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Die Wahrheit ist symphonisch

Von Wolfgang Saur

Kleiner Rückblick auf den großen Hans Urs von Balthasar (1905–1988)

Als am 26. Juni 1988 Hans Urs von Balthasar verstarb, gedachte seiner die Heimatstadt Luzern in einem festlichen Requiem. Die Trauerhomilie sprach Joseph Kardinal Ratzinger. Er pries den langjährigen Mitarbeiter des Papstes und betonte die freundschaftliche Verbundenheit seit der gemeinsamen Gründung von Communio 1972. Der Autor und Verleger Balthasar habe als „eigentlicher Vater der Communio-Familie“ zeit seines Lebens „gegen die Flut des Geschwätzes die Kraft der besten Quellen setzen, lebendiges Wasser und gutes Brot anbieten [wollen], das in der Zeit der Dürre nährt“.

„Was Balthasar wollte“, so resümierte der nachmalige Papst „kann man wohl am besten mit einem Wort des heiligen Augustinus umschreiben: ‚Unser ganzes Werk in diesem Leben […] besteht darin, die Augen des Herzens zu heilen, daß sie Gott schauen‘. Es ging ihm um […] das Sehendwerden für das Eigentliche: für Grund und Ziel der Welt und unseres Lebens […] Überall hat er die Spuren des lebendigen Gottes gesucht, das Durchscheinen seiner Wahrheit, die Fenster, die sich auftun zu ihm hin. Überall versucht er, Wege zu entdecken, die aus dem Kerker der Endlichkeit herausführen ins Ganze, ins Wahre hinein.“1

Der Faust der Theologie

Hier sind alle Motive von Balthasars Schaffen benannt. Unermüdlich tätig, hat dieser in 60 Jahren ein wahres Gebirge aufgetürmt: von kleinen und großen Schriften, beiläufigen Publikationen und systematischen Bänden, von Übersetzungen, Editionen, Einführungen und grandiosen Abschlüssen. Er hinterließ ein wahrhaft monumentales Werk: faszinierend und einschüchternd zugleich, das – so das Urteil der Theologen – als einziges der prominenten Kirchlichen Dogmatik (1932–68) Karl Barths gleichkomme.
Was aus den 85 Büchern und 900 Aufsätzen (samt ca. 80 Bänden, die ihm Adrienne von Speyr in die Feder diktierte) generalbaßgleich heraus tönt, ist der Drang eines organischen Systemdenkers nach einer maximal komplexen Denkform, die ins Unendliche ausschwingend sich im einzelnen zugleich völlig konkretisiert. Deren universelle Perspektiven indes sind verankert in einer geistigen Mitte, dem „Herz der Welt“. Als Apologet hat Balthasar versucht, der Katholizität ihr tiefes Antlitz zurück- zugeben, als Metaphysiker eine vielgestaltige Hierarchie logischer, an-thropologischer und kosmologischer Dimensionen zu erneuern und die Vision einer integralen Tradition christlichen Zuschnitts der Gegenwart zu schenken. Umso mehr lehnt sein Denken Reduktionen ab und dringt auf Synthese.
Gleichwohl war Balthasar mit den Brüchen der Moderne vertraut, Krise und Riß standen ihm grell vor Augen. Was ihn über die nur harmonischen Seinsgedanken und Gottesbilder hinausdrängte und ihm die Differenz aufzwang: Widersprüche und Eigensinn, die je historisch, denkerisch, existenziell auszuhalten und gedanklich einzuarbeiten waren. Hier wird ein spezifisch moderner, auch christlicher Anspruch sichtbar.
„Recht hat der, der am weitesten sieht“ – so seine Devise. Die aber machte es nötig, nicht nur Identität und Differenz zu werten und dann in Einheit aufzuheben, sondern auch jene modernen Autoren zu durchdringen, die das Versöhnungsprojekt erbittert torpedierten.
„‚Alles ist euer, ihr aber seid Christi‘, dies Wort hätte ich gern als Motto über mein Schaffen gesetzt.“2

Der Gelehrte und seine Produktion

Ein wesentlicher Prospekt von Balthasars gewaltiger Publizistik kann hier nicht gegeben werden. Immerhin seien acht Werkgruppen benannt, aus denen sich seine immense Lebensleistung aufbaut.
Seine akademische Ausbildung der 1920er, dann das Studium im Jesuitenorden führten nach der Dissertation (1930) zu einer frühen, interdisziplinären Synthese (I), der Trilogie „Apokalypse der deutsche Seele“ (1937–39).
Seit 1940 wieder in der Schweiz, begann Balthasars lebenslange Herausgebertätigkeit (II), zunächst mit der Europäischen Reihe der Sammlung Klosterberg (Verlag Schwabe, Basel) – Textauswahlen und Würdigungen von Goethe, Nerval, Sophokles, Novalis, Nietzsche u. v. m.
Diese Vermittlungsarbeit hat er die folgenden Jahrzehnte kontinuierlich fortgesetzt. Oftmals verbindet sie sich mit selbstständigen Monografien zu christlichen Autoren oder den Kirchenvätern (III), so etwa seinem lebenslangen Idol Origines.3 Es sollten wichtige Bände folgen zu Maximus Confessor (1941), Gregor von Nyssa (1939), Irenäus (1943) oder zu Augustin, Pseudodionysos u. a. Die Botschaft der Kirchenväter blieb stets eine wichtige Achse seiner Theologie.4
Ebenso wie die Kunde der christlichen Dichter (IV): Claudel hat er vielfach übersetzt und herausgegeben: 1939 begann er mit dem legendären „Seidenen Schuh“ und den „Fünf großen Oden“. Zwei weitere Dichter beschäftigten ihn intensiv: Reinhold Schneider (1953) und Georges Bernanos (1954).
Als die publizistische Arbeit zunahm, gründete Balthasar 1947 den Johannes-Verlag Einsiedeln. (V)
Dort erschienen etwa seine wichtigen Skizzen zur Theologie (1960–85), beginnend mit „Verbum caro“ 1960. Hier werden Konzepte zu späteren Büchern entwickelt oder Ergänzungen notiert. (VI)
Das Hauptwerk der Reifezeit und späten Jahre (VII) umgreift die gewaltige Trilogie: „Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik“ (3 Bde. 1961–69), „Theodramatik“. (4 Bde. 1971–83) und „Theologik“ (3 Bde. 1985–87), in toto 15 Einzelbände.
Begleitet werden die gottgelehrten Flaggschiffe von kleinen Booten der Zeit- und Kulturkritik. (VIII)
Schließlich hat Balthasar auch die Visionen, Träume, Kundgebungen und Betrachtungen seiner geistlichen Freundin Adrienne von Speyr niedergeschrieben, redigiert und verlegt: mit den sog. „Nachlaßbänden“ zum Passionsmysterium ca. 80 Bände (1947ff.) im ganzen. (IX)

