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Nationalstaat: Ethos von Solidarität

Von Dr. Werner Mäder

Der typische moderne Staat, der Nationalstaat europäischer Prägung hat seine Gestalt im Zeitalter der Französischen Revolution angenommen, wenngleich in manchen Zügen vorweggenommen durch Entwicklungen in den europäischen König- und Fürstentümern des 16. und 17. Jahrhunderts.1 Menschen haben sich seit jeher als Mitglieder einer „Wir“-Gemeinschaft definiert im Unterschied zu anderen „Sie“-Gemeinschafen. Und daran wird sich, unabhängig von der Form, mit der sie sich organisieren, in Zukunft nichts ändern.2 In herkömmlicher Sicht ist der größte verfaßte Solidarverband der Nationalstaat,3 eine Grundlage politischer Einheit.4 In ihm organisiert sich eine Menschengruppe als Gefah­ren- und Schicksalsgemeinschaft, um ihr Überleben unter wechselvollen Her­aus­for­derun­gen sicherzustellen, um Sicherheit nach innen und außen,5 Recht, Wohlfahrt und soziale Sicherheit zu erlangen. Der Staat verfügt kraft seiner Staatsgewalt über die Mittel, um die Solidarität der Bürger in der Erfüllung gemeinsamer Aufgaben zu organisieren, zu gestal­ten und, in begrenzten Umfang, auch zu gewährleisten. Gleichwohl vermag er die Solida­rität nicht zu erzwingen. Er ist darauf angewiesen, daß die Bürger bereit sind, in guten wie in schlechten Zeiten einzustehen. Nur so vermag er, den Leistungsfähigen Opfer zugunsten der Leistungsbedürftigen aufzuerlegen, ohne daß der Geber dafür Ausgleich erhält, es sei denn die Hoffnung, daß er bei entsprechenden Bedarf seinerseits Hilfe finde. Das beste Beispiel hierfür ist die Bismarcksche Sozialgesetzgebung.
Der Staat erweist sich daher nicht nur als zweckrationale Funktionseinheit, die nützliche und notwendige Leistungen erbringt, sondern auch als Personenverband, der auf geborene und gekorene Solidarität der Bürger gegründet ist. Deren rechtliche Form ist die Staatsan­gehörigkeit, deren vorrechtliche das Volk, im soziologischen Sinne: die Nation.6 Nach Max Weber bedeutet „Nation“ im allgemeinen Verständnis, daß gewissen Menschengrup­pen ein spezifisches Solidaritätsempfinden zuzumuten sei.7
Mit der Idee nationaler Solidarität wird ein familiales Moment in den Staat eingebracht. Dieser erhält Züge einer Über-Familie, die ihren Angehörigen Geborgenheit, materielle und ideelle Subsistenz bietet. Die Rolle des Vaters wird übertragen auf den „Vater Staat“. In diesem Zusammenhang stellt sich das Gemeinwesen dar als „Vaterland“,8 dem die Bürger („ergeben mit Herz und Hand“) Liebe, Treue, Opferbereitschaft entgegenbringen. Das Staatsoberhaupt verwandelt sich in einen „Landesvater“. So wurde jedenfalls früher der Bundespräsident betitelt. Entsprechende Mutterprojektionen finden sich seltener (immerhin haben Schiffe ein „Mutterland“). Um so häufiger ist die staatsethische Überhöhung der Staatsbürger zu „Brüdern“, die einander Eintracht und Hilfe schulden. So wie sie im klassischen Ausdruck findet im Rütli-Schwur des „Tell“: „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr.“9 Die Bruder-Metapher findet sich lange vor der Französischen Revolution im Wortschatz der Antike, des Christentums („Brüder in Christo“), des Mittelalters (Franken und Sachsen als „fratres et quasi una gens ex christiana fide“).10
