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Die Königswahl von 911

Von Ulrich March

Auftakt zur deutschen Geschichte

Am 7. November 911, vor 1100 Jahren, wählen die Stammesvertreter der Franken, Sachsen, Alemannen und Bayern in Forchheim bei Nürnberg den Frankenherzog Konrad zum ersten deutschen König. Sie legen damit die Grundlagen deutscher Staatlichkeit, die seither, von den Jahren 1945 bis 1991 abgesehen, faktisch nie erloschen ist.

Auch wenn der Begriff „deutsch“ bereits seit dem Jahre 786 auftritt, auch wenn das Zusammengehörigkeitsgefühl der mitteleuropäischen Germanenstämme seit der Mitte des 9. Jahrhunderts erkennbar zugenommen hat, so kann man doch erst seit dem Wahlakt von 911 von einer eigentlichen deutschen Geschichte sprechen.
Anlaß für die Forchheimer Versammlung ist der Tod König Ludwigs IV., mit dem die ostfränkische Linie der karolingischen Dynastie ausgestorben ist. Es handelt sich um eine bedeutsame Entscheidungssituation, um eine historische Weichenstellung, denn den Stammesverbänden bieten sich damals drei grundverschiedene Optionen an.

Die partikularistische Option

Die Stämme des ostfränkischen Reiches hätten 911 ohne weiteres auf die Wahl eines gemeinsamen Herrschers verzichten können. Eine solche Lösung, von den Herzögen aus persönlichem Machtinteresse gewiß erwogen, hätte durchaus im Zuge der politischen Entwicklung gelegen. Denn die Stämme, zu denen auch die in Forchheim nicht vertretenen Friesen und die Thüringer gehören, haben gerade damals wieder stark an Bedeutung gewonnen. Entstanden zumeist bereits im 3. Jahrhundert durch den Zusammenschluß älterer Kleinstämme, stellen sie ethnische Einheiten dar, die bis zum Aufstieg des fränkischen Großreichs zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert das politische Geschehen in Mitteleuropa bestimmen. Trotz enger Verwandtschaft haben sie jeweils eigenständigen Charakter, der in Sprache, Kultur und Mentalität zum Ausdruck kommt und bis heute erkennbar geblieben ist.
Zwar haben mit der Unterwerfung der Bayern und der Sachsen durch Karl den Großen auch die beiden letzten Stämme ihre Selbstständigkeit verloren, doch kommt es seit der Mitte des 9. Jahrhunderts zu einer politischen Renaissance, da sich die späteren karolingischen Herrscher vor allem nach der Reichsteilung von Verdun (843) vielfach als unfähig erweisen, die gerade damals erstarkenden äußeren Feinde – besonders die Slawen, die Normannen und die Ungarn – abzuwehren. Die Landesverteidigung muß daher notgedrungen aus der jeweils betroffenen Region heraus geführt werden. In diesem Zusammenhang konstituieren sich die Stämme erneut auch in politischer Hinsicht, wobei, von den Friesen abgesehen, eine im Abwehrkampf besonders bewährte Adelsfamilie die jeweilige Herzogswürde erringt.
Hätten die ostfränkischen Stämme 911 auf die Wahl eines gemeinsamen Herrschers verzichtet und damit die volle Selbstständigkeit erreicht, wäre mit einiger Wahrscheinlichkeit in der Folgezeit in Mitteleuropa statt eines großen eine Reihe kleinerer Völker entstanden. Nach Größe und Gebietsfläche sind die Stämme damals wie heute durchaus mit skandinavischen oder balkanischen Völkern vergleichbar. So umfaßt etwa das Siedlungsgebiet der Bayern, das sich im Hochmittelalter bis zur Drau und zur Leitha ausweiten sollte, schon im 7. Jahrhundert den Donauraum zwischen Lech und Enns und das südlich angrenzende Alpengebiet bis zur Salurner Klause, reicht also über den Alpenhauptkamm hinaus. Die Sachsen siedeln zwischen der deutsch-dänischen und der hochdeutsch-niederdeutschen Sprachgrenze und nehmen damit den größten Teil der Norddeutschen Tiefebene ein; über ihr Stammesgebiet erstrecken sich ganz oder teilweise sechs der sechzehn heutigen deutschen Bundesländer. Auch in Anbetracht des Sprachunterschiedes zu den südlicheren Stämmen hätten sich die Niederdeutschen ohne weiteres zu einer eigenständigen Nation entwickeln können, ebenso wie die Friesen, deren Sprache bis heute dem Englischen nähersteht als dem Deutschen. Eine solche Entwicklung stellt jedoch bereits wenige Jahre nach der Forchheimer Versammlung keine historische Perspektive mehr dar, da bei der zweiten deutschen Königswahl von 919 die sächsische Herzogsdynastie der Ottonen für länger als ein Jahrhundert zum Zuge kommt, der politische Aufstieg des Reiches sich also unter norddeutscher Führung vollzieht.

