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Ehrenrettung für Thomas Man

Von Dr. Angelika Willig

Zur „Literatur aus der Schuldkolonie“

Im neuen Kaplaken-Band Nr. 20, „Literatur aus der Schuldkolonie“, hat Thorsten Hinz die deutsche Literatur nach 1945 an ihrem eigenen Anspruch gemessen. Die deutsche Literatur nach 1945 ist weitgehend „Bewältigungsliteratur“. Vielleicht ist das gar nicht so falsch: Wer große und tiefgreifende Erfahrungen gemacht hat, kann eine Weile von nichts anderem sprechen. Der Ausdruck „Bewältigung“ stammt aus der Psychologie und bezieht sich auf ein „Trauma“, eine seelische Verletzung. Hinz weist nicht zuletzt darauf hin, daß der Bombenkrieg eine noch immer nicht „bewältigte“ Erfahrung sei.

Wenn es allerdings in der Psychotherapie warnend heißt: „Ratschläge sind auch Schläge“, so muß man wohl ebenso feststellen: „Bewältigung ist auch eine Form von Gewalt“ – zumindest, wenn die Einordnung und Bewertung des Traumas dem Patienten immer schon vorgegeben ist.­Das Fremdbestimmte drückt sich in der Kunst durch formale Kennzeichen aus, die nicht jeder zu deuten vermag. Es genügt darum nicht festzustellen, daß Heinrich Böll, der vielleicht bekannteste deutsche Nachkriegsautor, in Romanen wie „Ansichten eines Clowns“ oder „Gruppenbild mit Dame“ stets und ständig auf die nationalsozialistische „Belastung“ und „Verquickung“ der Deutschen und insbesondere der katholischen Kirche zurückkommt und dies zum tragenden Motiv seiner Handlung macht. Das darf er tun. Genauso wie ein Dichter überzeugter Katholik, Kommunist oder sogar Nationalsozialist sein darf, dürfte er selbstverständlich auch Antifaschist sein. Seltsam ist nur, daß bei der Bewältigungsliteratur, die nach 1945 so eifrig gefördert wurde, nicht ein einziges literarisch überzeugendes Werk herausgekommen ist. Auf dieses Phänomen kommt es dem germanistisch ausgewiesen Hinz in seiner Untersuchung an: daß die literarische Aneignung der Zeit zwischen 1933 und 1945 trotz aller Vorsätze niemals stattgefunden hat.­

Deutscher Geist nur noch gereinigt­

Dabei definiert sich die deutsche Nachkriegszeit, und das gilt für den Westen genauso wie für die DDR, geradezu über ihre Dichter und Intellektuellen. Sie bezieht ihr Selbstverständnis aus einer Rehabilitierung des deutschen Geistes, die dann aber nicht stattfindet. Denn wenn sie stattfinden sollte, müßte man auch und gerade diejenigen Geistesströmungen wieder zulassen, die eben noch als „präfaschistisch“ gebrandmarkt wurden. Gegen die Brutalität von „Blut und Boden“ wollte man die Sensibilität der Dichtung stellen. Doch welche großen deutschen Dichter sind überhaupt frei von dem „deutschen Verhängnis“? An welche Tradition konnte die literarische „Umerziehung“ mit gutem Gewissen anknüpfen?­Schon Goethe hatte verdächtige Sätze geäußert wie „Der Handelnde ist immer gewissenlos“ und sich überdies gegen die Pressefreiheit und gegen die Demokratie ausgesprochen. Schiller ist zwar freiheitsliebend, war aber von den Nationalsozialisten besonders „vereinnahmt“ worden, Kleist hatte den „Prinzen von Homburg“ geschrieben, Hölderlin preist das Deutschtum in den höchsten Tönen. Es blieb immer nur Lessing mit seinem „Nathan“, durch den man die deutsche Literatur quasi neu begründen wollte. Die vorgeschriebene antifaschistische Haltung kam nicht ohne einen großen Bruch mit dem ganzen 19. Jahrhundert aus, das als „Sonderweg“ und damit als Irrtum abzutun war.­Damit hängt aber wohl auch die Flachheit der deutschen Nachkriegsliteratur zusammen. Etwa die Unfähigkeit von Günther Grass, dem Hinz durchaus große dichterische Fähigkeiten zubilligt, über seine eigenen Kindheitserinnerungen in Danzig hinauszukommen. Ein Dichter kann letztlich nichts aus dem hohlen Bauch erfinden, sondern muß neben biographischem Material auf die Motive und Mythen seiner Kultur zurückgreifen. Ist ihm dies aber verboten, weil er Deutscher ist, so drehen sich die Handlungsstränge wie die Fische in einem Aquarium immer um die gleichen Kurven.

