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Feindbild „Sozialdarwinismus“

Von Dr. Angelika Willig

Was die Biologie der Wirtschaft zu sagen hat

Das Wort von der „ewigen Linken“ hat sich bewährt. Der Sozialismus ist wieder da. Weder Millionen von Toten noch fehlende Bananen und ungenießbarer Kaffee haben seinen Ruf ruinieren können. Irgendwie klingt die Vokabel „sozial“ immer noch unwiderstehlich. Offenbar gibt es im Menschen einen natürlichen Drang zum Kollektiven.
Sozialdarwinisten und Neoliberale haben dafür eine einfache Erklärung: Wer dumm, faul und unqualifiziert ist, sieht für sich eine Überlebenschance nur in der Masse. Ein Versager kann nicht zum Chef gehen und mehr Geld verlangen. Das wäre ein schlechter Witz. Doch Gewerkschaft und Betriebsrat kämpfen für ihn mit. „Alle“, „jeder“ und „wir“ sind die Lieblingsworte der Unfähigen. Sie nennen das Solidarität. Von der Furcht, zu kurz zu kommen, sind die Schwachen beherrscht. Das ist verständlich. Überall kann man beobachten, wie sie sich aufplustern und ihrer Angst mit lautem Gekeife Ausdruck geben. Andere Durchsetzungsmittel besitzen sie nicht. Doch seitdem es den Wahlzettel gibt, steckt hinter der Furcht eine unverhohlene Aggression: „Wahltag ist Zahltag.“

Sozialistische Tugenden heißen heute Selbstmitleid und ­Sentimentalität

So behaupten es Sozialdarwinisten und Neoliberale. Doch mit umgekehrter Wertung argumentieren die Linken inzwischen ähnlich. Ines Pohl, die neue Chefredakteurin, will die „taz“ wieder linker machen. Das Linkssein definiert sie als „konsequente Parteinahme für die Schwachen und Schwächsten“. Bei Karl Marx klang das noch ganz anders. Da sollten die Proletarier sich ihrer Stärke bewußt werden. Doch statt Klassenbewußtsein sind heute Mitleid und Selbstmitleid als sozialistische Tugenden angesagt. Und weshalb? Weil es keine „arbeitende Klasse“ mehr gibt, sondern nur noch Leute, die Erfolg haben, und Leute, die keinen Erfolg haben. Die letzteren sind bei weitem in der Überzahl.
Deshalb argumentieren heute alle Parteien sozialistisch – sogar die Liberalen. Die Liberalen versprechen, daß auf dem Wege von Steuersenkungen und Sozialkürzungen die „Jobmaschine“ angekurbelt wird, damit es letztlich „allen“ noch besser geht als unter den Sozialdemokraten. Selbst die exorbitanten Managergehälter sind geduldet worden, solange man hoffte, daß auf diesem Wege Arbeitsplätze und Steuergelder hereinkämen.

Demokratie verstößt  gegen das Leistungsprinzip

Die Starken arbeiten für die Schwachen mit. Ihr Reichtum ist der fette Köder. Der vielzitierte geschröpfte Steuerzahler sind immer der Unternehmer und der Besserverdienende. Die sozial Schwachen zahlen kaum Steuern. Die vielen leben von der Leistung der wenigen. In der Politik aber hat die Mehrheit das Sagen. Die Vertreter der Mehrheit, die Politiker, fordern marionettenhaft Geld und immer mehr Geld, produzieren aber selbst nichts als Forderungen. Dafür werden sie gewählt. So funktioniert Demokratie. Demokratie und Sozialismus sind das gleiche.
Das behauptet nicht nur Friedrich Nietzsche. Auch der liberale Cheftheoretiker Friedrich von Hayek hat im Laufe seines Lebens festgestellt, daß das Wettbewerbsprinzip dem demokratischen Prinzip zuwiderläuft. Nur solange der Wohlstand kontinuierlich wächst, fällt dieser Widerspruch nicht so auf. Der allgemeine Wohlstand aber kann nicht immer weiter wachsen. Knickt die Kurve, haben wir eine Krise der Demokratie.
Und eine Krise der Werte. Denn die geltenden Grundwerte von Freiheit, Gleichheit und Humanität beruhen sämtlich auf einer guten finanziellen Ausstattung. Anders sind diese Werte in den Wind geschrieben, hohle Phrasen, die von den Massen durchschaut werden. Und dann beginnt die totale Korruption im Kleinen wie im Großen. Der Kampf aller gegen alle.