Zur Biografie

Hans Urs von Balthasar wurde 1905 in Luzern als Sohn einer katholischen Patrizierfamilie geboren. Seine höhere Schulzeit verbrachte er 1916–22 bei den Benediktinern in Engelberg und 1923 an der Stella Matutina der Jesuiten in Feldkirch.
In den Jahren 1923–28 studierte er Philosophie und Germanistik an den Universitäten Wien, Berlin und Zürich. Dort wurde er 1929 von Robert Faesi promoviert mit einer Arbeit zur „ [Die] Geschichte des eschatologischen Problems in der modernen deutschen Literatur“ (1930).
Im gleichen Jahr trat er der Gesellschaft Jesu bei. Sein Noviziat absolvierte er in Feldkirch (1929–31), das philosophische Studium anschließend in Pullach (–1933), den Hauptteil seiner Theologenausbildung 1933–37 jedoch in Fourvière/Lyon. Dort schloß er sich Henri de Lubac an, dem Zentrum eines Kreises Jüngerer, die nachmals als Exponenten einer „nouvelle théologie“ bekannt wurden.
Zurück in München wurde Balthasar 1936 in St. Michael zum Priester geweiht. Dann stellte er sein monumentales Jugendwerk fertig und arbeite gleichzeitig als Redakteur in den Stimmen der Zeit gemeinsam mit deren Schriftleiter Erich Przywara.
1940 sandte ihn der Orden als Studentenseelsorger nach Basel, wo er noch im selben Jahr die protestantische Ärztin Adrienne von Speyr kennenlernte, die unter seiner Leitung zum katholischen Glauben konvertierte.
Schnell entfaltete er in der universitären Peripherie zahlreiche geistliche und wissenschaftliche Initiativen wie die „Studentische Schulungsgemeinschaft“, die „Akademische Arbeitsgemeinschaft“ und mit Adrienne das Säkularinstitut der „Johannesgemeinschaft“, erst für Frauen, dann Männer, schließlich für junge Priester.
Wichtig wurde ihm in diesen Jahren der enge Umgang mit Karl Barth (1886–1968), dem er schon 1951 eine paradigmatische, bis heute interkonfessionell gewürdigte Monografie gewidmet hat.
Intellektuelle, menschlich-soziale, schließlich auch institutionelle (Johannesgemeinschaft!) Spannungen mit dem Mutterorden führten 1950 zum definitiven Bruch: Balthasar verließ die Ordensgemeinschaft. Kirchenrechtlich nun im Ungewissen, mußte er auf Druck des ansässigen Bischofs Basel verlassen und ging für sechs Jahre nach Zürich, um erst 1956 zurückzukehren.
In Basel lebte Balthasar nun bis zu seinem Tod 1988. Arbeitend, in kleinen Kreisen lehrend, schreibend, publizierend und unterwegs auf Reisen. „Viele Besuche. Öfter Reinhold Schneider, C. J. Burckhardt, Guardini, Heuss […].“5
Zeitgleich mit dem Konzil (1962–65) begann seine große theologische Trilogie (1961–87) zu erscheinen. Das bestimmte Paul VI., ihn 1969 in die Internationale Theologenkommission zu holen. Noch enger wurde seine Wertschätzung durch die Nachfolger, Johannes Paul II. und Benedikt XVI., was sich nicht zuletzt in seiner (wiederholten) Berufung zur Kardinalswürde spiegelte, der Balthasar schließlich nachgab. Doch kurz vor seiner Einkleidung verstarb der geniale Arbeiter im Weinberg des Herrn am 26. 6.1988.