Roman über die geistige ­Verführung­

Die einzige Möglichkeit, ein Buch zu schreiben, das im Sinne der Umerziehung funktioniert und zugleich aus der gefährlichen Vergangenheit schöpfen darf, wäre ein Buch über die Verführung des Geistes selbst. Diesen Weg hat Thomas Mann mit seinem Roman „Doktor Faustus“ beschritten. Und hat damit seine eigene Überzeugung bestätigt, daß der Künstler ein moralisch verdächtiges Subjekt und die Kunst eine „zweideutige“ Sache ist. Denn natürlich ist dieses Buch zweideutig: es grenzt sich vom „Faschismus“ deutlich ab und beschreibt zugleich dessen Faszination, um daraus die eigene literarische Anziehungskraft zu bilden. Für Thorsten Hinz ist dieses anspruchsvolle und raffinierte Vorgehen durchweg mißlungen. Den „Doktor Faustus“ bezeichnet das Kaplaken-Bändchen als „gigantische Camouflage“ und als „Über-Essayismus“. Weit davon entfernt, eine Ehrenrettung der Bewältigungsliteratur zu sein, wenigstens ein Buch, das sich mit der zu bewältigenden Materie ernsthaft einläßt, erscheint der Roman bei Hinz, wie auch bei anderen Thomas-Mann-Kennern, als peinliche Pflichtarbeit und typisches Erzeugnis eines selbstzufriedenen Emigranten.­Wir wollen dieser Ansicht zumindest teilweise widersprechen. Sicher ist „Doktor Faustus“ (1947) künstlerisch weit weniger gelungen als „Buddenbrooks“ (1901), als „Der Zauberberg“ (1924) oder Erzählungen wie „Tonio Kröger“ (1903) oder „Der Tod in Venedig“ (1912). Man muß sogar zugeben, daß das Buch über viele Seiten einfach langweilig ist – dafür sind andere Passagen aber desto spannender. Man müßte auch berücksichtigen, was Hinz insgesamt zu wenig tut, daß die Literatur im 20. Jahrhundert insgesamt an starken Auflösungserscheinungen leidet und die Gattung des Romans seit den „Buddenbrooks“ immer fragwürdiger geworden ist. Die Dichter klagen allenthalben darüber, daß es „nicht mehr möglich“ sei, einen Roman oder ein Gedicht zu schreiben – und zwar völlig unabhängig von Auschwitz. Die literarische Moderne kämpft mit sich selbst eine Art Todeskampf.­

