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Multikulturalismus und Aufklärung

Von Univ.-Prof. Paul Gottfried

Welche Traditionslinien unsere Kultur noch retten können

Weitbekannt als Historiker der Römer und der weltweiten Entwicklung der Sklaverei, als Interpret einer besonderen historischen Methodologie und nicht zuletzt als Kontrahent gegen den betont „antifaschistischen“ Jürgen Habermas profilierte sich der emeritierte ordentliche Professor an der Universität Rostock Egon Flaig als Querdenker.  Vor brenzligen Fragen ist Flaig nie zurückgeschreckt, und während des Historikerstreits hielt er mit seiner Auffassung kaum hinterm Berg, als er gegen die Ansicht der „Gutmenschen“ die Pflicht und Schuldigkeit des redlichen Historikers zu „kontextualisieren und relativieren“ hervorhob, selbst wenn dieser die Greueltaten der NS-Zeit unter die Lupe nimmt. In seinem Werk über die Sklaverei belegte Flaig den Umfang und Bestand der Sklavenausbeutung im nichtchristlichen und vorwiegend muslimischen Osten.

Wegen meiner Bewunderung für Flaigs frühere Schriften und vor allem seiner Weigerung, ein Blatt vor den Mund zu nehmen, las ich gespannt seine Neuerscheinung „Die Niederlage der politischen Vernunft“. Aus den Besprechungen ergibt sich, da? sein Buch ihm weiteres Renommee eingetragen hat und da? etliche „konservative“ Vereine und Foren ihn einluden, seine Kernideen darzulegen. Einen von Flaig in der Berliner Bibliothek des Konservativismus (BdK) gehaltenen Vortrag hörte ich mir auf YouTube an, und war sowohl von seiner lebendigen Darstellungsweise als auch seiner ungezwungenen Wortwahl  angetan. Doch seine Darstellung wie sein Buch fordern zwei Fragen heraus. Es ist mir nicht ganz klar, inwieweit seine Denkrichtung als „konservativ“ eingeordnet werden kann. Und noch schwerwiegender ist die Frage bezüglich der von ihm verordneten Arznei gegen die Irrungen und Wirrungen unserer Spätmoderne. In welchem Ma?e würde die von ihm erwünschte Rückkehr zu den Grundlehren der Aufklärung oder, besser gesagt,  Flaigs herausgearbeiteten aufklärerischen Grundsätzen passen, eine zivilisierte, wohlgeordnete Staatsform und ein befriedigendes menschliches Zusammensein gewährleisten?
 Flaigs Werk bietet eine inhaltsreiche Sammlung aller zwingenden Argumente gegen modische, politisch motivierte Trugbilder.  Er geht mit gewaltigen  Argumenten gegen Habermas, Levinas, Wehler und eine Vielfalt von Antikolonialisten und weithin bejubelten Streitern für eine postnationale Weltordnung an. Es wäre schwer, eine handfestere Kritik an der Schickeria des linken Universalismus zu formulieren.  Flaig schlägt sich wacker mit den vielfältigen Irrlehren, zum Beispiel der angeblichen Verpflichtung der westlichen Länder, ungebetene Migranten aus der Dritten Welt als Mitbürger zu behandeln. Er tritt gegen die Methode an, den westlichen Ländern jene Unmenschlichkeiten vorzuwerfen, die andere Kulturen immer wieder begehen, ohne ihren westlichen Beschönigern Rede zu stehen, und er dekonstruiert die Verniedlichung des verwüstenden, muslimischen Fundamentalismus als eine vorläufige Unebenheit auf dem gleißenden Weg zur Habermasschen Moderne. Flaig  drückt sich nicht davor, die moralische und kulturelle Kluft zwischen verschiedenen Kulturen aufzuzeigen und die dazugehörigen Weiterungen zu verdeutlichen. Er zeigt auch mit Leichtigkeit auf, wie der Relativismus postmoderner Denker oft als bloßer Vorwand dient, die eigene Zivilisation herabzusetzen.      

