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Terrorismus

Von Mag. Wolfgang Dvorak-Stocker

„Feige“, so heißt es, sei das Attentat von Wien gewesen. Doch das stimmt nicht. Feige ist jemand, der eine Bombe legt, die Schuldige oder Unschuldige in den Tod reißen soll, und sich davonmacht, um sein Leben ungestört weiterzuleben. Wer – wie der Wiener Attentäter – weiß, daß er seine Tat ganz sicher mit dem Tod begleichen wird, der handelt nicht feige. Unabhängig davon, ob wir sein Handeln begrüßen, unterstützen, ablehnen oder bekämpfen, wir müssen uns eingestehen, daß er gewillt ist, das gleiche Schicksal auf sich zu nehmen, das er seinen Opfern zugedacht hat. Nachdem Karl Ludwig Sand 1819 August Kotzebue ermordet hatte, versuchte er mehrfach, Selbstmord zu begehen. Sand zählte zu den „Unbedingten“ um den radikalen Burschenschafter Karl Follen, der später in der amerikanischen Emigration zu einem der Vorkämpfer des Abolitionismus, des Kampfes gegen die Sklaverei, werden sollte. Die „Unbedingten“ waren jedenfalls bereit, für ihre Ziele auch in den Tod zu gehen. Das verbindet sie mit den Terroristen der Baader-Meinhof-Bande und der RAF, die ebenfalls einen radikalen Lebensentwurf wählten, um sich ihrem Ziel, das sie als das absolut gute sahen, buchstäblich über Leichen gehend hinzugeben.

Der Schreiber dieser Zeilen ist sicher absolut unverdächtig, auch nur die leiseste Sympathie für die Ziele der RAF zu hegen, doch muß er diese Bereitschaft in Rechnung stellen. Allerdings ist festzuhalten, daß sich bisher alle Terroristen, ob radikale Burschenschafter, RAF, Islamisten oder rechte Attentäter, in einem fundamentalen Irrtum befunden haben. Sie alle haben geglaubt, mit ihrer schrecklichen Tat eine „schweigende Mehrheit“ erreichen und aufrütteln zu können, sie alle haben mit ihren Morden nicht bloß Schuldige oder Unschuldige exekutieren wollen, sondern hofften, damit Anstoß für eine breite Erhebung zu geben. Dies ist immer ganz und gar ausgeblieben. Zurück blieb der Mord, der absolute Zivilisationsbruch. Daran gibt es nichts zu rütteln. Aus den blutigen Konfessionskriegen vergangener Jahrhunderte haben wir gelernt, den Staat als Friedensbewahrer zu schätzen, der seine Bürger trotz aller glaubensmäßigen, politischen und sonstigen Unterschiede zu einem zivilisierten Umgang miteinander zwingt. Daran müssen wir festhalten, soll unsere Welt nicht wieder im „bellum omnium contra omnes“ versinken.

Trotzdem sei hier versucht, eine Art von Hierarchie der Attentate aus der Sicht der Täter aufzumachen.

Ganz am untersten Ende steht der Angriff auf katholische Gläubige, Meßbesucher oder Priester durch Islamisten. Echte Christen werden im Islam zwar sicher nie eine wahre Religion sehen können. Behaupten sie dies, heucheln sie oder haben ihren Glauben bereits verloren. Andererseits werden echte Christen niemals auch nur die leiseste Sympathie für die ordinäre Herabwürdigung von Glaubenslehren hegen, wie sie „Charlie Hebdo“ auszeichnet. Nicht nur, weil sie deren aggressiven Atheismus prinzipiell ablehnen. Auch, weil sie ihn selbst schon oft zu spüren bekommen haben. Ohne die Karikaturisten freilich zu töten.

Auf der zweiten Stufe von unten steht der Wiener Attentäter, der wahllos auf Menschen schoß, die ihm vor die Waffe liefen. Während die letzteren Attentäter sich entschlossen, ganz sicher die falscheste Gruppe von Menschen anzugreifen, hat der Wiener Attentäter bewußt gar keine Entscheidung getroffen, sondern einfach x-beliebige Passanten ermordet.

Wenn beide ein Motiv eint, dann die radikale Ablehnung unserer westlichen Gesellschaft und Lebensweise. Ihre Morde müssen als bedingungsloser Angriff auf die Grundprinzipien gesehen werden, die Europa einen. Als Kriegserklärung. Diese Kriegserklärung gilt nicht nur dem westlichen Prinzip der Trennung zwischen Glauben und Gesellschaft, sondern dem Christentum an sich, wie die Anschläge in Sri Lanka am Ostersonntag 2019 mit 253 Toten und 485 Verletzten, die Angriffe von Mumbai 2008 mit 166 Toten und 304 Verletzten und die mehr als 20.000 christlichen Nigerianer, die in den letzten Jahren über 300 Terroranschlägen der islamistischen Boko Haram zum Opfer gefallen sind, beweisen.

