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Unterwegs zur Karlsruher Republik

Von Dr. Dr. Thor von Waldstein

Das am 17. Januar 2017 gefällte Urteil, mit dem das Bundesverfassungsgericht den NPD-Verbotsantrag des Bundesrates zurückgewiesen hat (Az.: 2 BvB 1/13)1, konnte nur den überraschen, der weder über die justizförmige Herrschaftsform der Berliner Republik, noch über deren Bösewicht-Notwendigkeiten im Bilde ist. Aufmerksame Leser der mündlichen Verhandlung vom 1.–3. März 2016 hatten es indes kommen sehen: Die NPD ist in ihrer staatstragenden Funktion als medial dauerpräsente Gottseibeiunspartei einfach zu wichtig, um sich den moralischen Luxus leisten zu können, sie ins politische Jenseits zu befördern.

Viel klüger war und ist es, das Schreckgespenst mit den drei Buchstaben zum Nutzen und Frommen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unter dem Joch seiner Chancenlosigkeit weiterwursteln zu lassen. Zum einen demonstriert Karlsruhe durch den Tenor einer solchen Entscheidung Gelassenheit nach außen. Zum anderen vermeidet man den erwartbaren Ungemach des Straßburger Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der ein NPD-Verbot durch das Bundesverfassungsgericht wegen der offenkundigen Bedeutungslosigkeit der Partei aller Voraussicht nach kassiert hätte. Nicht zuletzt aber haben die Meisterdenker im Mittelbadischen die gerade in einem Bundestagswahljahr besonders zupaß kommende Gelegenheit genutzt, in den Entscheidungsgründen dieses klassischen „Nein, aber“-Urteils den NS-Nasenring neu zu justieren, an dem die Deutschen seit über zwei Generationen politisch durch die Manege gezogen werden.

I.

Die Karlsruher Hüter einer Verfassung, die nach dem Willen der Väter des Grundgesetzes keine Verfassung, sondern nur „die Organisation einer Modalität der Fremdherrschaft“ (Carlo Schmid, SPD, am 8. September 1948 im Parlamentarischen Rat)2 sein kann, hatten das Grundgesetz zum Zwecke der Beschränkung der Meinungsfreiheit schon vor geraumer Zeit „als Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes gedeutet“ (sog. Wunsiedel-Beschluß vom 4. November 2009, Az.: 1 BvR 2150/08 Rn 65). Im Rekurs auf die Atlantik-Charta vom 14. August 1941, auf das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 sowie auf alliierte Kontrollratsgesetze hatte das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung auch dem wohlmeinendsten Politiktheoretiker vor Augen geführt, von welchen Eigentümlichkeiten der „Demokratie-Sonderweg Bundesrepublik“ (Josef Schüßlburner)3 auch 64 ½ Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geprägt ist. Mit ihrem jetzigen NPD-Urteil haben die Damen und Herren in rot noch eine Schippe draufgelegt und die staatsrechtliche Entmündigung des Souveräns, des deutschen Volkes (Präambel sowie Artt. 1 Abs. 2, 8 Abs. 1, 9 Abs. 1, 11 Abs. 1, 12 Abs. 1, 16 Abs. 2, 20 Abs. 4, 33 Abs. 1 und 2, 56, 64 Abs. 2, 146 GG), auf die Spitze getrieben:
Kennzeichen der Karlsruher Argumentation ist ein künstlich konstruierter, mit der modernen europäischen Rechtsgeschichte nicht in Einklang zu bringender Gegensatz zwischen der Würde des Menschen einerseits und dem Existenz- und Selbstbestimmungsrecht der Völker andererseits. Der nicht nur von 1933 bis 1945, sondern vom Ende des 18. Jahrhunderts bis viele Jahrzehnte nach 1945 wie selbstverständlich verwendete und als Grundstock deutscher Staatlichkeit vorausgesetzte „ethnische Volksbegriff“ (Rn 598) wird geschichtsfälschend zu einem der „zentralen Prinzipien des Nationalsozialismus“ erklärt (Rn 598). Der ethnische Volksbegriff
„(verstoße) gegen die Menschenwürde und (verletze) zugleich das Gebot gleichberechtigter Teilhabe aller Bürger am politischen Willensbildungsprozeß …“ (Rn 598).