Aufnahme – Wirkung – Gegenwart

Hans Urs von Balthasar, früher eher ein Geheimtipp, entfaltete in seinen Reifejahren zunehmende Wirkung. Seit dem Tod Karl Rahners (1904–84) galt er als bedeutendster Theologe in der katholischen Kirche. Und mit Guerrieros großer Monografie (1993) hat sich die Forschung, vollends zum 100. Geburtstag 2005, breit entfaltet. In diesen Jahren sind ein Fülle von Spezialuntersuchungen, Sammelbänden, Tagungsschriften und neuerschlossenen Quellen erschienen.6

Zur Genese seines Denkens

So zeigen sich die konkreten Einflüsse seiner Lehrzeit erst uns transparent. Germanisten haben die Impulse dieser Zeit auf Balthasar untersucht.7 Von den Dozenten, die seinen Weg kreuzten, stechen besonders – neben dem Zürcher Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin – die Germanisten Emil Ermatinger, Walther Brecht, Heinz Kindermann, Paul Kluckhohn, Julius Petersen und Robert Faesi hervor. Konzeptionelle und methodische Impulse gingen besonders von Friedrich Gundolf, Erst Bertram, Rudolf Unger und Oskar Walzel aus. Diese herausragenden Fachexponenten verweisen auf folgende Themen und Methodenkonzepte: > philosophische Geistesgeschichte (Ermatinger, Unger, Kluckhohn), > Goetheforschung (Petersen), > literarische Kultur (Faesi), > wechselseitige Erhellung geistiger Formen (Walzel), > Welttheater (Kindermann), schließlich > monumentale Historiografie und > Mythenbildung des George-Kreises (Gundolf, Bertram). All diese Aspekte hat Balthasar sich fruchtbar gemacht und seinem Werk eingeschmolzen.
Bezeichnen Namen und Denkmodelle wesentliche Eckdaten des kulturwissenschaftlich-literarischen Diskursfeldes, so haben darüber hinaus vier Meister ihn spezifisch geprägt. Dies waren Hans Eibl in Wien, Romano Guardini in Berlin, Erich Przywara in München und Henri Lubac in Lyon.
Eibl lehrte Philosophie in Wien und war berühmt als Plotin-Kenner.8 Seine Analyse des neuplatonischen Systems beeindruckte Balthasar tief und schenkte ihm den begrifflichen Rahmen, das metaphysische Modell seines späteren Denkens. Die Transzendenz Gottes, der Hervorgang alles Seiendem aus dem Ursprung, das Lebendige zwischen Teilhabe am Höchsten und relativer Autonomie, die Hierarchie, die es ermöglicht, „die Prinzipien früherer Lehrsysteme und […] Gestalten der Volksreligionen in ein wohlgefügtes Ganzes aufzunehmen“9, kurz der gewaltige konstruktiv-synthetische Charakter dieses Weltbilds lud ein zu neuer Erprobung.
Romano Guardini, seit 1923 (–39) Professor für Religionsphilosophie und Katholische Weltanschauung in Berlin10, ist berühmt durch seine einfühlsamen Auslegungen der abendländischen Dichter und Denker.11 Damals brachte er seinen Studenten Kierkegaard nah. Dieser Streiter gegen Idealismus, intellektuelle Versöhner und die als heuchlerisch denunzierten Institutionsvertreter konfrontierte Balthasar mit dem Bruch im modernen Bewußtsein und der Scheinhaftigkeit seines Betriebs.
Das eigentliche Theologiestudium im Orden (1933–37) geriet ihm zu einer schweren Prüfung: „Das ganze Studium im Orden hindurch war ein verbissenes Ringen mit der Trostlosigkeit der Theologie, mit dem, was die Menschen aus der Herrlichkeit der Offenbarung gemacht haben.“ Es sei ein „Schmachten in den Wüsten der Neuscholastik“ gewesen.12 Dies Ungenügen an der verknöchert empfundenen Normalform katholischen Denkens führte ein Reihe junger Theologen in Lyon, vor allem aber Henri de Lubac zu alternativen Quellen, auf daß der Gottesgedanke sich erneuere. Gelegentlich war hier von einer „neuen Theologie“ die Rede.13 Deren Protagonisten reorientierten sich nun auf die Kirchenväter („denn Patristik hieß für uns: Christenheit, die noch in den unbegrenzten Raum der Völkerwelt hinausdenkt und die Hoffnung auf die Erlösung der Welt hat“14), sie zogen das symbolische Bild dem Begriff vor15 und verkündeten eine neue Vision katholischer Gemeinschaft. Dem befreundeten Mentor Lubac blieb Balthasar vielfach verbunden; er propagierte sein Denken im deutschsprachigen Raum. Vor allem übersetze er 1943 dessen programmatisches Werk „Catholizisme. Les aspects sociaux du dogme“ (1939)16 – „für uns ein Grundbuch“17 –, das sich den Impulsen der Liturgischen Bewegung anschloß. Guardinis Anstöße hatten hier den Weg geebnet.18
Schließlich war da noch Erich Przywara in München, dessen „Analogia entis“ (1932) das große Traditionsthema vom Seinsbezug zwischen absolutem Gott und endlichem Geschöpf wieder aufgriff und der Zeit als Herausforderung präsentierte.
Die 1920er Jahre haben nicht nur im Politischen, sondern auf vielfältige Weise vor allem in Wissenschaft, Kunst und Religion eine kritische Revision herkömmlicher Maßstäbe bewirkt und neue Denkmodelle entwickelt: so eine Abkehr vom Positivismus mit seinen dürren Begriffen und seiner zweiwertigen Logik. Wie die weltanschaulichen Anführer dieser intensiven Bewegung, Männer wie Scheler, Spann oder Heidegger, polemisierte auch der junge Balthasar gegen den Wissenschaftsfetischismus der Philosophie und die eitle Maxime der analytischen Theorie: „unbeantwortbare“ Fragen generell „auszuscheiden“. Dagegen hat große „Philosophie die Frage nach Grund, Wesen, Sinn und Endzweck des (Da-) ‚Seins überhaupt‘ gestellt; die großen religiösen Systeme von dieser Frage nie abgesehen, auch wenn sie darauf die gegenteiligsten Antworten gaben oder zu geben schienen. Denn jede Religion wollte (und will noch immer) eine Antwort auf den Letztsinn der Welt und darin des menschlichen Daseins geben, sie hat somit die philosophische Frage in sich“.19
Diese neue Lebendigkeit des Geistes zeigte sich nicht zuletzt in einer Orientierung auf Bild und Symbol, auf Mythos und Gestalt. Was er in jenen Jahren gelernt habe, war das, so Balthasar20, „was ich später in meinem theologischen Schrifttum ins Zentrum stellte: das Erblicken-, Werten- und Deutenkönnen einer Gestalt, sagen wir: den synthetischen Blick (im Gegensatz zum kritischen Kants, zum analytischen der Naturwissenschaft), und dieses Gestaltsehen verdanke ich dem, der nicht abließ, aus dem Chaos von Sturm und Drang auftauchend, lebendige Gestalt zu sehen, zu schaffen, zu werten: Goethe“. Es ging um das Erfassen des Wirklichen als der inneren Einheit lebendiger Kräfte.
Also verbiete sich dem Erkennenden ein Zugriff auf seinen Gegenstand „mit fertigen, ‚rationalen‘ Begriffen“. Die Methode müsse sich vielmehr vom Gegenstand selbst leiten, durchformen lassen, das Legendäre eine mythische Darstellung finden. Nietzsche habe recht getan, die historische „Objektivität“ als Illusion zu zerstören. Dagegen würden Mythos, Bild und Spiegel desto mehr zum wirklich Objektiven21 – so heißt es mit ausdrücklichem Bezug auf den George-Kreis, zumal auf Bertrams Nietzsche.22