Stilmittel der „ironischen ­Klischees“

­Der „Doktor Faustus“ ist als Roman sicher mißlungen. Die Handlung nimmt gegenüber den theoretischen Passagen viel zu wenig Raum ein, was schon beim „Zauberberg“ und noch mehr beim „Joseph“ (1933–43) zu beklagen war. Was Hinz vor allem kritisiert, ist die „kitschig“ geratene Gestalt des kleinen Echo, Neffe und Liebling des Komponisten Leverkühn. Wir können nicht finden, daß die Figur kitschiger ausfällt als zum Beispiel die Prostituierte in Form eines giftigen Schmetterlings oder die altdeutschen Stuben, die sich der Meister bei den „Schweigestills“ (sic!) einrichtet. Das Ganze ist der pure Kitsch, wenn man will. Genauso kann man aber auch herauslesen, daß der Autor sich über den Kitsch genau bewußt ist und ihn zielgerecht einsetzt. Es handelt sich um einen „ironischen Kitsch“, um an den früheren Thomas Mann anzuknüpfen. Er hat seine feine wohlwollende Ironie in eine „Camouflage“ umgewandelt – und auch das zielgerichtet. Denn die deutschen Klischees, die im „Faustus“ aufeinandergetürmt werden, sind genau jene Klischees, die man allgemein benutzt, um dem Deutschen eine eingewurzelte, ja angeborene nazistische Neigung zu unterstellen. Anstatt solchen Verdacht abzuwehren mit dem Hinweis: „wir haben doch auch Lessing und Heine und andere gute Geister hervorgebracht“, bestätigt der „Faustus“ die gesamten Anklagepunkte und treibt sie in die Höhe: „Ja, wir Deutschen haben einen Pakt mit dem Teufel geschlossen – und zwar schon vor Hitler!“­Der letzte ironische Dreh, den Mann dem allgegenwärtigen Faschismusverdacht gibt, ist die Titelfigur des Adrian Leverkühn, der als Person so gar nicht dem nationalsozialistischen Ideal entspricht, der hyperintellektuell und gemütsarm ist, hypermodern, was die künstlerischen Mittel betrifft, politisch indifferent und schließlich geisteskrank, und der trotzdem und gerade deshalb auf die Bahn gezwungen wird, die der Leser leicht als Vorstufe zum Nationalsozialismus erkennt. Der junge Adrian stammt aus einem guten, alten Geschlecht von Bauern und Handwerkern, entwickelt eine erstaunliche musikalische Begabung und läßt sich als freier Komponist auf dem Land in der Nähe Münchens nieder. Noch vor seinem 50. Lebensjahr verfällt er infolge einer Syphilisinfektion aus der Studentenzeit in eine bleibende geistige Umnachtung. Adrians Jugendfreund erzählt diese Lebensgeschichte im Rückblick und gibt dazwischen Hinweise über die inzwischen eingetretene Kriegssituation in Deutschland. Das ist schon alles. Mehr Handlung gibt es nicht. Und da jeder halbwegs Gebildete in der Krankengeschichte Adrians mitsamt seiner Migräne die Züge Friedrich Nietzsches wiedererkennen kann, so ist dem Autor wirklich nicht viel Konkretes eingefallen. Die 400 Seiten werden gefüllt mit geistigen Gesprächen und Erörterungen zu Adrians Kompositionen – die in Wirklichkeit nie geschrieben wurden. Anscheinend hat sich Thomas Mann dabei von dem anderen Emigranten Adorno beraten lassen. Das macht ihn für Konservative nicht gerade sympathischer.­