Auf der Basis dieser willkürlichen4 NS-Kontaminierung schaltet das Bundesverfassungsgericht in der Folge den Begriff des Volkes als eigenständiges Rechtssubjekt aus, um Platz zu schaffen für die alles überstrahlende Menschenwürde des Individuums. Denn dessen Würde bleibe
„nur unangetastet, wenn der Einzelne als grundsätzlich frei, wenngleich stets sozial gebunden, und nicht umgekehrt als grundsätzlich unfrei und einer übergeordneten Instanz unterworfen behandelt wird. Die unbedingte Unterordnung einer Person unter ein Kollektiv, eine Ideologie oder eine Religion stellt eine Mißachtung des Wertes dar, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins (BVerfGE, 115, 118, 153) zukommt.“ (Rn 540)
Der Umstand, daß die für den Menschen in der Tat wesentlichen Seinszustände als Individuum einerseits und Glied einer Gemeinschaft andererseits auch und gerade von anderen Spannungsbögen als Unterwerfung und Unterordnung geprägt sein können, scheint in Karlsruhe unbekannt zu sein. Ebensowenig können dort offensichtlich noch Grundkenntnisse der Geschichte des Deutschen Idealismus vorausgesetzt werden. Zu dessen Glanzleistungen gehörte es – von Fichte bis Hegel –, daß es dem gott- und trostlosen atomistischen Gesellschaftsbild, in dem der Mensch zum Spielball apokrypher Mächte herabgewürdigt wird, eine radikale Absage erteilte, um demgegenüber ein Ideal zu zeichnen, bei dem die wechselseitige Befruchtung zwischen Einzel- und Kollektivwesen im Vordergrund steht. Ein von solchen Idealen geprägter Staat bildete dann auch einen Freiheitsbegriff heraus, dessen Bindung an eine überindividuelle Verantwortung erst den wahrhaft freien einzelnen zu schaffen in der Lage war:
„Nicht das macht frei, daß wir nichts über uns anerkennen wollen, sondern eben, daß wir etwas ehren, das über uns ist. Denn indem wir es verehren, heben wir uns zu ihm hinauf und legen durch unsere Anerkennung an den Tag, daß wir selber das Höhere in uns tragen und wert sind, seinesgleichen zu sein.“ (Goethe zu Eckermann am 18. Januar 1827)
Dieser stolze deutsche Freiheitsbegriff, der von der NS-Zwangskollektivierung ebenso weit entfernt ist wie von dem anything goes der liberalistischen Jetztzeit, ist im Schloßgarten der badischen Großherzöge nicht mehr präsent. Stattdessen unterlegt man dort das Freiheits- und Demokratiegebot des Grundgesetzes mit einem prononciert antinationalsozialistischen Begründungsnarrativ, das freilich in seiner Verkürzung gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge in kurios-gespenstischer Weise nationalsozialistischer Dialektik ähnelt. Hatten die Herren des Braunen Hauses in München in Verkennung der wesentlichen Bedeutung des freien einzelnen formuliert: „Du bist nichts, dein Volk ist alles“, scheinen die Damen und Herren des gläsernen Hauses in Karlsruhe von der Parole beseelt zu sein: „Du bist alles, ein Volk hat es nie gegeben.“ Nicht anders erklärbar ist die Ad-hoc-Definition der Demokratie als „Herrschaft der Freien und Gleichen“ (Rn 542) und nicht etwa – wie schon in Platons „Polis“ und seit 1789 – als die Herrschaft des Volkes (demos = griech.: Volk; kratos = griech.: Macht, Herrschaft). Der freie Bürger ist nach Neukarlsruher Lesart v. a. der citoyen, der sich von seiner ethnischen Identität befreit hat, um sich ausschließlich in ein Agglomerat von willkürlich zusammengewürfelten Paßinhabern mit und ohne Migrationshintergrund einzureihen:
„Das Grundgesetz kennt einen ausschließlich an ethnischen Kategorien orientierten Begriff des Volkes nicht … Die Auffassung …, der Gesetzgeber sei bei der Konzeption des Staatsangehörigkeitsrechts streng an den Abstammungsgrundsatz gebunden, findet … im Grundgesetz keine Stütze. (Rn 690) … Wer die deutsche Staatsangehörigkeit erwirbt, ist aus Sicht der Verfassung unabhängig von seiner ethnischen Herkunft Teil des Volkes.“ (Rn 691)
„Die Begrenzung politischer Partizipation auf die Angehörigen der ethnisch definierten ‚Volksgemeinschaft‘ widerspricht dem im menschenrechtlichen Kern des Demokratieprinzips wurzelnden Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe aller Staatsangehörigen an der politischen Willensbildung.“ (Rn 766)
Die volonté générale Rousseauscher Prägung, die eben gerade nicht nur – wie die fünf Finger – die Summe von Einzelwillen (volonté de tous bzw. volonté particulière), sondern – wie die Hand – den Willen der Gesamtheit eines Volkes (Gemeinwillen) verkörperte, ist damit ebenso hinfällig wie die verfassungsgebende Macht des Volkes (pouvoir constituant), die mit der Summierung nichthomogener Einzelwillen nicht das geringste zu tun hat. In gleicher Weise wurde dem Herderschen Volksbegriff, dessen philosophischer Grandiosität („Völker sind Gedanken Gottes“) weltweit viele Nationen noch heute nachstreben, ein lautloses Begräbnis bereitet.
Nach dem „Jahrhundert ohne Gott“ (Alfred Müller-Armack)5 verkündet ein anmaßendes, von Schuldkomplexen gesteuertes Politsystem in Deutschland nunmehr also das „Jahrhundert ohne Volk“: Es lebe die Karlsruher Demokratie, es lebe die erste Elementarteilchenrepublik auf deutschem Boden, in der volk-, kultur-, ort- und nach Möglichkeit auch kinderlose Individualexistenzen in die Sonne blinzeln, ihre Würde genießen und im übrigen das nachexerzieren, was eine aufwendig inszenierte, zum Teil sakralisiert aufgeladene und vom Kapital finanzierte „öffentliche Meinung“ vorgibt. Daß in diesen Medien der neue und wohl auch zugleich letzte deutsche Sonderweg gebührend gewürdigt wird, kann keinen vernünftigen Zweifeln unterliegen. „Deutschland“ ist jetzt also nicht nur das Land ohne Grenzen, sondern auch das Land ohne Volk. Der nach Karlsruher Rezeptur seit Jahrzehnten verfeinerte „German way of Democracy“, der schon länger dadurch gekennzeichnet zu sein schien, daß der Bürger zum Verbraucher mutiert und der Verbraucher konsumistisch sediert wurde, findet nun seine Fortsetzung damit, daß die deutsche Nation mit dem 17. Januar 2017 als Entscheidungsträger über ihre eigene Zukunft endgültig beseitigt wurde. Ob angesichts dieser Entwicklung in der Bezeichnung dieser Republik das Wort „Deutschland“ noch genannt werden sollte, erscheint fraglich. Vielleicht spräche man besser – analog der multikulturellen Aufwertung der deutschen Fußballnationalmannschaft zur „Mannschaft“ – von dem „Land“ (L). Freunde des stets am Puls der Zeit korrekt nachjustierten Verfassungsverständnisses präferieren womöglich die Bezeichnung „Republik der Freien und Gleichen“ (RFG). Angesichts des prägenden Einflusses des Bundesverfassungsgerichts bei der jetzigen staatsrechtlichen Auslöschung des deutschen Volkes, die für alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie für alle Gerichte und Behörden bindend ist (§ 31 Abs. 1 BVerfGG), dürfte aber wohl die Bezeichnung „Karlsruher Republik“ (KR) am treffendsten sein.

II.

