und Nachkriegszeit unberührt, ist auf der Suche nach ihrer historischen und kulturellen Identität. Diese Bewegung ist das Ergebnis zweier Entwicklungen: In ganz Europa entstand in den letzten Jahrzehnten ein regionalistisches Bewußtsein. In Großbritannien, Belgien, Spanien, aber auch in Frankreich wächst der Selbstbehauptungswille von Volksgruppen gegenüber dem anonymen, technokratisierten und zentralistischen Nationalstaat. So erhielten die Elsässer und Lothringer Anstöße auch von den Bretonen, Okzitanen und sogar Soyarden. Von den Korsen und Basken haben bestenfalls die „Schwarzen Wölfe“ Impulse für verunglückte Sprengversuche französischer Denkmäler empfangen…
Auf Versammlungen der Regionalisten wird „elsässisch“ gesprochen. Seit einigen Jahren gibt es auch in Städten und Dörfern zweisprachige Straßenbezeichnungen: Unter der französischen Bezeichnung steht allerdings die andere in der Dialektversion. Besser als nichts, sagen die Autonomisten. Daß diese Selbstbehauptung durch den Dialekt (ohne die Hochsprache) auch zu einer „Verletzburgerung“ führen kann, ist kaum jemandem bewußt. (Im Großherzogtum Luxemburg ist der moselfränkische Dialekt, das „Letzeburgisch“, zur dritten „Nationalsprache“ erhoben worden.)
Eine Vielzahl von kleinen und kleinsten Organisationen, Grüppchen und Publikationen nahm dieses Anliegen der Etablierung der Regionalsprache auf und konnten Erfolge verbuchen.

Zweisprachigkeit als Lösung?

Als sich Ende der sechziger Jahre Elsässer und Lothringer zur René-Schickele-Gesellschaft zusammenschlossen, wollte man bewußt an einen Schriftsteller anknüpfen, der auf deutsch und französisch veröffentlichte. Die Elsässer sollten ihre historische und geographische Lage ausnutzen: Es konnte doch in Europa nur ein Vorteil sein, wenn vor allem junge Menschen neben der Staatssprache auch Deutsch lernten und beherrschten. Diese Tendenzen zur „Zweisprachigkeit“ wurden unter dem Stichwort „Lerne die Sprache des Nachbarn“ sogar offiziell gefördert. (Man hat den jungen Elsässern dabei natürlich verschwiegen, daß Deutsch seit dem frühen Mittelalter eigentlich ihre Muttersprache war.) Bei diesem Experiment zeigte sich wieder einmal, wie sich deutsches und französisches Kulturbewußtsein unterscheiden: Wie ich vor Jahren im Stuttgarter Kultusministerium in Erfahrung brachte, haben in den achtziger Jahren ca. 80 französische Lehrer in Baden Französisch unterrichtet, im Elsaß aber nur sechs deutsche.
Mehr Erfolg erbrachte der private Versuch, Zweisprachigkeit in sogenannten „ABCM“-Schulen zu erreichen: In öffentlichen oder privaten Räumen wird Deutsch unterricht erteilt. Dabei werden sogar die „écoles maternelles“, die Vorschulen, miteinbezogen, wo Lieder, Reime und Spiele auf Elsässisch und Hochdeutsch geübt werden. Das überzeugendste Modell liefert ein zweisprachiges Gymnasium in Weißenburg (Wissenbourg), wo das Niveau des Unterrichts in Realfächern auf deutsch nicht schlechter als in Rastatt oder Offenburg ist. Gerade auch Innerfranzosen nehmen diese Möglichkeit war, „richtiges Deutsch“ zu lernen. Ansonsten ist natürlich wie in ganz Europa (oder gar in der ganzen Welt) Englisch die große Konkurrenz als „lingua franca“.
Es bleibt die Hoffnung, daß die Zweisprachigkeit zunimmt. Aus den bisher ca. sechs Prozent zweisprachigen Schulen im Lande müssen mehr werden. Sonst ist alles ein Tropfen auf dem heißen Stein! Für die deutsche Sprache im Elsaß und in Lothringen ist es fünf Minuten vor Zwölf. Das Verstummen der deutschen Sprache in diesem einst kulturell hochstehenden Lande wären für den Gedanken der Volksgruppenrechte ein Alarmzeichen, das auch die europäische Verständigung und Einigung als unglaubwürdig erscheinen ließe.