Das eschatologische Frühwerk

Diese Prinzipien präludieren Balthasars monumentales, doch auch monströses Frühwerk, „Apokalypse der deutschen Seele“. Dessen 3 Teile stellen sich dar als der kühne Versuch, die deutsche Geistesgeschichte von Lessing bis zur Gegenwart (Rilke, Scheler, Heidegger, Expressionismus, Klages usw.) zu durchmessen, in tiefgründig vertrackten Einzelstudien, geschichtsphilosophisch pointierten Längs- und feuilletonistischen Querschnitten, die den Leser mit rasanten Namens- und Werkhäufungen überschwemmen. Eklektisch im Methodischen und apodiktisch seiner Diktion nach, unterwirft das Werk den Leser, anstatt die sonst propagierten dialogischen Konzepte Bubers und Schelers diskursiv einzulösen. Überhaupt zeichnen die Schriften dieser Jahre sich durch doktrinären Stil und argumentative Dürre aus.
So ist kaum verwunderlich, daß die „Apokalypse“ stets elegant umrundet wurde und kaum rezipiert ist. Das ändert sich erst neuerdings.23
Trilogie und Dissertation sind konzeptionell überbestimmt und intendieren eine unbekömmliche Verschmelzung disparater Sichtweisen. Doch bleibt das Frühwerk ein wichtiges Zeugnis für Themen, Sichten, Modelle und Griffe des Autors, die hier herausgestellt und erprobt wurden, bevor sie sein späteres Werk wesentlich mitbestimmten: es figuriert insofern als Schlüssel.
Eschatologie und Apokalypse beziehen sich auf die Schau der letzten Dinge: auf Heilsgeschichte und Endgericht, auf individuellen Tod und jenseitiges Schicksal. Diese religiösen Denkmodelle werden hier auf die säkulare Geistesgeschichte angewandt. Historische Tiefenanalysen sollen den religiösen Kern jeder geistigen Erscheinung freilegen, mithin ihr eigentliches Schicksal enthüllen. Das besagt auch, daß der junge Theologe das Strukturkonzept Heideggers in „Sein und Zeit“ (1927) – das existenzielle Antizipieren des Todes und der von ihm erzwungene Durchbruch zur ‚Eigentlichkeit‘ – heuristisch fruchtbar zu machen sucht.
Die Grundthese lautet folgendermaßen: „Die ideelle Struktur der historischen Problementwicklung zeigt folgende Kurve: Aus der Einheit der mittelalterlich-christlichen Eschatologie werden fortlaufend einzelne Stücke herausgebrochen, bis endlich der Hauptpfeiler, die Transzendenz, stürzt. An ihre Stelle tritt als einzig möglicher Ersatz der Fortschrittsglaube, welcher den einheitlichen Fundamentalgedanken der ganzen Epoche von [Leibniz] bis Nietzsche bildet, die im Idealismus ihren Höhepunkt findet. Im 19. Jahrhundert wird die innere Unhaltbarkeit der idealistischen Eschatologie aufgedeckt. Kierkegaard und Nietzsche stellen eine neue Alternative auf, das 20. Jahrhundert bildet zunächst die Bausteine für ein neues System, das die Gegenwart auszubauen beginnt.“24
Ist die Neuzeit gekennzeichnet durch Dualismen (Luther, Descartes u. a.), so schafft der Idealismus wieder eine Versöhnung: die dialektische Denkform vermag die widersprüchlichen Tendenzen kritisch zu vermitteln, dynamisch aufzuheben und als höhere Einheit zu vollenden. Hegel, dem Helden dieser grandiosen Synthese, widmet Balthsar hier ein tiefgründiges Kapitel.
Trotzdem suggeriert seine mythologische Umschrift eine kritische Reminiszenz: Prometheus als Allegorie des Immanenzgedankens.
Diese einzigartige Synthesis von den nachidealistischen Autoren aufgekündigt: Sie boykottieren die ideelle Selbstbewegung des Geistes in seiner logischen und ontologischen Höherwertigkeit. Dagegen fixieren sie Endlichkeit und Widerspruch, unterstreichen das faktische Daß der Existenz und markieren die Unüberwindlichkeit der Differenz.
Balthasar stellt Nietzsches Periode (1890–1914) unter das mythische Zeichen des Dionysos, verbindet die Gegenwart seit 1919 indes mit Kierkegaards Entscheidungsprinzip. Von da aus zeichnet sich auch für den jungen Autor ein „Ende der Neuzeit“ ab, denn: „Mit dem Reichtum der Prometheus- und Dionysos-Welt beladen, werden wir versuchen müssen, jene eschatologische Einheit wiederzufinden, von deren Zertrümmerung wir zu Anfang ausgegangen waren. Sie wird freilich ein neues Gesicht tragen […] Keinesfalls aber ergibt sich diese gesuchte Einheit wie ein totes Resultat am Ende unserer Wanderung, sondern im Wandern selbst durch die Höllenkreise und Windungen des Läuterungsbergs erringt sich die Seele ihr Paradies.“25

