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Der Staat als Hehler – zwei Millionen Geschädigte

Von Stephan Baier

Die unter großer medialer Aufmerksamkeit geäußerte Kritik an dem neuen Buch von Papst Johannes Paul II. zielt wohl eher auf eine Karikatur des Textes als auf diesen selbst. Mit keinem Wort tut der Papst, was ihm der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, vorwarf, nämlich den Holocaust mit der Abtreibung zu vergleichen. Noch absurder wäre die Annahme, der unweit Auschwitz geborene Papst aus Polen könne die rassistische Mordpolitik des „Dritten Reichs“ in irgendeiner Weise relativieren. Die nationalsozialistischen wie die kommunistischen Verbrechen charakterisiert der Heilige Vater vielmehr als „Übel von gigantischen Ausmaßen, ein Übel, das sich der staatlichen Strukturen bedient hat, um sein unheilvolles Werk zu vollenden, ein Übel, das zum System erhoben wurde“.

Doch schon dieses eine Zitat zeigt, dass es dem Papst nicht um historische Vergleiche oder um eine wissenschaftliche Analyse zeitgeschichtlicher Ereignisse geht. Sein Thema ist die heilsgeschichtliche Einordnung des geschichtlich erfahrbaren Bösen. Das 20. Jahrhundert nennt Johannes Paul II. eine „Bühne“ historischer und ideologischer Prozesse, die zu einem großen Ausbruch des Bösen und zu seiner Überwindung führten. Den geistesgeschichtlichen Ursachen dieser Ideologien nachzuspüren, ist eines der Anliegen dieses facettenreichen, gleichermaßen persönlichen wie philosophisch aufschlußreichen Papst-Buches.
In diesem Kontext kritisiert er den philosophischen Perspektivenwechsel, der sich mit Descartes’ „Cogito, ergo sum“ vollzog. In der mittelalterlichen Philosophie sei alles aus dem Sein heraus gedeutet worden: „Gott als das in sich vollkommen sich selbst genügende Sein (Ens subsistens) wurde als unabdingbare Grundlage angesehen für jegliches ens non subsistens, ens participatum, d.h. für alle geschaffenen Wesen, also auch für den Menschen.“ Mit der Unterordnung des „esse“ unter das „cogito“ habe sich die Philosophie „mit den Wesen, insofern sie Bewußtseinsinhalte sind“, und nur unter dieser Hinsicht, befasst.
Damit wurde nach Ansicht des Papstes auch Gott „auf einen Inhalt des menschlichen Bewusstseins“ reduziert: „Der Gott der Offenbarung hatte als ‚Gott der Philosophen‘ aufgehört zu existieren.“ Von dem sich offenbarenden und alle Maßstäbe setzenden Gott blieb „nur die Idee von Gott“ übrig – „als Thema einer freien Entfaltung des menschlichen Denkens“. Was hat dies nun mit dem Mysterium des Bösen in der Welt zu tun? „Der Mensch war allein geblieben – allein als der Schöpfer seiner eigenen Geschichte und seiner eigenen Zivilisation; allein als derjenige, der entscheidet, was gut und was böse ist.“ Der so von Gott abgekoppelte Mensch, der entsprechend der Verheißung der Paradieses-Schlange selbst über Gut und Böse befindet, sei zu jedem Irrtum und jeder Barbarei fähig, suggeriert der Papst, indem er die schauerlichsten Entscheidungen des 20. Jahrhunderts referiert, etwa „die perversen Programme der nationalsozialistischen Ideologie …, die sich an rassistischen Vorurteilen orientieren“.
Hier wird kein geschichtliches Verbrechen relativiert, doch spricht es für den persönlichen Mut und die gedankliche Konsequenz des Heiligen Vaters, in diesem Kontext nicht nur die toten Ideologien von gestern zu verdammen, sondern auch heute gefeierten Ausflüssen der oben geschilderten geistigen Befindlichkeit Kritik zuzuwenden: „Nach dem Sturz der Regime, die auf den Ideologien des Bösen aufgebaut waren, haben in ihren Ländern die eben erwähnten Formen der Vernichtung de facto aufgehört. Was jedoch fortdauert, ist die legale Vernichtung gezeugter, aber noch ungeborener menschlicher Wesen. Und diesmal handelt es sich um eine Vernichtung, die sogar von demokratisch gewählten Parlamenten beschlossen ist.“
Wenn es also in den Augen des Papstes eine Gemeinsamkeit zwischen den höchst unterschiedlichen Verbrechen des 20. Jahrhunderts gibt, dann insofern, als es sich in jedem Fall um „schwere Formen der Verletzung des Gesetzes Gottes“ handelt. Johannes Paul II. zeigt sich in seinem Buch wie auch in der gesamten Lehrverkündigung seines Pontifikates davon überzeugt, daß der Mensch seine Würde nur mittels seiner Gottabbildlichkeit erkennen kann. Die Wurzel des geschichtlich erfahrbaren Bösen erkennt er in der Zurückweisung Gottes „als Schöpfer und damit als Ursprung der Bestimmung von Gut und Böse“.
Philosophisch interessant ist dieses auf Gespräche im Jahr 1993 zurückgehende, vom Papst eigenhändig redigierte Buch, weil es eine außergewöhnlich deutliche Abrechnung mit der gesamten Philosophie der Aufklärung formuliert: „Wenn wir in sinnvoller Weise von Gut und Böse sprechen wollen, müssen wir zu Thomas von Aquin, d.h. zur Philosophie des Seins zurückkehren.“
Theologisch interessant ist das vorliegende Werk, weil der Papst nicht nur eine die Menschheitsgeschichte begleitende „Koexistenz von Gut und Böse“ analysiert, sondern betont, dass „die Geschichte des Menschen von Anfang an gekennzeichnet ist durch die Grenze, welche der Schöpfergott dem Bösen setzt“. Stärker als die Ursünde, die der Papst in Anlehnung an Augustinus als „Eigenliebe bis hin zur Gottesverachtung“ charakterisiert, ist immer ihre Überwindung in Christi „Gottesliebe bis hin zur eigenen Geringschätzung“. Deshalb bleibe jenen, die dem Bösen und seinen Aktionen ausgeliefert sind, „als Quelle geistiger Selbstverteidigung und als Siegesverheißung nichts anderes als Christus und sein Kreuz“.