Die nationalen Parteien ­beschränken ihre Sozialromantik auf die Einheimischen

Das ist, wie gesagt, die Sicht von primitiven Sozialdarwinisten, die sich heute ins neoliberale Gewand kleiden. Sogar die fatalen Finanzspekulationen der letzten Jahre, so behaupten sie, sind Folge einer idiotischen Gier ahnungsloser Kleinanleger und Immobilienkäufer aus dem unteren Mittelstand. Mit wem hätten die großen Haie sonst ihre betrügerischen Geschäfte machen können?
Einen gewissen Widerstand gegen das universelle Anspruchsdenken gibt es allerdings bei den nationalen Parteien. Sie wollen zumindest eine Gruppe aus dem eingespielten Sozialmechanismus ausschließen, nämlich die Ausländer. Daß das nicht genügen wird, zeigt das Beispiel der DDR. Dort gab es so gut wie keine Ausländer, und doch hat der Sozialismus nicht funktioniert. Die Wahrheit ist, daß es sich bei der Forderung nach Gleichheit um ein naturwidriges Prinzip handelt. Und das gilt, egal ob es auf eine Nation beschränkt ist oder für die ganze Welt gelten soll. Denn auch die Angehörigen einer Nation sind untereinander nicht gleich. Der Nationalsozialismus ist dagegen kein Argument. Der Nationalsozialismus ist zwar auch gescheitert, aber keineswegs an den gleichen Ursachen wie der Sozialismus. Beim Nationalsozialismus handelte es sich nämlich keineswegs um einen „nationalen Sozialismus“.

Sozialismus bedeutet die Vorstellung vom Paradies auf Erden

Hinter dem Sozialisten ist immer ein „Gutmensch“ zu entdecken, auch wenn er sich hinter „wissenschaftlichen“ Argumenten versteckt. Der wissenschaftliche Sozialismus ist übrigens vollkommen schlüssig. Er setzt nur voraus, daß der Mensch die ganze Erde, einschließlich seiner eigenen Natur, zu einer perfekt funktionierenden Maschine umgestalten kann, die wie ein Perpetuum Mobile funktioniert. Dann könnten wir alle leben wie im Paradies. Erst nach der veritablen Revolution oder einer unendlichen Zahl von „gesellschaftlichen Reformen“ stellt man fest, daß es die humane Durchkonstruktion nicht gibt. Und daß man immer Leute brauchen wird, die sich gegen ihre eigenen Bedürfnisse abrackern, in Überstunden den Kopf zerbrechen oder still vor sich hin dulden. Vor allem das Dulden ist unter sozialistischen Vorzeichen streng verboten. Jederzeit muß das Opfer aufstehen und laut seine Rechte einfordern. Werden sie nicht eingelöst, stürzen die Ausgebeuteten die Regierung oder wählen einfach eine andere Partei.
Was aber, wenn das System eine weitere Steigerung nicht mehr hergibt? Man hat das ganz diffus als „Wachstumsgrenzen“ bezeichnet. Das bedeutet nicht plötzlichen Stillstand. Das Rad dreht sich weiter, aber Aufwand und Kosten der Maschine werden allmählich höher als der Nutzen. Auf subtile Weise schlägt die Natur zurück. Die Verhältnisse verbessern sich nicht mehr, egal welche Partei am Ruder ist. Entsprechend wird auch der „demokratische Prozeß“ gehemmt.
Im Prinzip haben die recht, die sagen, daß ich nichts aufessen kann, was ein anderer schon gegessen hat. Auch wenn es primitiv klingt. Und die Hierarchie von oben nach unten ist ewiges Gesetz, weil die Ressourcen beschränkt sind und um sie gekämpft werden muß. Das zeigt die Tatsache, daß sich der böse Kapitalismus gegen die gute Planwirtschaft durchgesetzt hat. Und noch mehr: Der Kapitalismus setzt sich auch gegen den Sozialdemokratismus durch, gegen das Modell der sozialen Marktwirtschaft, so daß wir heute archaisch-brutale Formen des Lebenskampfes bis hin zu mafiösen Strukturen überall auf der Welt beobachten. In Berlusconis Italien soll sich der Staat davon nicht mehr unterscheiden lassen. Solche Scheußlichkeiten sind nicht mit mehr Menschlichkeit, sondern mit mehr Brutalität zu bekämpfen.