Kein Bruch zu den „Betrachtungen“ von 1918­

Die konservative Rezeption lobt normalerweise den Autor der „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918). Bald danach aber habe sich der Schriftsteller um seines Erfolgs willen auf die Seite des Parlamentarismus und Internationalismus gestellt.1929 erhielt er denn auch den Nobelpreis. Nach 1933 ist Mann in die USA emigriert und hat von da aus während des Krieges Reden gegen Deutschland gehalten und sich für den Sieg der Amerikaner eingesetzt. Schon am 9. 12. 1943 hieß es über den Rundfunk: „Das Erlebnis, das allein Deutschland zur Vernunft bringen kann“, ist das Erlebnis der „katastrophalen, unverleugbaren und handgreiflichen Niederlage“ und seine Besetzung, „um jede weitere Aggression unmöglich zu machen …“ Und im April 1942 nach der Bombardierung Lübecks erinnert sich Thomas Mann zwar daran, daß es sich um seine Vaterstadt handelt, fährt jedoch fort: Aber ich denke an Coventry – und habe nichts einzuwenden gegen die Lehre, daß alles bezahlt werden muß.“­Der Vorwurf des „Deutschenhasses“ mag stimmen für den privaten und auch den politischen Thomas Mann. Aber es gilt nicht für den Schriftsteller und Künstler. Da bleibt eine doppelte Kontinuität gewahrt. Einerseits nämlich ist auch der frühe Thomas Mann keineswegs identisch mit den nationalen Tönen seines allseits bekannten Aufsatzes. Denn national im Sinne von 1914 dürften doch diejenigen Deutschen sein, die sich in seinen Texten „Hermann Hagenström“ oder „Hans Hansen“ nennen. Diese gesunden, tüchtigen, fleißigen und, wenn es sein muß, auch harten Burschen aus dem Kaufmanns- und Soldatenstand macht der Dichter aber gerade nicht zu seinen Helden, sondern es sind der schwächliche, zweifelsüchtige, verträumte Hanno Buddenbrook oder der kritische, einsame, dunkle Tonio Kröger, die er seinen Lesern nahebringt. Auch „rassisch“ identifiziert sich Mann nicht mit den Blonden und Blauäugigen, sondern ausdrücklich mit dem südeuropäischen Gegentypus. Und obwohl er den Blonden, Blauäugigen seine Bewunderung zollt, muß er sie doch wegen ihrer vermeintlichen Geistlosigkeit auch verachten.­Die Wahrheit ist, daß sich der Schriftsteller Mann immer „ambivalent“, also zweideutig, verhält und nicht in eine Richtung einzuordnen ist. Vor 1918 nicht in die nationale und nachher nicht in die demokratische. Dazu braucht man nur den „Zauberberg“ gelesen zu haben, wo es auch schon um eine Verführung zum Bösen geht. Aber was ist eigentlich das Böse? Dabei bleibt der Dichter ganz im christlichen Rahmen: Das Böse ist das Fleischliche.

Geistfeindschaft gehört  zum Geistigen

­Das Delikate in diesem Roman besteht aber darin, daß die fleischliche Verführung nicht (oder nicht primär) als schöne Frau daherkommt, sondern in Form einer schlimmen Krankheit. Selbst in dieser Gestalt noch bietet es gewisse Vorteile, die manche Menschen unwiderstehlich anziehen. Doch was ist eigentlich das Deutsche, das Geistige oder das Primitive? In dieser entscheidenden Frage bleibt Mann wiederum ambivalent. Einerseits sind die handfesten kaufmännischen Interessen der Heimatboden von Hans Castorp, andererseits liegt ihm die Neigung zum Grübeln und zum geistigen Abenteuer ebenso im Blut. Vielleicht ist es gerade diese „Mittellage“, die Mann für typisch deutsch hält. Vor allem aber ist es immer wieder der Zwiespalt zwischen der künstlerischen Berufung und den bürgerlichen Werten, in denen er selbst aufgewachsen ist. Die Heirat mit der jüdisch-stämmigen Patriziertochter Katia Pringsheim (1905) gleicht diesen Zwiespalt weitgehend aus, denn nun kann er künstlerisch tätig sein und auf großem Fuße leben. Zugleich hat die Heirat mit Katia, mit der er mehrere Kinder hat, die Haltung zum Nationalsozialismus von vornherein entschieden. Kurz nach der Machtergreifung fordert Mann die neuen Herren durch einen Aufsatz über Richard Wagner heraus und nimmt den von Hitler verehrten Komponisten für die „Dekadenz“ in Anspruch.­Wenn es eine literarische Pflichtübung gibt, so sind es die Josephs-Romane, die von der Herkunft und Mission des jüdischen Volkes handeln, und das Judentum in Glanz und Gloria darstellen. Doch auch der Held, der biblische Joseph, steckt hier in dem alten Zwiespalt zwischen Geist und Körperlichkeit. Joseph ist ein ausgesprochen schöner Knabe, dessen Leben nicht zuletzt von der Vorliebe bestimmt wird, die man im allgemeinen für die Schönheit hegt. Zugleich aber drängt ihn sein Interesse zum Religiösen und Philosophischen, das nun wieder – anscheinend – Juden und Deutsche gemeinsam haben.