Die fränkisch-karolingische Option

Im Jahre 943 teilen die Söhne Kaiser Ludwigs des Frommen und Enkel Karls des Großen das Frankenreich unter sich auf. Karl der Kahle erhält den größten Teil des heutigen Frankreichs, Ludwig der Deutsche die Gebiete östlich des Rheins, Lothar Mittel- und Oberitalien und zusätzlich einen verhältnismäßig schmalen Gebietsstreifen zwischen Friesland und der Provence. Auch wenn diesem Kunstgebilde aus ethnischen und geopolitischen Gründen keine Zukunft beschieden ist, zeichnen sich damit doch im Prinzip die späteren Nationalstaaten Deutschland, Frankreich und Italien ab. Der nördliche Gebietsstreifen, von Franken, Friesen und Franzosen besiedelt, fällt später an das Reich, das damit seine von der Schelde zur Rhone verlaufende Westgrenze erhält, die bis zum 17. Jahrhundert unangetastet bleibt.
Mit der Teilung von 943 ist die Kraft der karolingischen Dynastie weitgehend zersplittert und damit geschwächt. Um die gleiche Zeit geraten alle drei Reichsteile unter starken äußeren Druck – innere Schwäche und Bedrohung von außen bedingen einander. Besonders im Elbe-Saale-Raum drängen die Slawen nach Westen, die Normannen dringen immer wieder in die Nordgebiete des ost- und vor allem des westfränkischen Reiches ein und setzen sich Anfang des 10. Jahrhunderts auf Dauer in der Normandie fest. Die größte Gefahr geht von den Ungarn aus, die nicht nur die kurz zuvor in Gang gekommene bayerische Ostsiedlung in Niederösterreich und Kärnten stoppen, sondern beträchtliche Regionen Italiens, Bayerns und Schwabens durch regelmäßige Raub- und Plünderungszüge in Furcht und Schrecken versetzen.
Die Nachfahren Karls des Großen sind somit nicht fähig, in den jeweiligen Teilreichen Leib und Leben ihrer Untertanen zu schützen und damit ihre primäre Herrscherpflicht zu erfüllen. Es stellt sich die Frage, ob die Dinge eine andere Wendung genommen hätten, wenn sich die Wähler von Forchheim für den westfränkischen König Karl III. und damit für eine Wiedervereinigung West- und Ostfrankens entschieden hätten. Wäre ein erneutes Erstarken der karolingischen Dynastie möglich gewesen, wenn sie wieder über den weitaus größten Teil des Reiches Karls des Großen verfügt hätte?
Sicher ist nur, daß sich Mitteleuropa stärker nach Westen hin orientiert hätte, wenn die ostfränkischen Stämme 911 keine eigene Monarchie begründet hätten. Wie stark eine solche Westorientierung in geistiger und politischer Hinsicht zum Ausdruck gekommen wäre, läßt sich nicht abschätzen. Angesichts der Schwäche des französischen Königtums, das bis 987 bei den Karolingern verbleibt und dann auf die Kapetinger übergeht, spricht wenig für eine große Sogwirkung auf die östlichen Stammesgebiete. Andererseits hat die Geschichte ja wiederholt gezeigt, daß von Frankreich starke Impulse für die Gestaltung überregionaler Ordnungen ausgegangen sind, während der Regierungszeit Ludwigs XIV. etwa, mehr noch im Zeitalter der Revolution und Napoleons, ansatzweise noch unter de Gaulle.