Gemeinschaft ist  ein natürlicher ­Instinkt

Doch die Sozialdarwinisten haben im Biologieunterricht nicht aufgepaßt. Sie wissen nicht, daß die Solidarität manchmal das beste Überlebensmittel sein kann. Zumindest bei Tierarten, die in der Vergesellschaftung seit Jahrmillionen ihren Vorteil finden. Und dazu gehört zweifellos der Mensch.
Beobachten wir nicht die Affen, beobachten wir einfach einen Zeitgenossen, der mitten im Straßengewühl plötzlich den Klingelton seines Mobiltelefons vernimmt. Schon ist er am Hörer. Man muß nicht, wenn nicht gerade ein Millionendeal zu platzen droht, aber sie gehen alle dran. Unser Fußgänger hat eben noch mit einem teils leeren, teils betrübten Ausdruck vor sich hin geblickt und ist augenscheinlich von seiner Situation oder dem Leben überhaupt angeödet. Nun ruft ihn jemand an. Wahrscheinlich die Freundin, Ehefrau oder der langjährige Kumpel, also jemand aus dem nächsten Bekanntenkreis. Mehr als diesen kleinen „Affenfelsen“, auf dem sie ihr Dasein zubringen, haben die meisten Menschen nicht. Aus diesem Mikrobereich tönt nun also eine Stimme. Sofort ändert sich der Gesichtsausdruck, man möchte sagen: von dem einer Mumie zum lebendigen Wesen. Der Mann lebt auf. Und das steigert sich im Verlauf des Gespräches, auch wenn es von einigen akustischen Aussetzern begleitet ist. Die ausgetauschten Mitteilungen sind belanglos. Doch der einzelne vergißt die schleichend empfundene Nichtigkeit und Qual seines Daseins, sobald er mit einem anderen in Kontakt kommt. Echter Kontakt setzt voraus, daß beide dem gleichen Lebensbereich zugehören und wichtige Erfahrungen miteinander teilen.