Hegel und Heidegger fügen sich nicht dem neukantianischen ­Dogma

Wegen seines Willens, die Abgötter der Linken so unerbittlich zu zerschmettern, muß eruiert werden, woher Flaig seine besondere Stellung bezieht.  Sollte man, von Kants Zukunftsvision ausgehend, westliche Nationalstaaten als Vorstufe zu einer „säkularen Weltrepublik“ ansehen? Ist es nicht erlaubt, staatliche und kirchliche Einrichtungen zu bewahren und die eigene Nation in Ehren zu halten, ohne den Ausweis als Gebildeter zu verwirken? Und müssen die „aufgeklärten Europäer“ wegen Flaigs von Kant hergeleiteter und auf sein Bedürfnis zugeschnittenen Vernunftlehre „den Drang nach Erlösung“ mit der Denkart der „Vernünftigen“ als „unverträglich“ ansehen? Flaigs Versuch, den Fortbestand des Westens mit einer enttheologisierten Wissenschaftlichkeit zu vereinen, veranlaßt die Frage, in welchem Umfang er der europäischen Vergangenheit treu bleibt. Nicht nur Adorno, dessen Erlösungsdrang er verwirft, sondern auch alle Denker, denen seine rein wissenschaftliche „Suche nach dem Wahren“ abgeht, weichen von seinem Ma?stab der Rationalität ab. Zu diesen „Untauglichen“ müssen unter anderem Plato, Pascal, Spinoza, Hegel und Thomas von Aquin zählen, letztlich alle Philosophen, die in ihren Traktaten theologische Themen umkreisen.
Flaigs Vorbild ist Kants  „Transzendentale Analytik“, die im dritten Teil der „Kritik der reinen Vernunft“ behandelt wird. Ohne  Kants wertvolle Untersuchung von Verstandesbegriffen im Rahmen des Schaffens von verstandesmä?ig  ausgeformten Urteilen geringzuschätzen, darf man fragen: Ist die Vernünftigkeit, wie sie sich im  Westen entfaltet, auf Flaigs Musterbild der kantischen Wissenschaftlichkeit wirklich durchgängig angewiesen? Flaig leitet seine Kant-Auslegung von Ernst Cassirer und anderen Neukantianern ab. Der von Flaig begünstigten Denkschule geht es darum, Kants Erkenntnislehre mit dem westlichen Rationalismus gleichzusetzen. Auch wenn dies vertretbar erscheint, darf man weiterhin fragen, ob diese Auffassung den einzigen Begriffsschlüssel zum Verständnis von Kants erkenntniskritischer Vorgehensweise liefert.
Die Postkantianer in Deutschland und vorausgreifend auch Kants Zeitgenosse Moses Mendelssohn bezeichneten Kant als den „gro?en Zermalmer“ des Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts. Kants Kritiker aus der rationalistischen Hauptströmung monierten, da? auch dann, wenn zwischen der Wahrnehmung und der Au?enwelt eine Entsprechung bestehe, diese Korrespondenz nach Kant von der menschlichen Bewußtseinsstruktur abhänge. Weder die Beharrlichkeit noch die Voraussagbarkeit unserer sinnlichen Vorstellungen bedeutet, da? empirische Gegenstände, wie sie uns erscheinen,  losgelöst von unserem Bewußtsein existieren. Aus der „Kritik der reinen Vernunft“ lernt man: „Erfahrung ist eine empirische Erkenntnis, d.?i. ein Erkenntnis, das durch Wahrnehmungen ein Objekt bestimmt. Sie ist also eine Synthesis der Wahrnehmungen, die selbst nicht in den Wahrnehmungen enthalten ist, sondern die synthetische Einheit des Mannigfaltigen derselben in einem Bewußtsein enthält, welche das Wesentliche einer Erkenntnis der Objekte der Sinne, d.?i. der Erfahrung (nicht blo? der Anschauung oder Empfindung der Sinne) ausmacht.“  
Vom Standpunkt der deutschen Idealisten des frühen neunzehnten Jahrhunderts her weist die Anwendung der Verstandeskategorien im Zusammenhang mit den zusammenwirkenden Anschauungsformen (d. i. Zeit und Raum) eine auf sinnliche Wahrnehmung bezogene Korrespondenz nach. Das subjektive menschliche Bewußtsein bearbeitet durchgängig empirische Eindrücke mittels eines verläßlichen Prozesses. Aber das „Mannigfaltige der Apperzeption“ bietet sich von au?en her. Man muß zwischen einer einheitlich geformten Wahrnehmung und dem „Ding an sich“ unterschieden, das ist, wie die objektive Realität gelagert ist. Es ist möglich, „synthetische Urteile a priori“ zu erzeugen, wenn man mathematische und ausschließlich begriffliche Urteile ansetzt. Sobald man sich jedoch mit sinnlichen Wahrnehmungen befaßt, steht es nicht mehr fest, da? man zu einer vergleichbaren Erkenntnisgewißheit durchdringt. 
 Jedenfalls überzeugt Flaig seine Skeptiker überhaupt nicht, da? Kant schlüssig über die Vernunft und ihre Verwendungsmöglichkeiten gesprochen hat, auch wenn  Cassirers Einschätzung stichhaltig ist: „Kant schlug sich auf die Seite der Objektivität, weil er den menschlichen Fortschritt nicht zuletzt an die Wissenschaft gebunden sah und folglich die Möglichkeit objektiver wissenschaftlicher Erkenntnis aufzeigen mußte.“  Muß ich daraus entnehmen, da? Hegel und seine Gleichgesinnten wider die Vernunft räsonierten, weil sie nicht das Gedankengut der Neukantianer vorausnahmen und weiterentwickelten? War Heidegger ein versagender Philosoph, weil er  es verabsäumte, die neukantianische Methodik wieder aufzugreifen? Wen unter den Großphilosophen muß man noch au?en vor lassen, weil der auszuschließende  Denker  sich nicht Flaigs Prokrustesbett bequemt? Niemand in meinem weitgehenden Bekanntenkries würde Flaig sein sinnvolles Bestehen auf einen logischen Diskurs oder der Wertigkeit einer empirisch gestützten Beweislage abstreiten. Was zur Debatte steht, ist sein Unterfangen, das Gedankengut des Westens auf eine neukantianische Vorstellung zu reduzieren.

