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Schönreden hilft nicht

Von Dr. Angelika Willig

Burnout und seine unheimliche Verwandtschaft

Das Thema „Burnout“ ist heikel. Viele sind davon betroffen oder fühlen sich betroffen. Sie haben mit diesem neuen Anglizismus einen Begriff für ihr Leiden – oder sagen wir lieber: für ihr Problem – gefunden und möchten gern daran festhalten. Wer nun behaupten will, daß es ein „Burnout“ gar nicht gibt, daß dieser Ausdruck im höchsten Grade irreführend ist, gerät leicht in den Verdacht, seelische Leiden als Hypochondrie oder gar als Simulation zu negieren: „Die Leute sind ja bloß bequem und selbstmitleidig!“

Doch negieren wollen wir nicht. Die Beschwerden, die beim Burnout beschrieben werden, sind durchaus real. Sicher gibt es Simulanten, aber von denen reden wir hier nicht. Wir reden auch nicht davon, daß bei psychischen Krankheiten ein Betrug leichter fällt, weil es hier keine objektiven Befunde, keine überprüfbaren Laborergebnisse gibt. Das gilt nicht nur für umstrittene Diagnosen wie Burnout, sondern auch für handfeste Geisteskrankheiten wie die Schizophrenie. Auch hier fehlt jeder meßbare Nachweis, sogar die Hirnströme, soweit sie im EEG (Elektro-Enzephalo-Gramm) darstellbar sind, zeigen keine Auffälligkeit. Psychische Krankheiten diagnostiziert man anhand der Beobachtung des Patienten und anhand seiner Aussagen. Verhalten und Aussagen sind jedoch – im Unterschied zu Laborwerten – vom Patienten bewußt manipulierbar. Nicht zufällig hat sich der junge Felix Krull im Roman von Thomas Mann dem Wehrdienst durch die Simulation einer Geisteskrankheit entzogen und nicht – zum Beispiel – eines verkürzten Beines. Das kann man nämlich nachmessen.
Wir müssen annehmen, daß ein Teil der in den letzten Jahren so angestiegenen Krankschreibungen wegen psychischer Krankheiten auf Drückebergerei, teils im Einverständnis mit dem Arzt, teils durch Irreführung des Arztes zurückzuführen sind. Je mehr die Leute über solche Krankheiten erfahren, desto leichter wird es, auf diesem Gebiet als „Hochstapler“ aufzutreten. Wie viele das sind, läßt sich kaum einschätzen. Persönlich hat man allerdings den Eindruck, daß die diffusen seelischen Symptome tatsächlich zunehmen. Dieser Eindruck kommt meist von den eigenen Bekannten. Auch unter ihnen gibt es immer mehr Betroffene. Und von denen weiß man genau und kann es aus nächster Nähe beobachten, daß sie wirklich krank sind. Oder sich zumindest so fühlen, als ob sie krank wären. Sie sind keine Simulanten, sondern in den Sog einer geheimnisvollen Macht geraten, die sie immer weiter nach unten zieht. Oder immer öfter: manche erholen sich schnell, um bald wieder „Probleme“ zu bekommen.
Hat man das Phänomen zunächst einmal als real erklärt, so fragt es sich, wie weit die Bezeichnung „Burnout“ diesem Phänomen angemessen ist. Der Begriff entstand bei der Beschäftigung mit einem ganz bestimmten Berufszweig. Man hatte festgestellt, daß Angehörige der „helfenden Berufe“ wie Krankenschwestern, Altenpfleger, Sozialarbeiter, Erzieher und ähnliche anfangs oft sehr motiviert sind und sich frohgemut in ihre Tätigkeit stürzen, aber nach einigen Jahren erschreckend nachlassen und schließlich mit Symptomen wie Schlaflosigkeit, Übelkeit, Kopfschmerzen oder gar Angstzuständen sowie mit einem unüberwindlichen Gefühl der Lustlosigkeit und Verzagtheit reagieren. Hier haben wir die Hauptkennzeichen des „Burnout“, und so wurde die seltsame Berufskrankheit denn auch bezeichnet. Das Modell, das die Psychologen dazu aufstellten, besteht in einer fortwährenden (schlimmstenfalls täglichen) Frustration, von der die eigene Motivation mit der Zeit aufgezehrt wird, wie ein Feuer alles aufzehrt, was mit ihm in Berührung kommt. Daher der Ausdruck „ausgebrannt“.