­Leverkühn steht für den deutschen Menschen­

Ja, auch Thomas Mann gehört zu den modernen Künstlern, in deren Werk sich kein anderer Gesamtsinn mehr ergibt als die eigene geschlossene Biographie. Alle Konflikte lassen sich, wenn man will, auch auf die eigenen familiären, finanziellen, sexuellen und sentimentalen Interessen zurückführen. Es gibt keine Zugehörigkeit zu einem objektiven Wertekanon mehr und daher auch keine eindeutige Weltanschauung. Doch der Dichter Mann hat ein ungeheures Talent, seine eigenen Vorlieben und Abneigungen mit dem ganzen europäischen und speziell deutschen Kulturkreis zu verknüpfen, so daß ihm doch noch eine Art „Bildungsroman“ gelingt – zum Teil sogar mit dem „Doktor Faustus“.­Die Spannung auf den handlungsarmen Seiten wird von dem existentiellen Konflikt des Helden aufrechterhalten. Fast jeder Leser kann diesen Konflikt unmittelbar nachvollziehen, denn wer diese Art Bücher liest, gehört automatisch zum gleichen Menschentyp des „seelenlosen Intellektuellen“, dem jede Identifikation schwer fällt. Ob es nun die Theologie ist, der sich Adrian zunächst verschreiben will, oder das Gebiet der Kunst, überall mangelt es an der notwendigen Begeisterung. Ohne Begeisterung aber bleibt alles gleichgültig oder wird sogar lächerlich. Ein produktives Arbeiten wird zunehmend unmöglich, und die Muße ist einem solchen Menschen ohnehin nicht gegeben. In gewisser Weise ähnelt Leverkühn der Titelfigur des „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil (erster Band 1930 erschienen, unvollendet). Während die Existenz von Ulrich aber zum Verdruß des Lesers ins Leere läuft, tritt im „Doktor Faustus“ ein Element ein, das die Situation grundlegend verändert.­

Schicksal Nietzsches als Modell­

Konkret beginnt diese Veränderung mit der Infektion, die sich Adrian in einem tschechischen Bordell zuzieht. Nicht naiv, sondern um das Risiko sehr genau wissend, nimmt er es auf sich, um buchstäblich um jeden Preis aus seiner einsamen und hoffnungslosen Lage herauszukommen. Im Lauf der Jahre und Jahrzehnte führt dann die Krankheit in seinem Gehirn zu Erscheinungen, die an den Wahnsinn erinnern, aber zugleich eine künstlerische Kreativität und Vitalität hervorrufen, die dem Charakter Leverkühns sonst unerreichbar gewesen wären. So wirkt es auch einigermaßen glaubwürdig, wenn das Zusammenwirken mythologisch mit einem Teufelspakt beschrieben wird. Wie beim originalen Faust geht es darum, einem reinen Geistesmenschen zur ursprünglichen Lebenskraft zu verhelfen – um den Preis seiner Seele.­Unschwer erkennt der Leser, daß es sich hier in Form einer Biographie um die grundlegende Problematik der Moderne handelt. Der menschliche Geist hat die Natur so gut unter Kontrolle gebracht, daß ihm die natürlichen Ressourcen außerhalb und in sich selbst – die eigenen Instinkte – verlorengeht. Wie Nietzsche es formulierte: „Die Wüste wächst“ – gemeint ist eine zunehmende Sterilität. Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, sucht der Mensch nach neuen, gefährlichen Mitteln und Wegen. Und der gefährlichste Weg weg von der Abstraktion hin zu den alten vitalen Quellen ist – zumindest in der Deutung von Thomas Mann – der Nationalsozialismus. Die Parallele zwischen dem Leben Leverkühns, seinem Teufelspakt und den fatalen Folgen kommt in dem Buch ständig indirekt zur Sprache, nämlich in den Schilderungen, die der Jugendfreund zwanzig Jahre später aus dem Kriegssituation heraus liefert. Es gibt allerdings keinen einzigen direkten Hinweis auf die Verbindung der beiden Handlungsstränge. Die Verbindung wird sogar immer wieder dadurch unterbrochen, daß Leverkühns so ausführlich beschriebene Werke gar nichts von „Blut und Boden“ haben, sondern wiederum höchst intellektuelle Konstruktionen sind, die in manchem sogar an die im Dritten Reich verfemte Zwölftonmusik erinnern. Und doch drängt sich der Eindruck unabweisbar auf, daß es sich hier um ein Stück „Bewältigungsliteratur“ handelt. Der Nationalsozialismus ist für Mann letztlich das Dämonische, und das Dämonische ist der falsche Gott.­