Der Mensch ist ein Rudeltier wie der Wolf oder die Ratte

Das sich einstellende Wohl- oder Sicherheitsgefühl kommt daher, daß unsere Spezies nicht zum Einzelgänger taugt und isoliert sehr schlecht überleben kann: Seit Urzeiten hat er in Gruppen, Horden oder Sippen gelebt wie der Wolf in Rudeln. Das hat aber mit Sozialismus nichts zu tun, sondern im Gegenteil. In allen funktionierenden Gemeinschaften, ob bei Tier oder Mensch, besteht eine strenge Hierarchie, und was der eine darf, ist dem anderen noch lange nicht gestattet. Um die Stellung in der Gruppe gibt es bei einigen Tierarten harte Kämpfe, bei den Affen finden ständige Rangeleien statt, weil hier Ehrgeizige immer wieder versuchen, die etablierte Ordnung zu stören. Zerstört wird die Ordnung aber erst dann, wenn katastrophale Umstände eintreten, mit denen die Gruppe insgesamt nicht mehr fertig wird.
Charakteristisch ist der Irrtum von Thomas Hobbes, der im 17. Jahrhundert behauptete: „Der Mensch ist des Menschen Wolf.“ Dabei führen gerade die Wölfe ein vorbildliches Gemeinschaftsleben. Hobbes führt weiter aus, daß der Mensch sich deshalb einen Staat und eine Verfassung geben mußte, um vor seinem Nächsten und dessen Übergriffen gesichert zu sein. Die Staatsordnung entspringt demnach der Vernunft gegen die brutalen Triebe der Natur. So stark ist die Ratio beileibe nicht. Soziale Fähigkeit und soziales Bedürfnis wurzeln in den älteren Teilen unseres Gehirns, und schon lange vor der Gründung von Staaten und vor jedem geschriebenen Gesetz lebten die Menschen erfolgreich zusammen.

Ohne Gemeinschaft  gibt es keine Kultur

Ganz anders als der Tiger, den Nietzsche gern reiten möchte und der tatsächlich ein Einzelgänger ist, ein Tier, das sich nur zur Paarung mit dem Artgenossen trifft und ansonsten sehr gut alleine zurechtkommt. Löwen hingegen, die auch zu den Großkatzen gehören, leben in Rudeln und jagen in guter Arbeitsteilung. Allein sind sie ziemlich hilflos. Es liegt also nicht am evolutionären Entwicklungsstand, ob einer gesellig ist oder einsiedlerisch. Nicht etwa sind alle „höheren“ Tiere sozial, denn besonders hoch können wir wohl die Intelligenz einer schnatternden Gänseschar nicht einstufen. Wohl aber gilt, daß nur aus einer sozialen Tierart die menschliche Kultur herauswachsen konnte.
Denken wir nur an die Sprache. Denken wir an die Überlieferung. Rom ist bekanntlich nicht an einem Tag erbaut worden, und ein Einzelwesen kann solche Werke niemals schaffen. So ist das Grundprinzip der Evolution zwar der Kampf. Doch nur ein gemeinsam geführter Kampf führt über die Evolution hinaus und hinein in die menschliche Geschichte. Der Traum vom ewigen Frieden aber sollte das Ende der Geschichte sein. Er heißt Sozialismus.

Gemeinschaft bedeutet nicht Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit

Die Gemeinschaft ist niemals eine friedliche. Für Immanuel Kant ist der Mensch von einer „geselligen Ungeselligkeit“ geprägt. „Warum die Menschen einander nicht wohl leiden, aber auch nicht voneinander lassen können“, beschäftigte den Philosophen, der selbst den Zwiespalt für sich so gelöst hatte, daß er mittags eine lebhafte Tischgesellschaft versammelt, aber den Rest des Tages mit seinem Diener Lampe allein blieb.
Zweihundert Jahre später bestätigt die Biologie seine weise Einsicht. Der Soziobiologe Richard Dawkins hat seine These vom „egoistischen Gen“ mittlerweile um das Kapital vom „egoistischen Kooperator“ ergänzt (siehe: R. D., Der entzauberte Regenbogen, dt. 2000, Kap. 9). Darin analysiert er Verhaltensweisen verschiedener Tierarten, die man als „altruistisch“, jedenfalls stark gemeinschaftsbezogen, ansehen muß. Er kommt zu dem Schluß, daß solche „sozialen“ Tugenden stets unter dem Diktat des Überlebens stehen. Und zwar nicht des Überlebens des Individuums und auch nicht (wie man früher dachte) einer ganzen Art, sondern der Weitergabe konkurrierender Gene. Mit anderen Worten: die Gruppe ist dazu da, bestimmte Werte weiterzutragen, die sich somit als überlegen erweisen. Unbestreitbar vorhandene Gefühle von Solidarität und Identifikation sind kein Selbstzweck und leiten auch nicht auf den Endzustand ihrer idealen Verwirklichung hin, sondern sind die Voraussetzung von Existenz und Essenz menschlicher Kultur überhaupt. Sie haben eine zentrale Funktion, behalten aber immer die dienende Rolle.