„Helfende Berufe“ besonders betroffen

Nun ist die „Frustration“ in den helfenden Berufen besonders groß, weil die Patienten bzw. Klienten auf Grund ihrer eigenen Schwäche nicht in der Lage sind, auch nur annähernd zurückzugeben, was sie an Zuwendung erfahren. Dieses Feed-back-Defizit betrifft besonders die untergeordneten Tätigkeiten, also mehr Schwestern und Pfleger als Ärzte, weil diese mehr mit den Patienten direkt zu tun haben und mehr Zeit mit ihnen verbringen. Und nun kommt die erste politische Vermutung, die wir in diesem Zusammenhang aufstellen. Wir haben nämlich den Eindruck, daß die Tätigkeit von Krankenschwestern und Kindergärtnerinnen zum Beispiel in früheren Zeiten leichter oder auch befriedigender gewesen ist als heute. Und daß deshalb das Phänomen des „Burnout“ noch nicht auftauchte. Der Grund liegt in dem Autoritätsverhältnis, das früher zwischen den Helfern und den Hilfsempfängern bestanden hat. Entsprechend zu der ungleichen Verteilung von Stärke und Schwäche hatten die Hilfsempfänger eher demütig und folgsam gegenüber den professionellen Helfern zu sein. Inzwischen aber darf der Helfer sich seine Überlegenheit nicht mehr anmerken lassen. Er muß helfen, aber zugleich den Eindruck erwecken, daß er mit dem Schwächeren auf einer Stufe stehe. Er darf keinerlei Unterordnung oder Anerkennung verlangen. Er muß, kurz gesagt, investieren, ohne – abgesehen von dem meist niedrigen Gehalt – etwas zurückzubekommen. Und das erzeugt den bekannten „Frust“.
Am Anfang hat der junge Erzieher die Vorstellung, er könne die Jugendlichen für sich begeistern und durch immer neue Aktivitäten bei der Stange halten. Das sind normale Illusionen. Wenn sich aber herausstellt, daß diese Vorstellungen unrealistisch sind, blieb ihm früher immer noch das Bestehen auf Autorität und Gehorsam. Heute bleibt ihm nichts. Er fühlt sich als Versager und reagiert mit depressiven Stimmungen.
Der Begriff „Burnout“ hat einen großen Vorteil: er suggeriert, daß die Störung durch eine Art Überbeanspruchung entstanden ist, also durch ein Zuviel an produktiver Tätigkeit. Dadurch erhält er etwas Positives, was sich Betroffene gern gefallen lassen, weil sie dann selbst als übermäßig tüchtige Leistungsträger erscheinen, die nicht auf ihre Gesundheit geachtet haben und infolgedessen „zusammengeklappt“ sind. Das Wort erzeugt die Vorstellung von einem Bergsteiger, der nach dem Besteigen des Mount Everest erschöpft zusammenbricht und den Rückweg nicht mehr schafft. Das ist irreführend. Das Hauptmerkmal dessen, was als Burnout bezeichnet wird, ist die Frustration, also das Gefühl, daß die eigene Anstrengung umsonst ist. Die Erschöpfung rührt nicht von einer besonderen Leistung her, sondern von dem Eindruck, zwar viel getan, aber wenig geleistet zu haben. Deshalb ist es durchaus angebracht, die besagten Zustände als „Depression“ zu bezeichnen.
Für Ärzte gibt es eine Tabelle, in der alle Krankheiten nummeriert aufgeführt sind. Sie wird regelmäßig aktualisiert, derzeit gültig ist die „ICD10“ (International Classification of Diseases No. 10). In der ICD10 ist das Burnout nicht aufgeführt, medizinisch gibt es diese Krankheit überhaupt nicht. Was die Ärzte bei den entsprechenden Krankschreibungen eintragen, ist meist die „leichte Depression“ (F 32.0) mit den gleichen Symptomen. Warum bezeichnet man das Burnout dann nicht als Depression? Dafür gibt es zwei Gründe, eine verständliche und eine eher verdächtige Erwägung. Depressionen treten in ganz unterschiedlichen Formen und aus unterschiedlichen Gründen auf. Eine schwere endogene Depression (major depression (F 32.2 und 32.3) ist eine ernste, ja lebensgefährliche Krankheit, die mit den verbreiteten psychischen Problemen kaum zu vergleichen ist. Daher scheut man sich, hierfür das gleiche Wort zu verwenden.
Damit ist allerdings auch eine Verharmlosung verbunden. Wenn man die verbreiteten Störungen nicht als Depression bezeichnet, sondern „nur“ als Burnout, dann ist es auch keine richtige Krankheit, sondern eine „Überarbeitung“, die man schnell in den Griff kriegt – ohne Klinik und ohne Medikamente. Diesen Eindruck zu erzeugen, haben viele Betroffene ein Interesse, weil sie zwar mit ihren Beschwerden ernst genommen, aber auf keinen Fall als „Psycho“ abgestempelt und womöglich aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden wollen. Hier ist das Burnout das ideale Etikett. Interesse an einer solchen Verharmlosung haben aber auch diejenigen, die sich nicht mit der echten „Volkskrankheit Depression“ auseinandersetzen möchten.

