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Historisches Experimentierfeld

Von Manfred Müller

Emotionalisierung und Polarisierung an der Saar

Eine europäische Musterregion – so wird das Saarland heute im Zeichen von Multikulti gerne genannt. Zutiefst aufgewühlt war die Grenzlandbevölkerung dieser Region vor über 70 und vor 50 Jahren. Eine heftige Emotionalisierung und Polarisierung hatte das Saarvolk erfaßt. Nach den beiden Weltkriegen war das Grenzland zum Experimentierfeld politischer Zukunftsentwürfe und säkularisierter politischer Heilslehren geworden. In zwei Plebisziten konnten die Saar-Deutschen über ihre nationale Zuordnung und politische Zukunft entscheiden (1935 und 1955), beide Male siegte das Gefühl der Zugehörigkeit zur deutschen Nation über Ersatzangebote, die mit ihren Verlockungen die tiefsten seelischen Regungen der großen Mehrheit der Saarländer nicht erreichen konnten.

Nach dem Ersten Weltkrieg war das Saargebiet vom Deutschen Reich abgetrennt und unter die Verwaltung des Völkerbundes (mit stark französischem Einfluß) gestellt worden. Am 13. Januar 1935 konnten die Saar-Deutschen sich entscheiden: Rückgliederung nach Deutschland, Angliederung an Frankreich oder Fortdauer des bisherigen Zustands (Status quo). „Antifaschistische“ Gegner der im Reich herrschenden NS-Bewegung sahen hier eine Gelegenheit, Hitler vor den Augen der Weltöffentlichkeit eine schwere Niederlage zuzufügen: „Schlagt Hitler an der Saar!“ Sie sammelten sich in einer „antifaschistischen Einheitsfront“ gegen die „Hitlerknechte“, die ihrerseits die „Antifaschisten“ als „Vaterlandsverräter, Separatisten, Franzosenknechte“ abqualifizierten. Die „Antifa“ trat für den Status quo ein, denn ein Votum für Frankreich hatte an der Saar überhaupt keine Chance. So hieß es denn bei den „Antifaschisten“: „Wir halten die Saar. Status quo, bis Deutschland frei ist.“
Ihnen trat die „Deutsche Front“ (DF) entgegen, eine überparteiliche Massenbewegung. Diese mobilisierte die vaterländisch-nationalen Gefühle der leidgeprüften deutschen Grenzlandbevölkerung: „Deutsche Mutter, heim zu Dir!“ Besonders stark umworben – jeweils mit eigenen Argumentationsmustern und Propagandamethoden – wurde die Bergarbeiterschaft und die katholische Bevölkerungsmehrheit. Dies läßt sich an zwei Protagonisten im Meinungsstreit exemplifizieren.
Hochwillkommen waren beiden Seiten Priester bei dem Versuch, das Votum der Gläubigen im jeweils gewünschten Sinne zu beeinflussen. Johannes Kirschweng (1900–1951) und Hugolin Dörr (1895–1940) waren solche Geistliche, die sich politisch stark engagierten. Kirschweng, seit Herbst 1933 auf eigenen Wunsch von der bischöflichen Behörde für sein schriftstellerisches Schaffen freigestellt, ist derjenige saarländische Dichter, dessen Werke beim deutschen Lesepublikum des 20. Jahrhunderts die stärkste Beachtung fend. Hugolin Dörr aus dem Orden der Steyler Missionare wurde 1999 ins deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts aufgenommen (eine Zusammenstellung aller Blutzeugen für Christus, die Prälat Dr. Helmut Moll im Auftrage der Deutschen Bischofskonferenz mit einer großen Dokumentation vorlegte).
Kirschweng sah „den Kampf der Saarländer um ihre Rückkehr zum Reich“ als einen „Kampf um die Bewahrung ihres innersten Wesens“ an, weil die Saarländer wüßten, daß ihnen das „lebendige Herz genommen würde, wenn man sie zwingen könnte, etwas anderes als deutsch zu sein“. Für ihn galt „Deutschsein als Selbstverständlichkeit“, wie er im März 1933 einen seiner Zeitungsartikel überschrieb. 1934 entfaltete er eine erstaunliche Aktivität. Er schrieb zahlreiche dichterische und journalistische Texte, beriet Rundfunkleute der Reichssender Köln, Frankfurt und Stuttgart, die im Auftrage der Reichsregierung die Abstimmungskampagne der DF unterstützten. Über den Reichssender Köln sprach Kirschweng zu seinen Landsleuten an der Saar. Er sorgte für das kulturelle Rahmenprogramm örtlicher DF-Veranstaltungen und trat dabei auch gelegentlich als Redner auf. Sein Roman mit dem bezeichnenden Titel „Das wachsende Reich“ erschien allerdings zu spät, um noch in der Endphase des Abstimmungskampfes Wirkung zu erzielen. Nach der Rückkehr der Saar zum Reich ging Kirschweng zum Nationalsozialismus viel stärker als zuvor auf Distanz, ohne es allerdings zum Eklat kommen zu lassen. Nach 1945 sicherte er sich unter dem separatistischen Regime des Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann Publikationsmöglichkeiten, indem er – sehr zum Mißfallen vieler seiner früheren Bewunderer – nun ganz auf die Leitidee „Abendland“ setzte.
Pater Dörr galt, als er in die Abstimmungskampagne eingriff, in seinem Orden als ein problematischer Fall. Einem Missionseinsatz in China hatte er sich weder physisch noch psychisch gewachsen gezeigt. Nachdem er sich zeitweise einer psychiatrischen Behandlung hatte unterziehen müssen, lebte er seit 1928 bei seinen Verwandten im Saarland. Im Nationalsozialismus erblickte er eine ungeheure Gefahr für den katholischen Glauben und die Kirche; durch kirchenfeindliche Maßnahmen im Dritten Reich sah er sich in dieser Auffassung bestätigt. Daher trat er bei „antifaschistischen“ Veranstaltungen der „Einheitsfront“ auf. Besonders spektakulär war seine Beteiligung am 26. August 1934 in Sulzbach. Vor ca. 60.000 Teilnehmern (vorwiegend Anhängern von SPD und KPD) war er neben dem SPD-Vorsitzenden Max Braun und dem KPD-Funktionär Fritz Pfordt der Hauptredner. Unter starkem Beifall der Versammelten rief der in Soutane auftretende Pater aus: „Ich stehe hier nur als Lückenbüßer. Hier ist eine Lücke! Hier müßten heute die besten Vertreter meines Standes stehen. Es handelt sich um Dich, um Deinen Glauben! Darum niemals zu Hitler! Frei die Saar!“ Kernthese seiner Rede: „Nur dann kommen für das Deutsche Reich wieder andere, bessere Zeiten, wenn das Hakenkreuz dem Christuskreuz weichen muß.“