Kooperation ist ein Mittel im ­Überlebenskampf, nicht die ­Alternative dazu

Daraus ergibt sich, weshalb Begriffe wie „Geselligkeit“, „Gemeinschaft“, „Zusammenarbeit“, „Verbundenheit“ oder „Heimat“ berechtigt sind, der Begriff „Sozialismus“ jedoch auf die falsche Fährte führt. Er suggeriert, daß durch eine innere Einheit die äußere Auseinandersetzung vermieden und überflüssig gemacht werden könnte. Die gegenseitige Verständigung beim Jagen (um beim Löwenbeispiel zu bleiben) wird als Zweck der Übung heraustheoretisiert. Das Ergebnis: Die Kommunikation wird immer aufwendiger, die Beute fällt immer magerer aus. Das ist der Verwaltungsaufwand realsozialistischer Staaten. Auch eine echte Autorität läßt sich nur nach außen hin gewinnen, im Kampf mit der Natur oder einem Feind, aber nie innerhalb der Kommunikationsstrukturen selbst.
Sonst kommen solche Politiker und Apparatschiks heraus, die nur verteilen und verwalten, aber nie produzieren und schaffen können. Nur in solcher Umgebung kann schließlich ein Philosoph wie Jürgen Habermas auftreten, der behauptet, wenn die „politischen Lebewesen“ sich über etwas einigen können, dann ist das Problem auch schon gelöst.
In Wahrheit können sie sich genau dort nicht einigen, wo ein echtes (äußeres) Problem besteht. Und darin besteht die politische Auseinandersetzung. Es geht um etwas, das sich nicht ins System integrieren (aufheben) läßt, sondern umgekehrt das System herausfordert: die sogenannte historische Aufgabe. Sie wechselt in den verschiedenen Epochen, aber ergibt sich immer aus der Natur bzw. aus Gott. An diesem Maßstab und keinem anderen mißt sich die soziale Gerechtigkeit. Wer eine natürliche Herausforderung annehmen kann, der gehört in der Gesellschaftspyramide nach oben. Wem dazu die Stärke fehlt, der steht unten und muß gehorchen, wenn er den Schutz der anderen genießen will.

Das Problem unserer Elite sind nicht Privilegien, sondern falsche Ausrichtung

Man wird nun sagen: So mag es im Wolfsrudel geordnet sein, aber in der menschlichen Gesellschaft kommen doch immer wieder die nach oben, die jegliche Qualität vermissen lassen. Bei uns ist die soziale Ordnung der natürlichen Ordnung geradezu entgegengesetzt. Das stimmt so nicht. Nicht nur in den großen Epochen der Geschichte hat es immer eine Führungsschicht gegeben, die dazu geboren und berufen war. Ausnahmen bestätigen immer die Regel. Doch wenn Adel und Kirchenadel nicht aus überwiegend fähigen Leuten bestanden hätten, dann hätte das damalige System auch nicht funktioniert. Selbst heute, wo wir ohne Zweifel am Rand eines Umbruchs stehen, weisen die inzwischen verhaßten Manager und Banker in ihrer Mehrzahl Fähigkeiten und Eigenschaften auf, die den anderen fehlen. Sonst würden die Neider nämlich nicht schimpfen, sondern selber das viele Geld verdienen. Die scheinbar überlegenen Eigenschaften dieser Klasse sind allerdings fast ganz auf die Steigerung des Wachstums und die Ausbeutung noch vorhandener Ressourcen ausgerichtet, und so bekommen sie im Laufe der Globalisierung notwendigerweise Schwierigkeiten. Ihr Sturz steht bevor wie einst der Sturz der agrarisch ausgerichteten französischen Aristokratie gegenüber dem aufstrebenden Bürgertum. Aber noch haben die Feinde der herrschenden Managerklasse nicht mehr zu bieten als die Feststellung eines Versagens. Das reicht aber nicht. Die Revolution wird nicht durch den Ruf nach „Brot“ gemacht, sondern durch die verbilligte Produktion. Der Revolutionär kann in der Hierarchie vorrücken, aber niemals das Leistungsprinzip abschaffen.