Vom Wandel einer Volksgruppe

Seit dem 19. Jahrhundert gab es „deutsche“ und „französische“ Elsässer. Die Bourgeoisie war überwiegend französisch gesonnen. Die breiten Volksmassen, die Bauern und Arbeiter, konnten aber kein Französisch. Ihre Sozialisation erhielten sie durch die Kirche, in denen fast ausschließlich deutsch gepredigt wurde. 1871 konnten Elsässer für Frankreich optieren, dies nahmen ca. 40.000 Menschen wahr. Viele von ihnen sind dabei jedes Jahr ins Elsaß gekommen, wo sie meist ihren Besitz behalten konnten. Ganz anders der Einschnitt 1918/19. Die ca. 150.000 Ausgewiesenen konnten nur ein Handgepäck mitnehmen. Obwohl unter ihnen viele Intellektuelle waren, hatte die Heimatrechtsbewegung noch viele Köpfe, die durch die deutsche Schule und Universität, aber auch die deutsche Armee geprägt waren. Die meisten Elsässer der Zwischenkriegszeit verstanden sich so als Elsässer mit deutscher Muttersprache und damit Glieder einer deutschen Kulturnation. Als Autonomisten traten sie ein für eine Kulturautonomie oder für einen „Freistaat Elsaß-Lothringen“ ein. Die Politik der „braunen Jakobiner“ der Jahre 1940–1944/45 hatten sie nicht zu verantworten. Sie erst gab den Franzosen die Handhabe, „deutsch“ und „nationalsozialistisch“ gleichzusetzen.
Den Franzosen fiel auf, daß die Elsässer nach dem Zweiten Weltkrieg mehrheitlich gaullistisch wählten. Dies steigerte sich in der jüngsten Vergangenheit, als der „Front National“ des Bretonen Le Pen bei den letzten Kommunalwahlen im Elsaß die meisten Stimmen erhielt. Eine Abspaltung der „Nationalen Front“, die Partei „L’Alsace d’abord“, trat mit zweisprachigen Wahlplakaten und Handzetteln an. Viele Elsässer möchten heute zuerst „elsässische Elsässer“ sein. Sie bejahen den Dialekt und stehen der deutschen Hochsprache und der Nachbarschaft zu Deutschland positiv gegenüber. Sie sind überzeugte Europäer, die sehr wohl wissen, daß Frankreich im eigenen Land andere Sprachen und Kulturen bestenfalls duldet.
Manche Elsässer sprächen heute gerne – nach dem Autonomismus der Reichslande und der Zwischenkriegszeit – von einem „dritten Autonomismus“. Dieser dreht sich vor allem um die Forderungen nach Freiheit und föderalistische Strukturen für das Elsaß und Lothringen. Deshalb kam es schon vor Jahren zur Gründung der „Union Poulaire d’Alsace UPA“/„Elsässische Volksunion“ (EVU), die bei Kantonalwahlen lokale Erfolge erzielen konnte. Nicht zuletzt durch die der Partei nahestehende Zeitschrift „Rot un wiss“, aber auch durch das Buch von Bernard Wittmann „L’histoire de l’Alsace autrement – „A Gschicht zum Üewerläwe“ – ist es gelungen, eine Reihe von Studenten und andere junge Leute für die Idee des Autonomismus (und damit auch die deutsche Sprache) zu gewinnen. Viele von denen, die sich jetzt in der „jungen“ Gruppierung „Fer’s Elsaß“ zusammengefunden haben, sind frankophon erzogen und aufgewachsen und haben jetzt erst die ihnen bisher vorenthaltene „andere“ Geschichte des Elsaß entdeckt. Dem hohen Idealismus stehen allerdings finanzielle und strukturelle Schwierigkeiten entgegen.
Die Elsässer und Lothringer sind die am meisten bedrängte deutsche Volksgruppe in Europa. Sie sind damit auch „die letzten Verlierer des Zweiten Weltkriegs“, denen mit und nach der „épuration“ auch der Verlust ihrer angestammten Sprache und Eigenständigkeit droht – trotz des Sitzes im Straßburger Europarat. Seit aber am Straßburger Hauptbahnhof die Ansagen neben französisch und englisch auch auf (hoch-)deutsch erklingen, darf wieder Hoffnung geschöpft werden…

Um die Deutschen in Elsaß-Lothringen bemüht sich die Erwin von Steinbach Stiftung, die auch die Zeitschrift „Der Westen“ herausgibt:
Gesellschaft der Freunde und Förderer der Erwin von Steinbach Stiftung, Barbarossa straße 14, D-73066 Uhingen

 
Neue Ordnung, ARES Verlag, A-8010 Graz, EMail: neue-ordnung@ares-verlag.com