Nationale und europäische Idendität

Kirchengeschichtlich interessant ist das Buch, weil der Papst hier in einer sehr persönlichen Weise viele seiner Enzykliken in einen geistes- und zeitgeschichtlichen Kontext stellt. Und schließlich ist dieses neu erschienene Buch auch von kulturgeschichtlicher Relevanz, weil Johannes Paul II. hier über die Bedeutung der nationalen – insbesondere der ihm so vertrauten polnischen – wie der gesamteuropäischen Kultur, über Patriotismus und Nationwerdung, über nationale und europäische Identität nachdenkt.
Der rote Faden dieses außergewöhnlichen Pontifikates gibt auch diesem ungewöhnlichen Papst-Buch seinen bleibenden Wert: Wieder erweist sich Johannes Paul II. als der christliche Deuter des Wesens des Menschen, als Philosoph menschlicher Freiheit und Würde. Der heute in primitivem und teils zerstörerischem Liberalismus gewandeten Aufklärungsphilosophie hält er die These entgegen, dass der Mensch sich selbst, seine Würde und seine wahre Freiheit niemals in der Loslösung vom Schöpfergott gewinnt: „Die Freiheit wird dem Menschen vom Schöpfer gegeben als Gabe und Aufgabe zugleich. Der Mensch ist nämlich dazu berufen, mit seiner Freiheit dieWahrheit über das Gute anzunehmenund zu verwirklichen.“


Johannes Paul II.: „Erinnerung und Identität.
Gespräche an der Schwelle zwischen den Jahrtausenden“,
Weltbild, 224 Seiten, Euro 14,90.

 
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