Spaßgesellschaft und Depression

Die negative und bedrohliche Ausstrahlung, die das Wort „Depression“ hat, soll den einzelnen nicht belasten, aber auch nicht eine Gesellschaft, in der angeblich alle so viel Spaß haben, weil jeder sich selbst verwirklichen darf. Da kann es zwar passieren, daß man sich zu viel abfordert, sich ein bißchen „übernimmt“, sich keine Pausen gönnt oder zu wenig Anerkennung bekommt – solche Erscheinungen sind in einer Spaßgesellschaft erklärlich, ja manchmal verstärken sie den Eindruck noch, daß hier ein nahezu atemloses Leben und Treiben herrscht, eine überschäumende Aktivität. Insofern ist das „Burnout“ eine Modekrankheit, ein Label, das sich der einzelne und auch die Gesellschaft insgesamt gern beilegt, um dahinter einen viel schlimmeren Befund zu verbergen.
Bevor die Burnout-Hysterie ausgebrach, ist bemerkenswert viel und offen von der „neuen Volkskrankheit Depression“ die Rede gewesen. Den Höhepunkt dieser Phase kollektiver Selbsterkenntnis bildete der Suizid des Fußball-Torwarts Robert Enke, zu dessen Trauerfeier sich hunderttausend Menschen im Stadion versammelten. Die Identifikation mit Enke nahm Formen an, die beinahe vermuten ließen, Hunderttausende ständen ebenfalls kurz vor dem furchtbaren Schritt. Auch die hochschnellende Verbreitung von Antidepressiva spricht für die Betroffenheit ganzer Bevölkerungsteile. Nun war die Erkrankung von Enke nach allem, was davon in die Öffentlichkeit drang, ganz sicher kein „Burnout“, sondern eine schwere und wiederkehrende Depression. Und dabei muß auch von einer genetischen Veranlagung („Disposition“) ausgegangen werden. Trotzdem ist der Fall symptomatisch. Auch Enke ist nämlich nicht durch Überforderung krank geworden, sondern durch die Vergeblichkeit seines Strebens. Einer zweifellos vorhandenen Begabung entsprach nicht der erhoffte gleichbleibende Erfolg.

Manie als Dauerzustand

Nun ist diese Diskrepanz zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit eine ganz normale Erscheinung des Lebens. Die meisten Begabungen kommen aus irgendwelchen Gründen nicht richtig zum Zuge, die meisten Pläne können nicht in die Tat umgesetzt werden. Mit dieser Tatsache können die Menschen sich aber nicht mehr abfinden. Es fehlt die Fähigkeit zur „gesunden“ Resignation. Diese Fähigkeit ist nur zu einem Teil angeboren. Vor allem muß sie erlernt werden, indem dem Kind und Jugendlichen die eigenen Grenzen und die Grenzen der Realität aufgezeigt werden. Zu unserem Gesellschaftstypus, wo Veränderung, Kreativität, Flexibilität und Mobilität ständig gefordert sind, gehört es zu den Grundtugenden, alles für möglich zu halten – besonders im Hinblick auf die eigenen Erfolge.
Zur klassischen (endogenen) Depression gehört das Spiegelbild der Manie. Der manische Zustand ist gekennzeichnet von Selbstüberschätzung, Kaufsucht, Rededrang, Reisefieber und Ruhelosigkeit. Dieses Krankheitsbild schlägt bei den betroffenen Patienten, die man als „bipolar“ bezeichnet, regelmäßig in eine tiefe Depression um. Diese Phänomene, die extreme Formen annehmen können, gehören ins Gebiet der Psychiatrie. Gesellschaftlich ist aber inzwischen eine leichte Form von Manie geradezu zum Idealbild des modernen Menschen geworden. Wer diese Eigenschaften nicht hat, bekommt auf jeden Fall Schwierigkeit, sich „gut zu verkaufen“. Jugendlichen werden Selbstüberschätzung, Rededrang und Kaufsucht geradezu antrainiert. Es kann aber keine manische Gesellschaft geben ohne depressive Phasen. Das Hinabsinken in Selbstverachtung, Apathie und Angst zeugt nur davon, daß man sich an den falschen Idealen gemessen hat. Die bescheidenen, haltbaren Strukturen, in denen früher das Leben der meisten Menschen verlief, sind aufgelöst oder werden gesprengt. Dann bleibt nur noch das, was ich aus mir selber tun und schaffen kann. Und das ist bei den meisten nicht allzu viel.