Europa ist auch schon länger Ziel von bewußt ungezielten Angriffen durch Islamisten, wie das Attentat auf einem Berliner Weihnachtsmarkt 2016 mit 11 Toten und 67 Verletzten oder die Terrorfahrt in Nizza im selben Jahr mit 86 Toten und über 400 Verletzten zeigen.

Aus der Sicht der radikalen Islamisten gezielter und damit auf Stufe drei waren die Anschläge vom 13. November 2015 in Paris, bei denen 130 Menschen getötet und 683 verletzt wurden. Die Angriffe richteten sich gegen die Zuschauer eines Fußballspieles, gegen nächtliche Gäste verschiedener Bars und Cafés und gegen die Besucher eines Death-Metal-Konzertes im „Bataclan“, wo 89 Menschen ermordet wurden. Mit dem Angriff auf das Rockkonzert wurde gezielt eine Gruppe attackiert, die der radikale Islam als absoluten Gegner ausmachte.

Auf der vierten Stufe von unten steht dann der Anschlag von Utøya am 22. Juli 2011, bei dem der norwegische Rechtsextremist Anders Breivik 69 Menschen erschoß. Schon zuvor waren einer von ihm gelegten Bombe acht Regierungsbeamte zum Opfer gefallen. Die Tat wird als besonders schrecklich angesehen, weil Breivik bewußt ein Ferienlager der sozialistischen Regierungspartei angriff, die er als Hauptverantwortliche der Zuwanderungspolitik ansah, und dabei 32 Jugendliche tötete. So unmöglich zu rechtfertigen der Mord an 14- bis 18jährigen auch ist, so klar hat der Attentäter jedoch seine Opfer ausgewählt, als er ein Schulungslager für den Nachwuchs der sozialistischen Elite attackierte.

Auf der nächsten Stufe steht die Enthauptung des französischen Lehrers, der anhand von „Charlie-Hebdo“-Karikaturen mit seinen Schülern „Meinungsfreiheit“ diskutieren wollte. Der Lehrer hatte diese sogar gefragt, ob einer die Klasse verlassen wolle, bevor er die Karikaturen zeigte. Das beweist Sensibilität. Und doch: Ein Lehrer muß vor den Augen der Klasse kein Kind vergewaltigen, um über Päderastie zu sprechen. Solches darf und kann nur theoretisch erörtert werden, und das reicht auch absolut aus. Nun mag man einwenden, daß das eine erlaubt ist und das andere nicht. Aber harte Pornographie ist auch erlaubt, und trotzdem sollte ein Lehrer sie nicht gemeinsam mit Jugendlichen betrachten, um darüber diskutieren zu können. Seine Ermordung und damit der absolute Bruch der auf unserem Kontinent üblichen Formen der Auseinandersetzung sind freilich dennoch in keiner Weise zu rechtfertigen.

Auf der sechsten Stufe steht dann der Anschlag auf „Charlie Hebdo“ selbst. Non, je ne suis pas Charlie. Absolut nicht. Was dort als „Satire“ produziert wird, ist nur widerwärtig. Ein Beispiel? Jüngst wurde auf dem Cover der türkische Präsident Erdo?an in Unterhosen gezeigt, dem eine verschleierte Frau das nackte Hinterteil entgegenreckt, was dieser mit den Worten „Olala, der Prophet“ quittiert. Kein Wunder, daß sich Erdo?an beleidigt sieht. Die „Kunst“ von „Charlie Hebdo“ steht auf dem Niveau eines Böhmermann, dem man auch einen Gratisflug in die Türkei schenken möchte. Natürlich rechtfertigen wir nicht die Ermordung von elf Menschen am 7. Januar 2015, auch wenn wir keinerlei Sympathien für die als „Karikaturisten“ getarnten aggressiv-atheistischen Schmierfinken hegen, die zudem ihre „Botschaft“ via Internet ungefragt verbreiten – jeder, ob er will oder nicht, muß darüber stolpern. Die zivilisierte Reaktion der arabischen Welt hätte aber wie folgt ausfallen können: Mit einem derart antireligiösen Land wie Frankreich treiben wir keinen Handel, wir verkaufen ihm kein Öl und kaufen seine Waffen nicht. Hätten die muslimischen Länder diese Prinzipien auch nur ein paar Jahre lang konsequent befolgt und dafür auch ökonomische Nachteile auf sich genommen – wer weiß, ob dies nicht zu einem Nachdenken im laizistischen Frankreich geführt hätte? Konsequent wäre es jedenfalls gewesen, und ehrlich auch. Doch die Morde der Attentäter haben nur das Gegenteil bewirkt und mit Recht Abscheu und Solidarisierung hervorgerufen.