Was bleibt? Was wird aus der NPD? Welche Auswirkungen hat das Urteil auf die AfD? Karlsruhe locuta, causa finita? Wohl kaum. Die Richter, auf ideengeschichtlichem Terrain eher grobmotorisch unterwegs, haben in das Urteil eine diskrete Repeat-Taste eingebaut, die Kunde davon gibt, daß man in Karlsruhe noch alte Sepp-Herberger-Weisheiten im Hinterkopf und weiß: Nach dem Verbotsverfahren ist vor dem Verbotsverfahren. Es wäre ja auch schade um die viele Arbeit, die 298 Seiten und 1009 Randnummern starken juristischen Ergüsse, die nach einer Zweitverwertung geradezu schreien. Unter Rn 845 ff. findet sich eine ins Detail gehende Gebrauchsanleitung, ab welcher Steigerung der politischen Potenz der NPD auf den Feldern Mitglieder- (Rn 848) und Abgeordnetenzahl (Rn 850), Medienpräsenz (Rn 851?ff.), Finanzen (Rn 858 ff.), Wortergreifungsstrategie (Rn 855 ff., 872), Veranstaltungsstärke und -häufigkeit (Rn 867?ff.), bundesweiter Präsenz (Rn 869), Verzahnung mit anderen oppositionellen Gruppen, insbesondere den sog. GIDA-Gruppen, vornehmlich PEGIDA in Dresden (Rn 894?ff.), und natürlich nicht zuletzt gemessen an Erfolgen bei Parlamentswahlen (Rn 898 ff.), von einer Begründetheit eines dritten Verbotsantrages ausgegangen werden kann. Wenn das morgen nicht hilfreich für die Antragstellervertreter ist, die immerhin schon seit 2001 im juristischen Hamsterrad strampeln und dabei – im Gegensatz zu den die Antragsgegnerin jeweils souverän und mit überragender fachlicher Kompetenz vertretenden Rechtsanwälten Mahler und Richter – eher matt und glücklos wirkten, dann ist Bundestag, Bundesrat etc. wirklich nicht mehr zu helfen.
Für die NPD indes ist nach dem 17. Januar 2017 eine „Mühle-auf-Mühle-zu“-Situation entstanden, die wenig Raum für ihre am Verkündungstag geäußerte Prognose läßt, der Makel des schwebenden Verbotsverfahren sei jetzt weg, nunmehr könne man „politisch wieder durchstarten“. Tatsache ist vielmehr: Bleibt die Partei bei entscheidenden Wahlen unterhalb der 5 %-Hürde, ist die für die Partei abgegebene Stimme parlamentarisch ohne Wert. Überspringt die Partei indes diese Hürde, bei Landtagswahlen müßte dies wohl mehrfach und vor allem auch in größeren Flächenländern geschehen, bei der Bundestagswahl dürfte ein einziges Überschreiten ausreichen, ist die Stimme im Ergebnis ebenso verloren, da dem strahlenden Einzug der NPD-Parlamentarier ein Verbotsantrag folgen dürfte, über den das Bundesverfassungsgericht nach dem jetzt sorgsam ausgelegten Schnittmuster kurzfristig entscheiden dürfte, und zwar mit einem – aus Sicht der Antragsteller – voraussehbaren positiven Ende.
Das NPD-Nichtverbotsurteil ist also bei Lichte besehen ein NPD-Quasi-Verbotsurteil, besser: ein NPD-in-spe-Verbotsurteil, noch besser: ein aufschiebend bedingtes NPD-Verbot, dessen Vollstreckung auf der dritten Antragsebene nur so lange ausgesetzt bleibt, wie die Partei – wie bisher – unter der Schwelle einer durch das Bundesverfassungsgericht präzise definierten (s. o.) politischen Relevanz bleibt. Dieser verfassungsrechtlichen Schwimmerschalterkonstruktion6, bei der die für politische Nässeschäden ungefährliche Partei weiter fröhlich drauflosplantschen darf, während sie bei einem evtl. flutmarkenähnlichen Erstarken umgehend „abgeschaltet“ wird, das Kompliment juristischer Eleganz zu versagen, fällt auch dem Verfasser schwer. Das ändert aber nichts an der politischen Perfidie einer solchen Konstruktion: Denn es gehört schon eine gute Portion Unverfrorenheit dazu, eine Wahl zu organisieren und als demokratisch und frei zu bezeichnen, bei der der Wähler u.?a. für eine Partei votieren kann, die bei zu starkem Zuspruch mehr oder weniger automatisch verboten wird.