Zeitkritische Einsprüche

Gläubige Orientierung und Kulturkritik sind bei Balthasar konsequent aufeinander bezogen. War es seiner theozentrischen Sichtweise gemäß, alles Geistige christlich zu deuten (Haas)26 und „katholische Integration“ bereits via interdisziplinären Ansatz zu vollziehen, mußte der Zerfall der mittelalterlichen Einheit desto bewußter sein. Denn: „Einen rein-menschlichen, rein-historischen und rein-philologischen, vom Göttlichen [...] isolierbaren Aspekt gibt es dem Wort Gottes gegenüber nicht.“27 Deshalb stand er angesichts der Geschichte mit seinem Freund Guardini in Einklang: „Wer im Prozeß der Neuzeit die christlichen Grundwerte säkularisiert“, so schreibt er in seinem Guardini-Buch28, etwa, an die Stelle der echten Erlösung die fortschreitende Besserung der kulturellen Verhältnisse; an die Stelle der Gnade das subjektive Erlebnis; an die Stelle der Auferstehung und des ewigen Lebens einen irdischen Idealzustand setzt“, dem verflüchtigt sich auch der Glauben selbst. Balthasar identifiziert also gut dialektisch die Kräfte und Mächte der heutigen Welt als entfremdete Optionen der religiös gebundenen Vormoderne, widersprüchlich zerfällte Partialaspekte, deren kritische Vermittlung und Einbindung nicht mehr gelingt.
Eine solche Kultur kann die Zentrierung auf den Einen Gott nicht mehr leisten. Und in der entseelten Gesellschaft wird der Mensch sich selber fraglich, ist doch „die wahrhaft philosophische Frage nach dem Sinn des Seins [die] religiöse Frage nach seinem Heil im Ganzen“.29
So wird der Mensch des entsakralisierten Kosmos wie beim späten Heidegger aufgefordert, „sich zum Hüter der universalen Herrlichkeit Gottes in der Schöpfung zu machen“.30
Damit kommt das Schöne in die theologische Reflexion.

„Herrlichkeit“ – eine theologische Ästhetik

In den Jahren 1961–69 erschienen die 7 Bände von Balthasars theologischer Ästhetik „Herrlichkeit“. Sie verteilen sich auf 4 Abteilungen „Schau der Gestalt“, „Fächer der Stile“, „Im Raum der Metaphysik“ und „Theologie“ und sind als „Traktat über die Schönheit Gottes und seiner Offenbarung“ angelegt.
Auf dem Hintergrund der Tradition, der langen Geschichte christlicher Kunst und ihrer Ikonografie scheint es überflüssig, einen Rapport von Glauben und Schönheit einzufordern. Tatsächlich war deren Einheit ja vormals gegeben. Diese Verbindung fällt jedoch mit der Moderne weg. Unser ästhetisches Empfinden ist in der Neuzeit verschiedentlich gedemütigt worden. Zwar hat im Mittelalter die bildtheologische Ansicht die Ikonoklasten besiegt31 und die schöpferische Gestaltung des Glaubens mit bildnerischen Mitteln ermöglicht, die Reformation jedoch den im Alten Bund wurzelnden Dissens zwischen Bild und Offenbarung erneut.
In nachbarocke Zeit fällt dann die Autonomisierung der Künste, die sich aus dem symbolischen Verbund des Gesamtkunstwerks lösen.32 Schließlich zieht sich auch die katholische Kirche vom Kunstschönen zurück, in erbauliche Frömmigkeit und Verbandskatholizismus oder in den ästhetisch indifferenten, neuscholastischen Denkraum.
Gleichzeitig erlaubt der liberale Protestantismus (1800–1914) wieder eine Annäherung im Sinn einer kulturellen Harmonie; doch verwirft dies Kierkegaard, wenn er den „ästhetischen Zustand“ für unsittlich erklärt. Diese Sicht schreibt sich den modernen Theologien ein, vor allem der Karl Barths.
So nimmt Balthasar, „ungeachtet der protestantischen wie der katholischen Entästhetisierung der Theologie, ungeachtet der Geringschätzung seitens des homo faber“33, das Traditionsprojekt wieder auf. Versteht er das Schöne doch als „Glanz“ des Guten und Wahren in seiner Erscheinung.
Zwei Auffassungen basieren nun sein Unternehmen:
Wie schon die alten, byzantinischen Bilderfreunde rechtfertigt er Darstellung und Verehrung des Schönen christologisch. „Im christlichen Raum ist Schönheit die Herrlichkeit Gottes, die uns in Jesus Christus erschienen ist.“34 Die antike Kosmosfrömmigkeit geht also in die Inkarnation ein und wird dort heilsgeschichtlich und sakramental verklärt. Dieses Bewußtsein hat sich besonders in der Ostkirche erhalten.
Zweitens entfaltet Balthasar sein Anliegen im 1. Band im Sinn zweier Evidenzen: einer subjektiven und einer objektiven. Das meint die Offenbarung Jesu Christi als ausstrahlender „Glanz der Herrlichkeit Gottes“ und seine menschliche Aufnahme, als „Schau der Gestalt“, im Glauben.
Dieses Programm erscheint auch auf dem Hintergrund von Balthasars Denken konsequent: Er führt die Sphären wieder zusammen und verdeutlicht erneut den geistlichen Verbund von Athen–Jerusalem–Rom.
Als Manko seines Unternehmens erweist sich allenfalls seine durchgängige Beschränkung auf Wort und Person, also die Texte: Bildende Kunst ist kein Gegenstand seiner Betrachtung. Schönheit und Glaube verwirklichen sich für ihn nur literarisch.