Überwältigender Abstimmungssieg

Nach dem überwältigenden Abstimmungssieg der DF (90,7 % für die Rückgliederung der Saar) floh Dörr ins lothringische Forbach und lebte dort unter den deutschen Emigranten in ärmlichen Verhältnissen. Im Mai 1940 wurde er von den Franzosen interniert und am 6.6.1940 vom französischen Wachpersonal wegen Widersetzlichkeit mißhandelt und umgebracht. Nur wenn man den Begriff des Märtyrers sehr weit faßt, kann man den gewaltsamen Tod des Priesters Dörr als ein Blutzeugnis für Christus betrachten.
1935 war es beim Plebiszit dem Nationalsozialismus vor den Augen der Weltöffentlichkeit gelungen, vom Saarvolk letztendlich ein Votum für das real existierende Dritte Reich zu erlangen, weil er die ersatzreligiösen und totalitären Züge der NS-Bewegung geschickt verbarg und mit Hilfe der instrumentalisierten überparteilichen Massenbewegung „Deutsche Front“ das Bekenntnis zum angestammten deutschen Vaterland zum entscheidenden Faktor machte. Das nationale Bekenntnis der „Antifaschisten“ wurde hingegen unglaubwürdig, weil sie im Geruch standen, den französischen Chauvinismus zu begünstigen und weil bei ihnen die Kommunisten (Parteigänger des schon damals durch ungeheure Verbrechen belasteten internationalistischen Bolschewismus!) besonders aktiv waren. Und so konnten auch die Schlagworte „Freiheit“ und „Demokratie“ nur wenig Wirkung erzielen.