Die Zwischen- und ggfs. Entlagerung der NPD ist freilich allenfalls ein willkommener Nebeneffekt des Urteils. Pünktlich zur Eröffnung der heißen Phase des Bundestagswahlkampfes kommt aus dem schönen Karlsruhe die Gelbe Karte an die AfD. Darauf steht: Opposition ja, aber nicht mit Inhalten, die von dem seit Jahrzehnten von dem Blockparteienkartell massenmedial transportierten und in vielen Fällen bereits in Normen geronnenen Dogmen dieser Republik abweichen.
Die Fliehkräfte, die diese Gelbe Karte innerhalb der AfD auslösen könnte, sollte man nicht unterschätzen: Der Distanzeritis-Flügel könnte sich in seinem verhängnisvollen Appeasement-Kurs bestätigt fühlen und den schon vorhandenen parteiinternen Spaltkeil weiter mit dem Argument zuspitzen, der patriotische, einer Zukunft der Deutschen in Deutschland verpflichtete Kurs, also ein Festhalten an dem unter Karlsruher Erde ruhenden „ethnischen Volksbegriff“, entspräche nicht der neuesten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und könne die Partei gar der Gefahr eines Verbots aussetzen. Angesichts des „rührenden Legalitätsbedürfnisses der Deutschen“ (Rudolf Smend), kann man nur hoffen, daß ein solches potentielles Spaltargument aufgrund der zu erwartenden Verschärfung der politischen Lage in den kommenden Monaten ins Leere läuft.
Unabhängig hiervon ist es vielleicht gerade nach dem Verfassungsdammbruch des 17. Januar 2017, der in seiner Fatalität der Grenzauflösung des 4. September 2015 kaum nachsteht, Zeit daran zu erinnern, daß die Deutschen über das Grundgesetz – im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung (WRV), die „das Deutsche Volk … durch seine Nationalversammlung … beschlossen und verabschiedet (hat)“ (Art. 181 WRV sowie Präambel WRV; Tag der Schlußabstimmung: 31. Juli 1919)7 – zu keinem Zeitpunkt, auch nicht 1990 oder danach, demokratisch entschieden haben; die Beschlüsse des unter alliierter Kuratel stehenden Parlamentarischen Rates ersetzen eine solche demokratische Verfassungsgebung durch den Souverän ebensowenig wie die im Anschluß daran erfolgten „Annahmen“ dieses Grundgesetzes durch einen Teil der damaligen (west)-deutschen Länder (ohne das Saarland) im Jahre 1949. Das Grundgesetz, aus dessen Artikel 93 sich allein die Legitimation des Bundesverfassungsgerichtes ableiten könnte, ist daher tatsächlich eine unfreie, von den westlichen Besatzungsmächten oktroyierte „Verfassung“. Die anderslautende
„Behauptung, das Grundgesetz sei demokratisch legitimiert, ist in Wahrheit eine Fiktion.“ (Hans Herbert von Arnim)8
Sollte es daher in naher Zukunft zu Zuspitzungen kommen, haben die Deutschen bezüglich der Nichtverfassung „Grundgesetz“ um so mehr die Rechte und Pflichten, die ihnen ihr erster Reichspräsident Friedrich Ebert, SPD, in bezug auf die demokratisch legitimierte Weimarer Reichsverfassung ins Stammbuch geschrieben hat:
„Wenn der Tag kommt, an dem die Frage auftaucht: Deutschland oder die Verfassung, dann werden wir Deutschland nicht wegen der Verfassung zugrunde gehen lassen.“9
Möglicherweise würde es das Bundesverfassungsgericht aber auf eine solche staatsrechtliche Eskalation nicht ankommen lassen, verweist es doch in seinem jetzigen Urteil erstaunlicherweise selbst auf Art. 146 GG und die sich hieraus ergebende Möglichkeit einer „Totalrevision des Grundgesetzes“ (Rn 518), das ohnehin nur „bis zum Inkrafttreten einer in freier Entscheidung des deutschen Volkes beschlossenen neuen Verfassung“ Geltung haben könne (Rn 518; so schon das KPD-Urteil BVerfGE 5, 85, 128 f.).