Der allgemeine Wohlstand hat die notwendigen Hierarchien ­aufgelöst

Doch wenn die Verhältnisse so klar sind, woher kommt der allgegenwärtige Drang, sich als kleines Würstchen ohne besondere Talente in alles und jedes einzumischen, alles besser zu wissen und dafür noch komfortabel und bequem leben zu wollen? Die neidische Ablehnung jeder Hierarchie, das Nichtanerkennen fachlicher Überlegenheit und die unvernünftigen und unmäßigen Forderungen nach universeller Befriedigung? Und woher kommt das starke Begehren, Familie und Herkunft zu verlassen, auf sich allein gestellt in der Welt herumzuziehen, Bekanntschaften zu wechseln und das Geld als einziges Bindemittel zwischen sich und anderen anzuerkennen? Woher kommen mit anderen Worten die Auswüchse von Sozialismus und Kapitalismus gegenüber einem kulturell geordneten Gemeinschaftsleben? Manche haben inzwischen schon vermutet, daß unser Erbgut durch Umweltgifte oder falsche Familienplanung so gelitten habe, daß wir das Empfinden für richtig und falsch völlig verloren hätten. Das ist zum Glück eine voreilige Befürchtung. Innerlich sind die heute lebenden Menschen und sogar die Deutschen noch kaum verändert. Doch die Situation, die der sie sich vorfinden, verkraften Geist und Gemüt immer weniger.
Betrachten wir einen Hund, der bei seinem wohlsituierten Herrchen gepflegt und verwöhnt wird, jeden Wunsch von den Augen abgelesen bekommt und nichts leisten muß. Wilhelm Busch hat das Ergebnis solcher Behandlung in wenigen Strichen plastisch dargestellt: der verfettete Köter befolgt keinen einzigen Befehl seines Herrn mehr und neigt dazu, ihm in die Hand zu beißen, wenn der Leckerbissen zu klein ausfällt. So verführt uns der Wohlstand beinahe zwangsläufig zu Unarten, gegen die Appelle nicht wirken. Wird ein Tier jedoch geschlagen und ausgehungert, dann verliert es jedes Vertrauen und jede Bindung zu seinem Herrn und versucht nur noch, auf eigene Faust über die Runden zu kommen. Überfluß und Mangel sind diejenigen Situationen, in denen angeborene Verhaltensweisen einer großen Belastungsprobe ausgesetzt werden. Es gibt bestimmte Mechanismen, damit umzugehen, aber irgendwann ist der Punkt erreicht, wo Angst, Gier, Egoismus und Schmarotzertum um sich greifen müssen.