So formuliert schon Augustinus: „Alle Menschen sind in gleicher Weise zu lieben. Da man aber nicht für jedermann sorgen kann, so muß man vornehmlich für jene Sorge tragen, die einem durch die Verhältnisse des Ortes, der Zeit oder irgendwelcher anderer Umstände gleichsam durch das Schicksal näher verbunden sind.“11 Um den universellen Anspruch trotz Unmöglichkeit praktischer Realisierung nicht aufgeben zu müssen, reduziert ihn Augustinus auf das menschenmögliche Maß. Er rekurriert auf die Kontingenz des Schick­sals und die Konkretheit der jeweiligen Lage. Das je konkrete Schicksal des Ortes und der Zeit schmiedet die von ihm Betroffenen zu einer Gemeinschaft zusammen. Ihnen eignet substantielle Gleichheit, das heißt eine mehr oder wenige Stabilität, die sie einander – ungeachtet der Unterschiede zwischen ihnen im übrigen – näher stehen läßt als zu Dritten.12 Menschliches Handeln trifft stets eine Wahl.13
„Unter der Ägide der Globalisierung zeigt sich, daß die unbegrenzte Ausdehnung der Solidarität ihre unbegrenzte Ausdünnung nach sich zieht. Wenn der Mensch für alle Menschen eintreten soll und jede beliebige Hilfe von jedermann einfordern kann, reduziert sich der Anteil des Einzelnen an der globalen Last auf jene infinitesimale Quote, die seinem Verhältnis zur Erdbevölkerung entspricht. Die Verpflichtung verliert sich ins Leere. Ihre Realisierung wird Spiel des Zufalls. (...)
Praktische Solidarität ist notwendig selektiv. ...“14
Solidarität bedarf eines Fundaments spezifischer Gemeinsamkeit, die über die Zugehörig­keit zum Menschengeschlecht hinausgreift: persönliche Zuneigung, räumliche Nähe, übereinstimmende Interessen, Gruppenzugehörigkeit.15 Im Zeitalter der Globalisierung gilt es, auch in der Ethik „Abschied vom Prinzipiellen“ zu nehmen.16 So ist „Brüderlichkeit“ bzw. Solidarität den leiblichen Brüdern mehr geschuldet als dem eigenen Volk, diesem mehr als dem Menschengeschlecht.17 Allgemein gilt also: Jeder solidarische Zusammen­schluß beinhaltet denknotwendig den Ausschluß anderer. Keine Gemeinschaft kann und muß sich allen öffnen: es gibt keine unbedingte Aufnahmepflicht für alle. Jede Gemein­schaft hat das Recht zur Selbstbestimmung über ihr personales Substrat und zur Selbstbe­hauptung ihre Identität, um ihre Solidarsubstanz zu wahren. Dies schließt die Zurückwei­sung oder den Ausschluß Dritter notwendig ein.18
Erst das Ende der Staatlichkeit in jeder heute bekannten Form, das heißt das Ende des Pluriversums politischer Einheiten, würde als das Zeitalter universaler Brüderlichkeit aller mit allen einleiten können. Ob darin ein politischer oder humanitärer Fortschritt läge, ist mehr als zweifelhaft; wenn allen Menschen alle Rechte unabhängig davon zustehen, wer sie sind und wo sie sich aufhalten, würde der Mensch auf sein bloßes Menschsein reduziert, ledig aller kulturbildenden und identitätsstiftenden Attribute, die ihn Jude, Muslim oder Christ, Farbiger oder Weißer, Deutscher oder Russe, Liberaler oder Sozialist sein lassen. Damit wären nicht nur die Grundlage und der Nährboden jeglicher Kultur beseitigt.19 Dies sind die Wirkungen einer Ideologie der „multikulturellen Gesellschaft“. Als Mensch und nichts als Mensch würde sich jeder selbst seinen Anteil im existentiellen Verteilungs- und Überlebenskampf um Bodenschätze, Luft und Wasser sichern müssen.20 Den Endsieg der universalen Idee der solidarischen Brüderlichkeit durch Abhebung jeder vermittelnden Instanz beschwor die Hobbessche Vision des status naturalis herauf. Auch dort waren alle Menschen gleich – aber ein jeder als Wolf für den anderen: es herrschte der bellum omnium contra ­omnes.21