Begegnung mit dem Grauen

­Weiter kann eine Identifikation nicht gehen, die nicht die eigene Substanz riskieren will. Dem Nationalsozialismus gegenüber gibt es nur ein Entweder-Oder. Doch der Künstler hat sich sehr weit in die Nähe des „Ungeheuerlichen“ gewagt. Und das schon vor 1933: In dem berühmten Schnee-Kapitel im „Zauberberg“ unternimmt Hans Castorp, von der Bequemlichkeit des Sanatoriums angewidert, eines Nachmittags allein einen Ausflug auf Skiern in die tief verschneiten Berge. Die Schönheit dieser Umgebung verführt ihn zu immer weiterem Ausgreifen, schließlich verirrt er sich heillos und schläft im Schnee ein – wie er weiß ein lebensgefährlicher Fehler. In diesem beinahe Todesschlaf träumt Castorp von der Geburt der europäischen Zivilisation im klassischen Griechenland. Dann aber entdeckt er zu seinem Schrecken, wie hinter der griechischen Idylle die Barbarei – in diesem Fall zwei alte Hexen, die ein Kleinkind verzehren – lauert: „Mir träumte vom Stande des Menschen und seiner höflich-verständigen und ehrerbietigen Gemeinschaft, hinter der im Tempel das gräßliche Blutbad sich abspielt. Waren sie so höflich und reizend zueinander, die Sonnenleute, im stillen Hinblick auf eben dies Gräßliche?“ Die Barbarei ist also die eigentliche Wahrheit, der man sich aber gerade deshalb nicht hingeben, sondern gegen die man sich ständig wehren muß, durch Inanspruchnahme aller zivilisatorischen Mittel. Beim Erwachen nimmt Castorp sich vor: „Ich will dem Tode keine Herrschaft einräumen über meine Gedanken!“ Doch schon wenige Zeilen später heißt es einschränkend: „Ich will dem Tode Treue halten in meinem Herzen, doch mich hell erinnern, daß Treue zum Tode und Gewesenen nur Bosheit und finstere Wollust und Menschenfeindschaft ist, bestimmt sie unser Denken und Regieren. Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“