Fazit

An der grundlegenden Bedeutung des jetzigen NPD-Urteils für den Rahmen der künftigen politischen Auseinandersetzung in Deutschland10 können keine vernünftigen Zweifel bestehen. In seiner Tragweite kann die Entscheidung eigentlich nur mit dem SRP-Urteil von 1952 (BVerfGE 2,1) verglichen werden, in dem das Hegelsche Staatsmodell zu Grabe getragen und der Einstieg in das jetzt in seiner Widernatürlichkeit weiter aufziselierte liberalistische Einzelmenschsystem – bar jeder Rückbindung zu Gott, Volk, Familie, Heimat, Geschichte, Kultur etc. – vollzogen wurde. Sollten die Deutschen auf ihrem „Sonderweg eines apolitischen Rechtsstaatsbegriffs“ (Josef Schüßlburner)11 fortschreiten, wird das Pingpong zwischen Berlin und Karlsruhe um die politische Verantwortung weitergehen. Angesichts der in bälde nicht mehr zu übersehenden schweren Verwerfungen, die die Berliner classe politique nicht mehr wird wegtwittern können, werden vielleicht wieder einmal viele Deutsche mit ihren schrecklich blauen Augen nach Karlsruhe blicken und erleichtert durchatmen: „Gott sei Dank haben wir das Bundesverfassungsgericht!“ Dieser Blauäugigkeit sei schon jetzt entgegnet:
Karlsruhe ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Seit 1951 wurden und werden dort nicht – wie häufig behauptet – die Register der checks and balances gezogen, um die Allmacht der Bonner und Berliner Parteiapparate einzuhegen und auf diese Weise die Gewaltenteilung zu gewährleisten. Stattdessen wurde auf fast jedem Feld, von der Abtreibung bis zur Euro-Rettung, mit einiger zeitlicher Verzögerung den politischen „Vorgaben“ der juristische Segen erteilt. Auf diese Weise wurden zahllose politische Fehlentscheidungen – mit einer zum Teil virtuos angewandten „Ja, aber“- bzw. „Nein, aber“-Technik – juristisch ausgehärtet und mit dem ganzen Flittergold höchstrichterlicher Rechtsprechung umgarnt. Hinter dieser Fassade, die unter permanenter Verletzung des Grundgesetzes errichtet wurde, wurde dann ein Machtsystem ausgebaut, dessen jahrzehntelanger Erfolg nicht zuletzt darauf beruht, daß die wenigsten Bürger dieses Staates auch nur eine Ahnung davon haben, wie der Justizstaat Bundesrepublik wirklich tickt. Guizot warnte freilich schon im 19. Jahrhundert davor, daß bei einer Juridifizierung des Politischen „die Politik nichts zu gewinnen und die Justiz alles zu verlieren“ habe. Die 16 Damen und Herren der beiden Senate des Bundesverfassungsgerichts, die ihre heutige Position ausnahmslos „Vorschlägen“ des herrschenden Berliner Parteienoligopols verdanken, können daher zwar weiter mit bedeutungsschwangerer Mimik ihres Amtes walten; auch sie werden aber à la longue gesehen gewissen aus der Historie bekannten Berufsrisiken des Juristen nicht entgehen können:
„Staatsrechtslehre in einem nicht-souveränen oder gar in einem pseudo-souveränen Staat, das kann zwar finanziell ganz ergiebig sein, wie die Existenz des Wurmes im faulen Holz, aber ist es moralisch durchaus ruinös; es ist die Zerstörung der eigenen Identität, die sich von der Identität des eigenen Volkes nicht abtrennen läßt.“ (Carl Schmitt)12

Anmerkungen

1Das Urteil ist im Volltext unter der Rubrik „Entscheidungen“ auf der Netzseite des Bundesverfassungsgerichts abrufbar (www.bundesverfassungsgericht.de).