 „Theodramatik“

Auf dem gewaltigen Fundament seiner Ästhetik ließ sich nun weiter bauen: so das Hauptstück seines theologischen Triptychons, in dem er den Welttheatergedanken in seine theologische Schau übersetzt.
Die Ästhetik beschränke sich auf die „Ebene von Licht, Bild, Schau. Das ist nur eine Dimension der Theologie. Die nächste heißt Tat, Ereignis, Drama […] Gott handelt am Menschen, der Mensch antwortet durch Entscheidung und Tat. Auch die Welt- und Menschengeschichte ist Welttheater; hier werden die Philosophie der Tat (Fichte), die Kunst der Tat (Shakespeare), die Theologie der Tat (Karl Barth) […] aufeinander bezogen werden müssen“.
Insofern ist das „Aufscheinen Gottes (Theophania) nur der Auftakt zum Zentralen: der in Schöpfung und Geschichte sich ereignenden Auseinandersetzung zwischen der göttlichen unendlichen und der menschlichen endlichen Freiheit. Von dieser Mitte handelt die Theodramatik, deren erster Band Prolegomena 1973 erschien.“35 Dessen Hauptteil entfaltet eine Theo-Poetik von Prinzipien und Fundamentalkategorien als systematischen Bausteinen bei der Umsetzung des Welttheatergedankens. Es geht um Autor-Schauspieler-Regisseur als „Trias der Produktion“, um Darbietung, Publikum, Horizont, um historische Modelle der alten Tragiker oder die bürgerliche Bühne des 19. Jahrhunderts, wir lesen Reflexionen über Pirandello, dessen Figuren ihren Autor suchen, über Brecht und Ionesco und einen Diskurs über Endlichkeit und Tod. Die letzten 150 Seiten („Von der Rolle zur Sendung“) behandeln das moderne Rollenproblem perspektivenreich in philosophischer, psychologischer, soziologischer und schließlich theologischer Hinsicht.
Wie komplex der Autor sein Thema durchführt, verdeutlich eine Anmerkung zu Calderon: „‘Welttheater‘ als das ernste Spiel, das im Gleichnis einer ‚ökonomischen Trinität‘ von Autor, Schauspieler und Regisseur aufgeführt wird […], menschliches, christliches Dasein als ‚Rolle‘, wie Calderon, der größte christliche Dramatiker, es verstanden hat. Seine Autos sacramentales als organische Verwandlung der abstrakt-zuständlichen Denkformen Thomas’ von Aquin in die ereignishaften der Bühne, zugleich als Anverwandeln aller weltlichen und antiken Stoffe, die transparent gemacht werden auf die Heilsereignisse hin: Spiel angesichts der im Mysterium ruhenden, ewigkeitlichen Eucharistie.“36