­Aufsatz über „Bruder Hitler“­

Ähnlich muß sich der Dichter irgendwann nach 1918 bewußt vorgenommen haben, sich auf die Seite der Moderne und der Rationalität zu stellen und gegen die Grausamkeit der Natur anzuschreiben – auch wenn es sich bei dieser Grausamkeit um eine verborgene Wahrheit handelt. Die formale und literarische Vollkommenheit geht bei dieser Anstrengung freilich immer mehr verloren, zugunsten eines schwer lesbaren Konvoluts, wie es andere zeitgenössische Autoren auch liefern.­Im Jahr 1938 schreibt Thomas Mann aus dem amerikanischen Exil einen kurzen Aufsatz mit dem Titel „Bruder Hitler“. Auch nach der Emigration besteht der Schriftsteller auf jenem Gefühl der Ambivalenz, das ihn mit einer noch so abschreckenden Gestalt verbindet. „Ein etwas unangenehmer und beschämender Bruder; er geht einem auf die Nerven, es ist eine reichlich peinliche Verwandtschaft. Ich will trotzdem die Augen nicht davor schließen, denn nochmals: besser, aufrichtiger, heiterer und produktiver als der Haß ist das Sich-Wieder-erkennen, die Bereitschaft zur Selbstvereinigung mit dem Hassenswerten, möge sie auch die moralische Gefahr mit sich bringen, das Neinsagen zu verlernen.“­Der Literaturnobelpreisträger geht so weit zuzugeben, wie der unverstellte Blick auf Hitler und den NS „die Gefahr mit sich bringe“, dazu „ja“ zu sagen. Wie man dieser Gefahr begegnet, sagt Thomas Mann auch – nämlich nicht mit Argumenten, sondern mit einer entsprechenden inneren Haltung. „Mir ist nicht bange deswegen“, endet sein Text. Der „Doktor Faustus“ sollte dann ansetzen mit der Gestalt des Jugendfreundes Serenus Zeitblom, einem ausgeglichenen, etwas beschränkten Charakter von klassischer Heiterkeit (serenus – lat. heiter). Der Chronist ist unanfechtbar. Der Dichter ist es nicht.­Allerdings hat er eine feste und einseitige Vorstellung von Gut und Böse. Den deutschen Geist ordnet er jedoch beiden Elementen gleichermaßen zu und sogar beides in einem. Noch deutlicher als im Roman wird das in dem Aufsatz „Deutschland und die Deutschen“, ursprünglich als Rede am 29. Mai 1945 in den USA gehalten. Hier heißt es: „Die Geschichte der deutschen Innerlichkeit zeigt, daß es nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug. Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute.“­

Dichter ist Teil des Verhängnisses­

Was aber den Großteil der „Literatur aus der Schuldkolonie“ so abstoßend macht, ist ihre scheinbare Unanfechtbarkeit. Beispielhaft gilt das vom „Dogmatiker des Guten“, Heinrich Böll. Hinz spricht vom „unaufhaltsamen Aufstieg“ bis zum Nobelpreis 1972 und darüber hinaus als Schulbuchautor und Stimme des linken Gewissens. Dieses Gewissen ist immer gut. Wie ein junger Mensch damals Nationalsozialist werden konnte, fragen sich diese Vergangenheitsbesessenen nie, denn es kann dafür nur einen Grund geben: Dummheit und Bosheit. Obwohl sie selbst so viel zu kritisieren haben an der „bürgerlichen Gesellschaft“, hat ihre Kritik nie etwas Verzweifeltes und Hoffnungsloses. Von Krisen bleiben die linken Dogmatiker im Grunde unanfechtbar, weil sie an den gesetzmäßigen Fortgang zum Besseren unverrückbar glauben. Doch auch ein Konservativer wie Ernst Jünger mit seinem geheimen Widerstandsroman „Auf den Marmorklippen“ hat etwas von dieser Unanfechtbarkeit. Da erscheinen die Nationalsozialisten wie wildgewordene Eber, die mit ihren Rüsseln die schönen Anlagen zerstören, aber der Boden bleibt ja fruchtbar, und Hitler wird zur ärgerlichen Episode. Nimmt man jedoch die Seele eines modernen Menschen wie Leverkühn als Schlachtfeld für die politischen Kämpfe der Zeit, dann sieht man erst die ganze Heillosigkeit einer Situation, in der es nichts Gutes und Fruchtbares mehr gibt und jeder sich an gefährliche Illusionen klammert. „Es gibt nichts Wahres im Falschen“, mag Adorno eines Abends in Kalifornien zu Thomas Mann gesagt haben. „Dann gibt es aber auch nichts Falsches mehr“, dachte Mann und machte sich an seinen Roman. Ähnliche Szenen kann man übrigens nachlesen in der „Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans“, erschienen 1949.­

 
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