Zur Neutralität des Nationalstaates

Ein Verdienst des Staates der Neuzeit ist, daß er den Einfluß „indirekter Gewalten“ gezähmt und neutralisiert hat. Seine Selbsterhaltung gebietet es, Duldsamkeit und Neutralität zu beenden, wenn Assoziationen (Islam) auf seinem Territorium eine Eigenständigkeit mit (absolutem) Herrschaftsanspruch und fremdem Recht (Koran, Scharia) entwickeln und die Religion zum Spaltpilz der politischen Gemeinschaft wird.
Nation und Rasse: Das Problem, das den Nationalstaat und die „multikulturelle Gesellschaft“ verklammert, ist nicht das Verhältnis von Nation und Rasse. Die Rasse ist kein konstitutives Merkmal einer Nation, war es – zumindest von der Realität her – auch nicht.
Zwar war die Rassezughörigkeit in der Antike, in Hellas, für die Juden und in den arabi­schen Stämmen entscheidend gewesen, im Römischen Reich dagegen nicht mehr. Das Christentum und die Germanen hatten sich darum nicht gekümmert. Die Bevölkerung der großen europäischen Nationen ist gemischt. In Frankreich war sie keltischen, iberischen und germanischen, in England keltischen und germanischen Ursprungs. Für Italien führt der Versuch einer Herkunftsbestimmung zu den größten Schwierigkeiten. Und selbst Deutschland ist entfernt davon, eine rassisch homogene Bevölkerung zu besitzen. Süddeutschland war keltisch, der Osten slawisch gewesen. Hinzu kommt, daß die Anthropologen etwas anderes meinen, wenn sie von Rasse sprechen, als die Historiker und Philologen. Angesichts dieses Befundes kam schon Ernest Renan zu der Aussage, „daß die Politik einem Trugbild aufsitzt, wenn sie sich auf ethnographische Analysen gründet“.22
Konrad Adenauer und Charles de Gaulle sind diesem Trugbild nicht aufgesessen. Ihre ursprüngliche Europa-Idee war, noch bevor der ‚Kalte Krieg‘ ausbrach, die einer politi­schen Union mit einem Kernland in den Grenzen des Reiches Karls des Großen.23 De Gaulle hat dann später von einem „Europa der Vaterländer“ gesprochen, das auf der Zusammenarbeit souveräner Nationalstaaten auf dem Gebiet der Politik, Wirtschaft, der Kultur und der Verteidigung beruht.24
Deutschland als Kulturnation hat seine Identität insbesondere über die gemeinsame Sprache gewonnen,25 während sich Frankreich als Staatsnation die Personen zuordnete, die Bürger des Staates waren.26
Nationalstaat und Religion: Der liberale Verfassungsstaat steht den geoffenbarten Verkündungen zwar neutral gegen­über. Das macht ihn aber in seiner Substanz angreifbar. Das Problem, das den laizistischen westeuropäischen Nationalstaat der Gegenwart in Spannung versetzt, besteht in der Gefahr des Machtzuwachses „indirekter Gewalten“ mit gedanklichen Motiven aus ganz verschie­denen Ideenkreisen (Religion, Wirtschaft, Liberalismus, Sozialismus usw.).27 Die Gefahr wird wirksam, wenn diese sich auf dessen Territorium über das bloß Gesellschaftlich-Assoziative zu eigenständigen politischen Assoziationen entwickeln und in Konkurrenz mit dem Nationalstaat treten. Dadurch ­entsteht ein Pluralismus der Gewalten, der den Staat als politische Einheit zerstört.28
Humus hierfür ist eine Vielfalt von Kulturen mit der Konkurrenz von (Welt-)Religionen, die den weltlichen Herrschaftsanspruch vertreten und damit Sprengstoff für eine Desintegration zünden. Den Rahmen hierfür gibt die Ideologie von der „multikulturellen Gesellschaft“, mit der die Souveränität des Staates unterminiert wird.29 Ein bestimmtes Maß kultureller und sozialer Homogenität muß gegeben sein, damit politische Einheit überhaupt möglich sein soll. Eine demokratische Einheitsbildung hört auf, wenn sich die relevanten politischen Volksteile in der politischen Einheit in keiner Weise mehr wiederer­kennen, wo sie sich mit den staatlichen Repräsentanten und Symbolen in keiner Weise mehr identifizieren. Eine wesentliche Störung des Gleichgewichts führt zur Spaltung der Einheit, in diesem Augenblick sind Bürgerkrieg, Diktatur, Fremdherrschaft als Möglich­keiten gesetzt.30 So hörte der Publizist Ivan Denes nicht auf, vor der Gefahr zu warnen, die von funda­mentalistischen Moslems ausgeht: „Europa will nicht verstehen, daß der aus der christlichen Liebestheologie abgeleitete Späthumanismus im Spottgelächter marodierender Banden von jungen Schwarz- und Nordafrikanern in Frankreich zerfetzt wurde.“31
Von Dr. Werner Mäder
Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug (ohne Fußnoten) aus dem Buch „Die Zerstörung des Nationalstaates aus dem Geist des Multikulturalismus“.

Der Autor
Dr. Werner Mäder (Jahrgang 1943), Leitender Senatsrat a. D.; ab 2001 Rechtsanwalt und Justitiar; zahlreiche Publikationen zum Staats-, Verfassungs- und Europarecht, zur Rechtsphilosophie und politischen Praxis, u. a. Kritik der Verfassung Deutschlands – Hegels Vermächtnis 1801–2001, Berlin 2002, Vom Wesen der Souveränität, Berlin 2007.

 
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