Die „deutsche“ Option

Die Stammesverbände haben 911 in Forchheim weder für die partikularistische noch für die großfränkische Lösung votiert. Die Ablehnung dieser Optionen zeigt, daß ihr Gemeinschaftsbewußtsein, das sie in der Folgezeit zum deutschen Volk werden läßt, zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich entwickelt ist. Entscheidend sind aber letztlich wohl nicht geistig-kulturelle, sondern vorwiegend politische Gründe gewesen. Das gemeinsame Königtum verbessert die Möglichkeiten der Landesverteidigung erheblich – in jenen Zeiten sicherlich ein gewichtiges Argument. Andererseits ist es den Herzögen sicherlich lieber, daß einer der Ihren gleichsam als „primus inter pares“ regiert, als daß eine in ihrem politischen Vorgehen schwer abzuschätzende fremde Dynastie zum Zuge kommt. Aus heutiger Sicht werden damals die Voraussetzungen eines – modern gesprochen – föderal strukturierten Großstaats auf nationaler Grundlage geschaffen. Daß ihre Entscheidung den Weg für eine solche Entwicklung freimachen könnte, ist den in Forchheim Versammelten sicherlich kaum bewußt gewesen.
Zunächst sieht es auch ganz und gar nicht danach aus. Der erste deutsche König Konrad I. treibt vielmehr eine Politik im Stil der karolingischen Großreichstradition und stößt damit natürlich auf den massiven Widerstand der anderen Herzöge, so daß er während seiner Regierungszeit wenig Sinnvolles zustande bringt. Seine – menschlich wie politisch – größte Leistung besteht darin, daß er auf dem Sterbebett seinen erbittertsten Gegner, Herzog Heinrich von Sachsen, zu seinem Nachfolger vorschlägt.
Erst mit dessen Wahl zum zweiten deutschen König (919 in Fritzlar) beginnt das Konzept von Forchheim zu greifen. Diese Wahl stellt einen Glücksfall für die deutsche Geschichte dar, nicht nur, weil dadurch von vornherein die Niederdeutschen in das politische Gesamtgeschehen mit einbezogen werden. König Heinrich I. leitet mit seiner Politik des Augenmaßes, der Beharrlichkeit und des Respekts gegenüber allen ihm unterstehenden Stämmen den Aufstieg des jungen deutschen Königreichs ein, das bereits unter seinem Sohn Otto I. die politische Führungsrolle in Europa übernimmt, die es bis Mitte des 13. Jahrhunderts behalten sollte. Sinnfällig kommt dies dadurch zum Ausdruck, daß seit der Kaisererhebung Ottos des Großen, die im Jahre 962, also etwa fünfzig Jahre nach Forchheim, stattfindet, der jeweilige deutsche König zum römischen Kaiser gekrönt wird und damit die Rolle eines Schutzherrn der gesamten abendländischen Christenheit übernimmt.
Es sind diese Jahrhunderte gewesen, die das Bewußtsein der politisch denkenden Deutschen in starkem Maße geprägt und das Gefühl der Zusammengehörigkeit gefestigt haben. Beginnend mit der Ottonenzeit, wachsen die Deutschen allmählich zu einem einzigen Volk zusammen, während die Stämme in zunehmendem Maße nur mehr als ethnische Untereinheiten aufgefaßt werden. Sowohl das National- als auch das Stammesbewußtsein bleiben auch in der Folgezeit erhalten, obwohl im Spätmittelalter mit der Territorialisierung nun doch eine bis ins 19. Jahrhundert andauernde politische Zersplitterung Mitteleuropas einsetzt, die vor 1100 Jahren in Forchheim ausdrücklich nicht gewollt war.

 

 

 
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