Nun kommen wir zur siebten und letzten Stufe. Wann immer ich mit rechten, linken, islamischen Fanatikern spreche – und ich kenne tatsächlich Personen aller drei Ausrichtungen –, sie nennen immer Politiker als ihre Hauptgegner. Wenn nun der hessische CDU-Politiker Walter Lübcke 2015 öffentlich sagte, wem die Zuwanderungspolitik Angela Merkels nicht passe, solle auswandern, dann muß man sich fragen, ob nicht seine Ermordung durch den mittlerweile geständigen Rechtsextremisten Stephan Ernst im Juni 2019 die in dessen Augen logische Folge war. Noch einmal und zur unmißverständlichen Klarstellung: Hier soll keinesfalls Mord gerechtfertigt werden. In einer zivilisierten Gesellschaft hat er keinen Platz. Und wie in jedem beschriebenen Fall hat sich auch Stephan Ernst getäuscht: Mit seiner Tat hat er keine „schweigende Mehrheit“ wachgerüttelt oder Anstoß für breiten Widerstand gegeben, sondern nur Entsetzen ausgelöst und im Widerspruch zu seinen Absichten die Machtverhältnisse zementiert und die einzige wirksame Opposition massiv beeinträchtigt.

Schon Konfuzius hat seinem Schüler Zigong vor 2500 Jahren auf die Frage nach einer Richtschnur für das Handeln geantwortet, daß dies die gegenseitige Rücksichtnahme sei: „Was man mir nicht antun soll, will ich auch nicht anderen Menschen zufügen.“ Damit sind wir beim kategorischen Imperativ von Immanuel Kant, der formulierte: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Der platonische Philosoph Franz Vonessen hat Terrorismus gar als „radikalen Verzicht auf das Denken, die wahre Gegenposition“ bezeichnet (zitiert nach Matthias Korger im Buch „Octagon. Die Suche nach Vollkommenheit“). Nur bedingungsloses Denken könne das Blatt wenden.

Dabei stellt sich freilich die Frage nach der Wirksamkeit. Das „bedingungslose Denken“ eines Franz Vonessen hat jedenfalls die politische und gesellschaftliche Entwicklung nicht beeinflußt. Doch dies hat auch der terroristische Akt niemals vermocht. Im Gegenteil. Der Terrorismus der „Unbedingten“ hat nur zu den Karlsbader Beschlüssen geführt, und der islamistische Terrorismus hat der breiten Masse die drohende Islamisierung erst bewußtgemacht. Und doch können die Terroristen auch als besonders radikale Exponenten eines gesamtgesellschaftlichen Trends gesehen werden, der an ihnen deutlich wird, ohne daß ihre Ziele mit ihm deckungsgleich sein müssen. So folgten auf die Attentate der Narodniki, Sozialrevolutionäre und Anarchisten in Rußland der Bolschewismus, auf die Morde der radikalen Rechten in der Weimarer Republik der Nationalsozialismus und auf die Anschläge der RAF der Linksrutsch der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Auch die rechten und islamistischen Attentäter, die den Terror der letzten Jahrzehnte prägten, könnten so für grundsätzliche Tendenzen stehen.

In Deutschland ist hingegen noch ein historisch neues Phänomen zu beobachten: ein Terrorismus, dessen Ziele sich mit denen des politmedialen Establishments zum Teil decken und der daher von diesem unterstützt wird. Die zunehmende Gewaltbereitschaft der radikalen Linken gegenüber jeglichem im weitesten Sinne rechten Widerstand, die bis hin zu Mord und Mordversuchen reicht, hat die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nur deswegen nicht erreicht, weil sie von den Massenmedien mit Sympathie begleitet und entsprechend heruntergespielt worden ist. Terrorismus und Mainstreampresse vertragen sich also – wenn die Ziele stimmen. Und zum ersten Mal in der Geschichte könnte es so sein, daß die Terroristen dank ihrer Verbündeten in Medien und Politik ihr Ziel erreichen.

 
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