Deutsche Denker und ­Habermassche Linke

Flaig vergleicht gern Streiter der radikalen Linken wie Frantz Fanon und Michel Foucault mit Figuren aus der in Mißkredit geratenen deutschen Nationalbewegung. Vielleicht macht er dies, um die von ihm kritisierte Linke mit dem Ruch des verschmähten Deutschtums zu belegen. Trotzdem ist das Nebeneinander nicht immer überzeugend. Wie soll man folgende Behauptung aus Flaigs Schrift verstehen: „Die UNESCO verfällt  jener Idee eines ‚Volksgeistes‘ Herderscher Prägung, welche das reaktionäre Denken gegen den Universalismus der Aufklärung in Stellung brachte.“  Flaig will uns vormachen, da? ausgesprochene Linksdenker, die ihm nicht liegen, eine gewisse „Rückschrittlichkeit“ aufweisen. Er bringt als Beispiel den französischen Anthropologen Claude Lévi-Strauss, der sich gegen den weiteren Zuzug von Muslimen aus der Dritten Welt aussprach. Flaig zufolge läutet Lévi-Strauss immer wieder „die Glocke kultureller Selbstbehauptung“, ohne jedoch  „in universalen Rechten die Zuflucht zu suchen, um den Frieden der Kulturen zu denken“. Vermeintlich hätte sich der „gro?e Anthropologe“ der Einwanderung von Muslimen entgegenstellen sollen, weil die einströmenden Fremden Flaigs Universalismus verschmähen. In gleicher Weise tut er Lévi-Strauss’ Anliegen ab, eine europäisch-christliche Nation vor Zersetzung zu bewahren.    
Leider sind solche von Flaig angestellte Vergleiche schwerlich zwingend. Die Tatsache, da? Andersdenkende, die aus ganz entgegengesetzten Strömungen der ideologischen Palette stammen, dem Autor vergleichbar widrig vorkommen, beweist keineswegs, da? ihre Grundannahmen übereinstimmen. Und selbst wenn sich die zwei Seiten in einiger Hinsicht nähern, belegt das nicht, da? sie dieselbe Weltanschauung vertreten.  Es ist höchst wahrscheinlich, da? Graf Metternich und Michel Foucault  Flaigs Wertevorstellungen schlankweg abweisen würden. Ist  daraus zu schließen, da? Foucaults radikallinke Denkart den sinkenden Einfluß der europäischen Restaurationsära verrät?
Und was für eine begriffliche Ähnlichkeit besteht zwischen Foucault und Martin Heidegger?  Flaig schreibt, beiden Meisterdenkern ginge es um die Revolte gegen das Weltsystem, welches Heidegger im § 27 von „Sein und Zeit“ kaum anders abhandelt als die damalige linke Kulturkritik. Er beeilt sich daraufhin hervorzuheben, wie sehr Foucault dem deutschen Denker ähnle, der 1933 in seiner berüchtigten Rektoratsrede das heraufziehende Dritte Reich begrüßte. Merkwürdigerweise liefert die zitierte Stelle aus „Sein und Zeit“ keinen Berührungspunkt  mit Foucaults Aufstand „gegen das Weltsystem“.  Auf diesen Seiten bearbeitet Heidegger das „alltägliche Dasein“ des „eigentlich existierenden Selbst“, insofern es seine Wesenhaftigkeit bestimmt. Die auf ontologisches Nachdenken gerichteten Ausführungen von Heidegger erlauben mitnichten Flaigs Pauschalurteile. Was Heidegger kritisch unter die Lupe nimmt, sind „Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung“ als „Seinsweisen des Man“, die „wir als ‚die Öffentlichkeit’ kennen“. Dies sind die Vorzeichen eines „alttäglichen Selbstseins“, worin  „das Man“ an der Oberfläche der Seinsmöglichkeiten des Menschen entlanggleitet; aus den Grenzen dieser Vorstufe zur seinsmäßigen Selbstentdeckung ist das herumtappende Dasein der vielen noch nicht herausgetreten. Der Heidegger-Sachkundige muß sich wundern, wie Flaig in Heideggers Feststellung, „in der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, in der Verwendung des Nachrichtenwesens (Zeitung) ist jeder Andere wie der Andere“, etwas Bestürzendes hineinliest.  Führt der gerissene Heidegger damit etwas im Schilde? Wenn dem so ist, dann obliegt es Flaig, seinen Verdacht aufgrund der zutreffenden Stellen zu bekräftigen, doch der bleibt aus. Ebenso zu bestreiten ist Flaigs vordergründige Annahme, da? „Sein und Zeit“ als eine Vorausschau auf Heideggers Rektoratsrede zu deuten sei. Er läßt dabei au?er acht, da? das frühere Werk eine grundverschiedene Thematik umfaßt als die 1933 an der Universität Freiburg vorgetragene Ansprache. Die Urfassung von „Sein und Zeit“ erschien im Frühjahr 1927 in dem von seinem Doktorvater Edmund Husserl herausgegebenen „Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung“.  Das Werk befaßt sich keineswegs mit einem deutschen Sinn- und Gemeinwesen, sondern „mit der Frage nach dem Sinn von Sein“ und wie die Untersuchung der Seinsfrage  seit dem vorsokratischen Denkertum abgelaufen ist.   