Adrienne von Speyr

Ein komplizierter Aspekt von Balthasars Leben, Erfahrung und Denken betrifft seine geistliche Freundschaft mit Adrienne von Speyr (1902–67).37
Es war dies eine, aus dem Schweizer Jura gebürtige Frau, die Balthasar nach seiner Übersiedlung in Basel kennenlernte. Verheiratet mit dem Basler Geschichtsordinarius Werner Kaegi, scheint sie menschliche Erfüllung doch nur in ihrer Freundschaft mit Balthasar gefunden zu haben. Die seelische Nähe beider hing ganz mit geistlichen Ereignissen zusammen.
Aus tiefem Bedürfnis konvertierte die Protestantin noch im Jahr 1940 zum katholischen Glauben. Sogleich setzte nun ein Strom übernatürlicher Erfahrungen, von Gesichten und Visionen ein, die Balthasar aufzeichnete. Es ergaben sich regelmäßige Diktate, deren Ertrag zu jenem Berg von Texten anschwoll, die auf die Nachwelt als Vermächtnis eines gemeinsamen „Auftrags“38 kamen.
Den Beteiligten nach handelt es sich um eine „experimentelle Form“ der Glaubenserfahrung. Zum Ausdruck kam diese, neben den typisch charismatischen Zeichen (Stigmata, Heilungen, Levitationen) in Adriennes Berichten, die Träume, Bibelauslegungen, Passionserfahrungen transportierten. Der gewöhnliche Hergang wird uns so berichtet: Balthasar nimmt „ihre Erfahrungen zur Kenntnis, er schreibt sie in einem Tagebuch nieder, bringt sie in eine Form, er gibt ihr den einen oder anderen Hinweis, der ihr helfen soll, das Erfahrene in einen Rahmen zu stellen, er sucht nach Anknüpfungspunkten in der Tradition, ordnet ihre Einsichten der Systematik kirchlicher Dogmatik zu, bringt sie in Verbindung mit der kirchenpolitischen Situation, fragt nach ihrem Nutzen für die Kirche, legt zur Prüfung vor und versucht, sie einem breiten Publikum zugänglich zu machen.“39
Man kann also von einer gemeinsamen Tätigkeit reden! Die Pointe besteht wohl darin, daß hier ein Auserwählter nicht bloß paranormale Erfahrungen macht und diese aufzeichnet. Vielmehr ist ein ausgezeichneter, mit allen intellektuellen Wassern gewaschener Theologe zur Stelle, der die Charismatikerin in all ihren geistlichen Ekstasen begleitet, ihr zuhört, alles registriert und aus den höchsten Gesichtspunkten deutet! Einen kompetenteren Sekretär konnte sich jene kaum wünschen.
Klar zeigt sich die Christus-Orientierung ihrer Visionen mit dem Fokus der Passion, zumal der Höllenfahrt. Aus all den wiederkehrenden Leid-, Schmerzens- und Verlassenheitserfahrungen entstand so die ganze Theologie des Karsamstags und „der drei Tage“, die in Adriennes Büchern breiten Raum einnimmt und auch Balthasar infizierte. „Für mich, der ihr beistehen durfte, enthüllte sich eine ungeahnt vielfältige Landschaft der Schmerzen: wie viele und verschiedene Arten der Angst gab es da, am Ölberg und am Kreuz, wie viele Weisen der Schande, Schmach und Demütigung, wie verschiedene Formen der Gottverlassenheit [..] Indem sie die Last der Sünden auf sich fühlte, wußte sie sich als Erzsünderin, durch einen Abgrund von der Reinheit des Gotteslammes entfernt […]“.40 Allein diese Aussage ermißt, welch „problematischen Weg“ Balthasar „mit der Aufnahme der Visionen als Quelle der Theologie betreten“41 hat.
Beiden wurde indes kirchliches Wohlwollen zuteil: So regte Johannes Paul II. ein Internationales Kolloquium an, um Adriennes Anstöße für die Theologie zu diskutieren.42
Wenn Außenstehenden Speyrs Fixierung auf den Passionskomplex und die Theologie des Karsamstags teils obskur erscheint, so, weil sie der Begnadeten nicht nur einen Weg der Nachfolge, sondern auch einen Raum wahrer Leidensexzesse eröffneten: die selber schwerst geprüfte Kranke zog in ihrem stellvertretenden Leidensgang der mystischen Imitation auch noch eine Vielzahl von Gebrechen, Problemen (priesterliche Sorgen im Beichtstuhl!) und Krankheiten anderer an sich, beginnend mit den Schwächen der eigenen Hausgenossen bis hin zu denen ferner Glieder am Leib Christi. Die Totalität der Sünde, das Meer der Schmerzen und der Ort völliger Gottverlassenheit wurden so zu entscheidenden Größen ihrer Meditation. Denn was bedeutete es, wenn gesagt war, Christus sei hinabgestiegen in das Reich des Todes?
„Menschwerdend hat der Herr nicht die Last der Sünden auf sich genommen, die während der Zeit seines Erdenlebens begangen wurden, sondern die Last aller Sünden. Darum war seine Menschwerdung auch notwendig damit verbunden, daß er an den Ort ging, wo alle Sünden der Welt, bisherige und künftige versammelt sind, daß er auch hinuntergefahren ist in die unteren Gegenden der Erde, dorthin, wo das Licht der Gnade nicht mehr scheint […], um dort zu tun, was die Tat des Kreuzes zuletzt noch erforderte: alles zu sammeln, was er während seines Erdenlebens nicht angetroffen hatte.“43

Leitstern Origines

Diese Stelle verdeutlicht, was den Theologen an der Leidesmystik Speyrs nicht bloß seelsorgerlich-menschlich, sondern auch rein thematisch fesseln mußte. Die Visionen und Schmerzextasen entwerfen eine Gegentranszendenz, eine schwarze Dystopie, sie imaginieren ein Äußerstes an Tod und Gottverlassenheit, ein moralisch-seinshaftes Verlöschen des Lebens selbst. Durch das Mysterium des Liebesopfers wird nun dieser Widerpart des Heilsplans, dieser düstere Schleier Gottes aufgehoben und auferstehend verwandelt, heimgeführt zum Ursprung, der alles Leben rechtfertigt.
Damit war Balthasars Lebensthema, die Vision des Origines von der Allversöhnung und eschatologischen Heimkehr aller Wesen erneut aufgetan. Diese Apokatastasis panton war allerdings von der Kirche verurteilt worden.44 Origines erhielt so seinen zweifelhaften Status in der Kirchengeschichte.
Die unermüdliche Propaganda Balthasars für eine Katholizität, die ewige Verdammnis ausschließt, hat den großen Denker noch in seiner letzten Schrift umgetrieben. Er versammelt dort Anwälte seiner Hoffnung: „Wir haben ‚die Pflicht der Heilshoffnung für alle‘ (K. Rahner). […] Werden es wirklich alle sein, die sich versöhnen lassen? Diese Frage kann keine Theologie oder Prophetie beantworten. Aber die Liebe ‚hofft alles‘ (1 Kor 13,7).“45