Erneute Abtrennung 1945

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Saargebiet erneut vom übrigen Deutschland abgetrennt. Das französische Besatzungsregime wurde in Person von einem Militärgouverneur Gilbert Grandval (eigentlich: Gilbert Hirsch) ausgeübt. Um der wirtschaftlichen und kulturellen Durchdringung des Landes (im Sinne einer immer stärkeren Französisierung) ein demokratisches Deckmäntelchen umzuhängen, wurde eine deutsche Satellitenregierung geschaffen. Aus Brasilien flog man den als Ministerpräsidenten in Aussicht gestellten Johannes Hoffmann ein; dorthin hatte der frühere Status quo-Aktivist sich 1940 geflüchtet, nachdem er ab 1935 in Paris als Emigrant gelebt hatte. Der saarländische Landtag wurde in manipulativem Wahlverfahren mit Anhängern separatistischer Parteien besetzt; deutschgesinnte Gruppierungen wurden in den Untergrund abgedrängt.
„Joho“ (sprich: Johannes Hoffmann) mißbrauchte die christlich-abendländische Idee, um sein mißliebiges System zu stabilisieren. Eines seiner Lieblingsargumente: „Es geht … um den Bestand und die Erhaltung unserer christlichen Schule, unserer christlichen Erziehung, um die Freiheit der Kirche, kurz, um die Frage für oder gegen Christus.“ Verstärkt wurde dies durch Hinweise auf die Untaten des Nationalsozialismus und die Schrecken des Zweiten Weltkrieges. Auf Bischof Bornewasser (Trier), der für die katholischen Saarländer zuständig war, konnte Hoffmann bei seinem deutschfeindlichen Kurs nicht zählen. Bornewasser: „Vaterlandsliebe bedeutet Treue. Wer die Treue bricht, ist ein Verräter. Wahre Treue bewährt sich, wenn Leid und Not über das Vaterland kommen. Wäre es nicht traurig, wenn in Notzeiten einer anfinge zu berechnen, ob er nicht besser leben könne, wenn er sich von seinem Vaterlande trenne?“

Die Rolle Adenauers

Eine Lösung der Saarfrage deutete sich erst etwa 10 Jahre nach Kriegsende an. Freilich drohte dank der raffinierten Diplomatie und Propaganda des BRD-Kanzlers Adenauer der Saar die endgültige Trennung von Deutschland. Adenauer, für den die Vision von den Vereinigten Staaten von Europa Vorrang hatte vor vaterländischen Bindungen, sah die Chance, gleichsam im Vorgriff auf eine Europäische Union ein eigenständiges „europäisiertes“ Saarland entstehen zu lassen. In Verhandlungen mit Frankreich wurde ein „europäisches Statut“ für die Saar entworfen. Zugeständnis Frankreichs: Es sollte eine Volksabstimmung über das Statut geben, und die deutschen Untergrund-Parteien sollten für den Wahlkampf legalisiert werden. Der Pferdefuß: Bei Annahme des Statuts durch die Wähler sollte es bis zu einem Friedensvertrag keine Änderung dieses Statuts mehr geben – die Saar wäre also heute noch von Deutschland getrennt.
Die deutschen Parteien, Saar-CDU, Saar-SPD und die Demokratische Partei Saar, schlossen sich zum „Deutschen Heimatbund“ zusammen und lehnten die von Adenauer favorisierte „Europäisierung“ der Saar ab. Sie betonten: „Der Deutsche Heimatbund gelobt, entgegen allen inneren und äußeren Einflüssen am deutschen Vaterland festzuhalten, die deutsche Kultur an der Saar zu verteidigen, gegen jede Verfälschung des Volkswillens einzutreten und die deutsch-französische Verständigung im Geiste der Wahrhaftigkeit durch eine gerechte Lösung der Saarfrage zu fördern.“
Adenauer griff in den Wahlkampf ein. Am 2. September 1955 forderte er die Saarländer auf, das Statut anzunehmen. Nur so könne man den Weg freimachen, um „Joho“ abzulösen, und gleichzeitig der europäischen Befriedung dienen. „Joho“ war für diesen Aufruf dankbar und ließ Plakate mit Adenauers Bild anschlagen: „Anständige Deutsche lassen den Bundeskanzler nicht im Stich. Deshalb sagen wir ja zum Saarstatut.“
Aber der nationale Faktor („Deutsch ist die Saar, deutsch immer dar …“) erwies sich
erneut als ausschlaggebend. Am 23. Oktober 1955 lehnten 67,7 % der Saarländer das Statut ab – wodurch die Rückkehr zu Deutschland eingeleitet wurde.

 

 
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