„Political correctness“ und „­multikulturelle Gesellschaft“ ­wurzeln in der Aufklärung

Das, was Flaig vorstellt und das, was er verwirft, tut allerdings eine gewisse Familienähnlichkeit kund. Zwischen dem Begriff einer multikulturellen Gesellschaft und der von den Aufklärern gepredigten, auf der menschlichen Vernunft beruhenden Weltgemeinschaft  bestehen Schnittmengen; man ist bestimmt nicht auf dem Holzweg, letztere als Voraussetzung der ersteren anzunehmen.  Und es ist leichtverständlich, wie der Westen vom Punkt A bis zum Punkt B geschichtlich und weltanschaulich voranmarschierte. Aus dem Gedankengut der Aufklärung nährten sich  die Verkünder einer vielfältigen, multikulturellen Gesellschaft, als sie sich in beflügelten Worten über ausgeklügelte Menschenrechte und ersehnte Weltstaaten ausließen. Zugegebenermaßen trifft man auf Vertreter der politischen Korrektheit, die ihre handfesten Anleihen bei der Aufklärung untertreiben oder verdunkeln.  Doch viele aus der antifaschistischen und antinationalen Linken entstandene Überväter wie Habermas, Hans-Ulrich Wehler und Heinrich August Winkler posaunen ihre Dankbarkeit gegenüber dem säkularen, entnationalisierten Vernunftglauben der Aufklärung weit hinaus. Die vermeintlich rückschrittlichen Deutschen haben diesbezüglich, folgt man diesen „Denkern“ und Publizisten, einen aufklärerischen Nachholbedarf.  
Man muß die Gesamtheit der Aufklärung nun bestimmt nicht abweisen, um darüber nachzudenken,  ob es sich lohnt, an unserer zunehmend ausgehöhlten, der „Vielfältigkeit“ ausgelieferten Zivilisation ausschließlich mit zusammengepflückten Ideen aus dem „Zeitalter der Vernunft“ herumzulaborieren.  Andere, ergänzende Kräfte sind heranzuziehen, wenn man die ersehnte Wiederherstellung zuwege bringen will. Merkwürdigerweise tut Flaig alternative  westliche Traditionen kurzerhand ab.  Er schiebt nationale, romantische und christliche Grundmotive beiseite, die das geistige Erbgut seines Landes zutiefst geprägt haben. Er ist entschlossen,  das Heilmittel für die Deutschen gänzlich in einem besonderen Gefilde ihrer kulturellen Entwicklung anzusiedeln, genau in dem Ideenbereich, den die deutschen Umerzieher moral- und volkspädagogisch beflissen beackert haben.
 Es fällt schwer, den Punkt zu übergehen, da? Flaig und seine Linksgegner sich um ein gemeinsames Gut  bemühen. Beide reklamieren für sich das Recht, ihren Mitbürgern eine aufklärerische, in Kants Politiklehre verankerte Tradition einzutrichtern. Was der politische Denker Leo Strauss in bezug auf Carl Schmitt aussagte, trifft auf diesen Tatbestand ebenso deutlich zu. Gleich dem von Strauss anvisierten Schmitt legt es Flaig darauf an, die Linke (oder in Schmitts Fall den Liberalismus) zu „überwinden“. Aber die vorgenommene Kritik kann nur gelingen, wenn der kritische Denker „einen Horizont jenseits des Liberalismus“ erarbeitet.  Flaig sprengt keineswegs die abgesteckten Grenzen des postnationalen, weltbürgerlichen Konsenses in den deutschsprachigen Ländern, indem er seine Gegenideen zur linken ideologischen Hegemonie  herausstellt.