Die Krise des Wachstums zeigt das Schwinden der natürlichen ­Ressourcen an

Die Krise ist also nicht Folge einer verfehlten Finanzpolitik, einer Währungsumstellung oder gar des schlechten Charakters von Bankleuten. Das sind alles nur Symptome. Die Krise ist immer Folge einer Über- oder Unterversorgung mit Gütern, wozu Rohstoffe ebenso gehören wie technische Verfahren oder sogenannte Humanressourcen. Bei der aktuellen Krise handelt es sich am ehesten um eine Unterversorgung mit der Illusion der Überversorgung. Diese Illusion entspringt auch nicht dem leeren Wahn, sondern wird durch bestimmte Indizien genährt. So schreitet die technische Entwicklung mit zunehmender Geschwindigkeit fort, ob nun in Deutschland oder anderswo, wodurch man jedoch übersieht, daß die meisten der Neuentwicklungen der Lebensqualität abträglich sind und zudem hohe Folgekosten verursachen. Dies festzustellen und Konsequenzen daraus zu ziehen, ist das System nicht mehr in der Lage. Es sieht nur auf Arbeitsplätze und Wählerstimmen. Diese Zahlen aber bilden in der Realität keinen Fortschritt mehr ab. Bei den Rohstoffen ist die Problematik am besten geworden. Trotzdem täuscht man sich mit „alternativen Energien“, „alternativen Autos“ und immer neuen Umweltbestimmungen darüber hinweg, daß solche Verfahren niemals einen Ersatz für die natürlichen Schätze der Erde abgeben können, die wir bisher abernten konnten. Diese Zeiten sind vorbei. Das Sparen und Schonen wird zum universellen Grundsatz werden. Dadurch wird sich unsere gesamte Wertvorstellung ändern müssen. Das ist jedoch mit den herkömmlichen Vorstellungen von Freiheit und Demokratie nicht zu vereinbaren. Bei den Menschen haben wir einen zahlenmäßigen Anstieg, der sich erst ganz wenig verlangsamt hat. In den Wohlstandsländern arbeitet man gerade mühsam daran, die Geburtenrate wieder zu steigern. In Wirklichkeit ist das Problem aber ein ganz anderes: wir haben zu viele Menschen, die nichts leisten, und zu wenige Leistungsträger. Das wird sich in Zukunft noch weiter verstärken. Wir haben viele Alte, Arme, Ungebildete, Kranke, Verhaltensgestörte, Unerzogene oder von Natur aus Unfähige und immer weniger Menschen, die die komplizierten Aufgaben der Zukunftsgesellschaft verstehen und meistern und können. Dieses Problem darf heute kaum angesprochen werden. Erst recht nicht, wenn dabei rassische Gesichtspunkte eine Rolle spielen sollten. Diese realen Veränderungen liegen aber der kommenden großen Krise zugrunde.

Der Streit zwischen Sozialismus und Liberalismus hat sich erledigt

Das Wort Krise stammt aus dem medizinischen Bereich. Es bezeichnet den Zustand, wo es sich entscheidet, ob der Patient wieder gesund wird oder stirbt. Die Situation betrifft vor allem die Infektionskrankheiten und den Kampf zwischen den von außen eingedrungenen Bakterien und den Abwehrkräften bzw. dem Antibiotikum im Körper. Wir wollen nun nicht den Patienten mit der gesamten Erde gleichsetzen. Es geht vorläufig nur um das Überleben des bestehenden politischen Systems. Die Frage ist also: Gelingt es im Rahmen des uns vertrauten Organismus noch einmal, die äußeren Probleme zu lösen, oder führen sie zum Ende des Systems selbst? Die Lösungsmöglichkeiten, die wir haben, bewegen sich alle innerhalb des humanen Paradigmas („Menschenrechtsideologie“), d. h. zwischen Liberalismus und Sozialismus. Die Frage unserer „Ärzte“ lautet: Auf welchem Wege können die vorhandenen Mittel noch besser genutzt werden, um die Ansprüche möglichst vieler Menschen zu befriedigen? Es kristallisieren sich in der Hauptsache die Vertreter zweier „medizinischer“ Richtungen heraus: die Pharmazeuten und die Homöopathen. Die einen wollen per Verstaatlichung und Beschäftigungsprogramm die Rettung erzwingen, die anderen setzen auf die Selbstheilungskräfte des Marktes. Der Streit zwischen beiden ist wissenschaftlich interessant und unterhaltsam. Er verliert allerdings stark an Reiz, wenn der Patient bereits im Sterben liegt und beide Methoden versagt haben.

 
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