„Das erschöpfte Selbst“

Im Jahre 2004 erschien von dem französischen Soziologen Alain Ehrenberg der vieldiskutierte Titel „Das erschöpfte Selbst“. Das Buch ist kompliziert und wissenschaftlich geschrieben, enthält aber die Erkenntnis, daß die Depression sich von einer organischen Erkrankung zum allgegenwärtigen gesellschaftlichen Leiden entwickelt hat. Der Grund liegt für Ehrenberg in dem Übergang von der „repressiven“ zur „permissiven“ Gesellschaft, die „das authentische Selbst zur Produktivkraft macht und es damit bis zur Erschöpfung fordert“. Es ist die „allgegenwärtige Erwartung von eigenverantwortlicher, authentischer Selbstverwirklichung“, die den einzelnen in die bekannte Symptomatik treibt. Nicht die konkrete Forderung, die vom Arbeitgeber kommt, führt zum Zusammenbruch, sondern die diffuse Erwartung von uns selbst und anderen, ein tolles Leben zu führen und ständig Erfolge zu feiern. So erklärt sich auch, weshalb einerseits die Leistung vielerorts immer mehr nachläßt, das Gefühl des Drucks hingegen immer mehr zunimmt. Es fehlt die Struktur, und es fehlen die konkreten begrenzten Anforderungen, die erfüllbar sind. So ergibt sich keine Zufriedenheit, sondern immer nur „der gleiche Frust“. Es ist der alte Witz von den Kindern im antiautoritären Kinderladen, die angstvoll fragen: „Müssen wir heute wieder machen, was wir wollen?“

Gefährliche Verharmlosung

Weil er diese wichtigen und vielsagenden Phänomene zuzudecken versucht, ist der modische Begriff Burnout gefährlich. Er erinnert an die „Manager-Krankheit“ in den 60er und 70er Jahren. Zunächst einmal fühlte sich der Kranke befördert von einem überlasteten Angestellten zum „Manager“, der mit seinen weitreichenden Kompetenzen nicht mehr klar kommt. Die ungesunde Lebensweise, die häufig hinter den Herz-Kreislauf-Erkrankungen und dem gefürchteten Herzinfarkt steckt, hat aber wenig mit qualifizierter Tätigkeit und umso mehr mit Mißerfolgen zu tun, die mit Alkohol und übermäßigem Essen kompensiert werden. Die echten Spitzenmanager sind meistens schlank und treiben Sport. Und wer tatsächlich von seiner Arbeit „besessen“ ist, bekommen auch keine Depression. Die meisten Antidepressiva werden an Langzeitarbeitslose verschrieben. Von „Burnout“ kann hier wohl nicht die Rede sein. Eher vom Alleinsein mit einem Lebensanspruch, der mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hat.
„Depression“ heißt übersetzt Niedergedrücktheit. Ein schwaches Wort für das, was sich an Qual dahinter verbirgt. Doch falsch ist das Wort nicht. Es ist verwandt mit der Demut – einer Vokabel, die heute kaum noch verwendet wird. Demut ist das Gegenteil von Hochmut und kommt „nach dem Fall“. Als Sturz aus falscher Höhe sollte eine seelische Erkrankung vor allem wahrgenommen werden. Dieser Sturz betrifft aber längst nicht nur einzelne, sondern die allgemein zu hoch geschraubte Erwartung ans Leben, an Partnerschaft, an Attraktivität, an Einkommen, an Jugend, an die eigene Begabung. Die „große Depression“ erfaßt immer mehr Lebensbereiche. Und das ist gar nicht so schlecht, wenn damit ein Umdenken verbunden ist. Gerade deshalb kommt es darauf an, sich diese Erfahrung nicht schönzureden. Da sind nicht große Arsenale „ausgebrannt“, die nun durch Päppeln wieder aufgefüllt werden müssen. Da ist vielmehr ein Defizit sichtbar geworden, ein existentieller Mangel, der vorher kaschiert worden war. Es ist der jeweils persönliche Mangel und der Mangel, der dem Menschen überhaupt anhaftet.

 

 

 

 
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