2Vgl. die Audio-Dokumentation der Carlo-Schmid-Rede im Original auf youtube.com.
3Vgl. das verfassungsrechtliche Hauptwerk von Josef Schüßlburner, Demokratie-Sonderweg Bundesrepublik – Analyse der Herrschaftsordnung in Deutschland, Künzell 2004, das für das Verständnis der Politikabläufe im Justizstaat BRD unverzichtbar ist.
4Die Willkür ist gleich dreifacher Natur: Zum einen entsprach der ethnische Volksbegriff nach dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz (RuStAG) über 50 Jahre lang bis zum 31. Dezember 1999 geltender Gesetzeslage des Nicht-NS-Staates BRD und kann schon von daher nicht nationalsozialistisch sein. Zum anderen war der ethnische Volksbegriff Auslösemoment („Wir sind ein Volk“) und selbstverständliche Geschäftsgrundlage der deutschen Wiedervereinigung (vgl. Präambel des Einigungsvertrages vom 31. August 1990: „Deutschland … als gleichberechtigtes Glied der Völkergemeinschaft“). Und ideengeschichtlich ist schließlich darauf hinzuweisen, daß im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Ideologie bekanntlich nicht das Volk, sondern die Rasse stand (vgl. etwa das Hauptwerk des NS-Chefideologen Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, 63.–66. Aufl., München 1935, dessen Einleitungskapitel „Rasse und Rassenseele“ über 120 Seiten lang ist, in dem der Begriff „Rasse“ allgegenwärtig ist und in dem der Begriff „Volk“ – im Gegensatz zu umfassenden Nachweisen bei „Rasse“ (ebd. S. 710) – noch nicht einmal im Sachregister aufgeführt ist; vgl. auch Rolf Peter Sieferle, Konservative Revolution, Frankfurt am Main 1995, der „die Fundierung völkischer oder nationalsozialistischer Programmelemente mit rassentheoretischen Argumenten“ als „spezifisch nationalsozialistisch“ kennzeichnet (ebd. S. 207), wobei der „Primat der Rassentheorie“ gerade in Abgrenzung zu „romantischen“ oder „faschistischen“ Positionen innerhalb der Konservativen Revolution deutlich werde (ebd.)
5Alfred Müller-Armack, Das Jahrhundert ohne Gott – Zur Kultursoziologie unserer Zeit (1948), Siegburg 2004.
6Besonders bizarr dürfte sich diese Schwimmerschalterdemokratie auf die Motivation der Wähler auswirken. Denkbar ist etwa, daß ein überzeugter NPD-Wähler, der seit Jahrzehnten nur diese Partei gewählt hatte, der NPD das nächste Mal seine Stimme vorenthält, um einen zu hohen Stimmenanteil und die dabei „automatisch“ entstehende Verbotsgefahr zu vermeiden. Nicht ausgeschlossen werden kann aber auch eine – umgekehrt motivierte – „Leihstimmenkampagne“ der besonderen Art, bei der etablierte Parteivertreter einen Teil ihrer Wählerschaft zur Wahl der NPD auffordern mit dem – nach der jetzigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: berechtigten „Versprechen“, bei Eintreten eines signifikanten Wahlerfolges werde die Partei „automatisch“ kurzfristig verboten.
7Vgl. i.?e. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Ver­fassungsgeschichte seit 1789, Bd. 5, Berlin u.?a. 1978, S. 1078–1205.
8Hans Herbert von Arnim, Das System, München 2001, S. 258 m. w. N.
9Zitiert nach: Ernst Rudolf Huber ebd. (Fn. 8), Bd. 6, Berlin u. a. 1981, S.  28.