Die „gegenaufklärerische ­Aufklärung“ wird vernachlässigt

Man betreibt keine Haarspalterei, wenn man konstatiert, da? Flaig, wie Habermas und seine Zunftbrüder, eine bestimmte Seite der Aufklärung begünstigt, aber andere aufklärerische Strömungen, die nicht zu seinen Zielen passen, unbeachtet läßt. Was der israelische Faschismus-Historiker Zeev Sternhell als „die gegenaufklärerische Aufklärung“ bezeichnete, spielt bei Flaig gar keine Rolle. Das Spekulieren über Rassenungleichheiten, mit dem namhafte Aufklärer aufwarten, und das zum Beispiel in Kants Abhandlung „Über die verschiedenen Rassen der Menschheit“ (1775) und in Buffons „De l’Homme“  in Erscheinung tritt, liegt verständlicherweise außerhalb von Flaigs Aufklärungsbegriff. Aber warum ist diese von modernen Progressiven als „dunkel“ eingestufte  Seite weniger beachtenswert als das, was Flaig sich aus der Aufklärung entlehnt?  Bei Kant, Voltaire, Buffon, Linnaeus und David Hume bemerkt man eine frappante Beschäftigung mit den Zeichen der erblichen Überlegenheit der Wei?en anderen, weniger entwickelten Rassen gegenüber.
Bei David Hume, den Sternhell schief ansieht, wird eine skeptische Erkenntnislehre herausgebildet, die die epistemologischen Grundfesten des „Age of Reason“ in Frage stellt. Humes Skepsis gipfelt in seiner Bejahung des Gemeinschaften zusammenhaltenden Brauchtums als Bollwerk gegen die soziale Auflösung. Au?er eingeschliffener Gewohnheit, schlußfolgert der Philosoph, gibt es keine Abwehr gegen die Zersetzung geregelter, generationenübergreifender zwischenmenschlicher Beziehungen.  Auf gesellschaftliche Konvention, wie sein Biograph Donald Livingston hervorhebt, führt Hume sowohl das friedliche Handeln wie auch das geordnete Denken zurück. Daher macht sich Hume auch über das unbewiesene Ansinnen von Naturrechten (geschweige denn von deren Derivat „Menschenrechte“) geradezu lustig. Warum soll man meinen, da?, wer der Aufklärung Ehre zollen will, unentrinnbar bei Flaigs Position landet? Ebenso leicht kann man, so der amerikanische Sozialtheoretiker Robert Nisbet, auf ein „konservatives Nützlichkeitsprinzip“ lossteuern.     
Jeder engagierte Verteidiger einer auf die eigene Position abgestimmten Aufklärungsüberlieferung pickt genau die Rosinen heraus, die er als sein Rezept für menschliche Verbesserung verabreicht. Wenn Flaig diesem Beispiel folgt, verhält er sich keineswegs trügerisch. Er will uns einen Ausweg vorzeichnen, der von einer zersetzten, selbstentfremdeten deutschen Gesellschaft zu einer zuversichtlicheren, betont bürgerlichen hinüberführen soll. Dabei zeichnet sich ein Unterschied ab zwischen Flaigs schneidigen, glänzenden Polemiken und seiner farblosen, altbackenen Zukunftsvision.


Egon Flaig: Die Niederlage der politischen Vernunft – Wie wir die Errungenschaften der Aufklärung verspielen, 416 Seiten, geb., Klampen Verlag, 2017, € 24,80

 
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