10Die verfassungsrechtliche Ausbürgerung des deutschen Volkes aus Deutschland wird mittelbar auch Auswirkungen auf die politische Auseinandersetzung in Österreich haben. So könnten Forderungen nach „nationaler Identität“ (vgl. etwa den Punkt „Heimat, Identität und Umwelt“ im FPÖ-Parteiprogramm: „Wir bekennen uns zum Selbstbestimmungsrecht der Völker … Sprache, Geschichte und Kultur Österreichs sind deutsch. Die überwiegende Mehrheit der Österreicher ist Teil der deutschen Volks-, Sprach- und Kulturgemeinschaft …“) die Geschäftsgrundlage entzogen werden. Vielleicht erweist sich in diesem Zusammenhang das unsinnige Konstrukt eines „österreichischen Volkes“ noch einmal als nützlich, um einen analogen verfassungsrechtlichen Dammbruch zwischen Bodensee und Neusiedlersee zu verhindern.
11Josef Schüßlburner, Altes Recht und politische Mentalität der Deutschen, in: Criticón Nr. 148 (Oktober/November/Dezember 1995), S. 203, 206.
12Carl Schmitt, Glossarium-Aufzeichnungen aus den Jahren 1947–1958, erweiterte Neuausgabe, Berlin 2015, S. 309 (Eintrag vom 1. November 1954).

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Nach dem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts
(i. f.: BVerfG) vom 17. Jänner 2017 (Az.: 2 BvB 1/13)1
stellen sich vor allem drei Fragen, deren Beantwortung nachfolgend versucht werden soll:
1. Was ist nach neuester verfassungsrechtlicher Rechtsprechung unter dem Begriff „deutsches Volk“ zu verstehen?
2. Welche Folgen ergeben sich für natürliche oder juristische Personen, die gleich-      wohl am „ethnischen Volksbegriff“ festhalten?
3. Was hat es mit der durch das BVerfG selbst angesprochenen (Rn 518) Möglichkeit einer „Totalrevision des Grundgesetzes“ auf sich?

zu 1.: Der Begriff des „deutschen Volkes“ ist nunmehr von ethnischen, familiären, kulturellen oder historischen Zuordnungskriterien vollständig entkoppelt. Deutscher ist, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, gleichviel ob diese durch Abstammung oder durch Einbürgerung begründet wurde. Maßstab ist also allein der sogenannte Paß-Deutsche, der Bio-Deutsche und Nicht-Bio-Deutsche gleichermaßen umfaßt.
zu 2.: Wer – als einzelner oder als Organisation – dennoch an dem ethnischen Volksbegriff festhält, also z. B. die Aufnahme in seine Vereinigung davon abhängig machen möchte, daß der Kandidat seine Eigenschaft als Bio-Deutscher nachweist – was i. ü. nicht für die NPD gilt –, wird künftig als „Verfassungsfeind“ benannt und behandelt werden. Das dürfte – ganz jenseits politischer Parteien – insbesondere auf beamten-, steuer-, waffen-, vereins- und versammlungsrechtlicher Ebene derzeit noch kaum absehbare tiefgreifende Konsequenzen zu Lasten volkstreuer Personen/Organisationen nach sich ziehen (z. B. Berufs-, Vereins- und Versammlungsverbote, Disziplinarverfahren gegen Beamte, Aberkennung der steuerlich wichtigen Gemeinnützigkeit, Entziehung des Waffenscheins etc.).
zu 3.: Der mit der Einführung des Grundgesetztes im Jahre 1949 begründete und im Zuge der Wiedervereinigung 1990 in seinem Kern erhaltene Artikel 146 GG lautet:
„Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“
Das BVerfG knüpft in seiner aktuellen Entscheidung ausdrücklich an diese „durch Artikel 146 GG eröffnete Möglichkeit einer orginären Verfassungsneuschöpfung“ (Rn 518) an.
Nicht nur die (weitere) Geltung des Grundgesetzes, sondern auch die Auslegungshoheit der dazu ergangenen Rechtsprechung des BVerfG steht also unter dem Vorbehalt, daß das deutsche Volk, also diejenigen Deutschen, die man unter dem Verständnishorizont von 1949 zum deutschen Volk zu rechnen hat, in freier Entscheidung eine neue eigene Verfassung beschließt.

 
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