Katholizität – Einheit und Pluralismus

Was hier christologisch und gnadentheologisch bedacht wurde, entspricht Balthasars Vision der Catholica, seiner Vorstellung vom kirchlichen Auftrag, aber auch des Philosophen und nicht zuletzt seinem Beitrag zur ökumenischen Dynamik. Die Universalität des Glaubens ist einmal als heilige Komplexität zu verstehen, keine Summe, sondern ein polyphoner Chor, ein Organismus von ungeheurem Reichtum, der qualitative Vielgestalt, nicht quantitative Vielheit meint.
Der Komplementärbegriff der Einheit benennt dialektisch die Communio nur aus anderem Blickwinkel. Weil ja ein „lebendiger Organismus, je differenzierter er in seinen einzelnen Organen und Funktionen wird, eine desto tiefere innere Einheit besitzen muß“.46 Deshalb muß man zurückgehen auf den Grund: „bis die Einheit aufleuchtet“.“47
Ihren persönlichen Ort hat sie in der Herzmitte des Menschen, ihr heilsgeschichtliches Zentrum in Christus. Ihre kirchliche Dynamik findet sie in einem universellen Drang, das ganze Spektrum der Lebensmächte und Weltverhältnisse zu umgreifen und zu durchdringen. Doch nicht so, daß Kräfte und Mitspieler sich nur gegenseitig neutralisieren: vielmehr sollen sie durch die theozentrische Kraft der Vereinigung gebündelt werden. Wahre Einheit entsteht nicht als Reihung abstrakter Gleicher auf einer Ebene, sondern als wesentliche Integration Ungleicher in eine vielschichtige Hierarchie. Diese bildet sich institutionell in der Kirche und logisch in der Erkenntnis der metaphysischen Wissenschaft ab; schließlich zeigt sie sich negativ im historischen Zerfall.
So wurzelt der historische Pluralismus der christlichen Konfessionen in der Ausdifferenzierung, Partialisierung einzelner Komponenten. Es ist deshalb legitim, Kirche und Konfessionen im Sinne päpstlicher Verlautbarung zu unterscheiden, was bekanntlich protestantischerseits periodisch Mißstimmung verursacht.
Umgekehrt gibt es einen neuralgischen Punkt im ökumenischen Gespräch auf katholischer Seite:
„Das heutige ökumenische Gespräch wird nicht selten als ein gemeinsames Suchen nach der christlichen Wahrheit im Aufblick zum gemeinsamen Herrn, aber dabei auch als eine radikale Reduktion auf das angeblich ‚Wesentliche‘ verstanden, unter Ausscheidung aller entbehrlichen […] Beigaben. Daß unter solchen Voraussetzungen der katholische Partner notwendig den Kürzeren ziehen wird, ist klar, denn die Reformation hat schon vor 450 Jahren das Schiff von all seinem angeblichen ‚Ballast‘ erleichtert und redet heute angesichts der innerkatholischen Vorkommnisse nicht ohne Genugtuung von einem ‚Nachholbedarf‘“.48 Die Einheit mit den Protestanten stellt man jedoch „nicht durch Abschaffung der marianischen Dogmen oder durch Leugnung der apostolischen Sukzession […], sondern durch die rechte Einordnung dieser Wahrheiten in das übergreifende christologisch-trinitarische Ganze“ her.49
Dem ist er in seinen Büchern je nachgegangen: in „Einfaltungen“ (1969), dem „Antirömischen Affekt“ (1974), vor allem aber in dem Band „Die Wahrheit ist symphonisch“ (1972). Gegenüber den von ihm abgelehnten „Integristen“ beschwört er hier die wahre, innere Einheit und äußere Allheit als erlösend integrale Traditionsstiftung im weltgeschichtlichen Zeichen Christi.

Anmerkungen

1 Joseph Kardinal Ratzinger. Ein Mann der Kirche in der Welt. In: Karl Lehmann u. Walter Kasper (Hrg.): Hans Urs von Balthasar. Gestalt und Werk. Köln 1989; 349–354.
2 Mein Werk. Durchblicke. Freiburg 1990; 14.
3 Origines. Geist und Feuer. Ein Aufbau aus seinen Werken. Salzburg 1938.
4 Vgl. Charles Kannengiesser: In der Schule der Väter. Balthasars Beschäftigung mit der patristischen Theologie. In: Lehmann/Kasper; 78–85.
5 So eine Notiz 1954; zit. Elio Guerriero: Hans Urs von Balthasar. Eine Monografie. Freiburg 1993; zit. 184.
6 So Manfred Lochbrunner: Hans Urs von Balthasar und seine Philosophenfreude. Würzburg 2005.
ders.: Hans Urs von Balthasar und seine Theologenkollegen. Würzburg 2009.
7 Barbara Hallensleben/Guido Vergauwen (Hrg.): Letzte Haltungen. Hans Urs von Balthasars „Apokalypse der deutschen Seele“ – neu gelesen. Fribourg 2006. In diesem umfangreichen Sammelband zahlreiche Aufsätze über Bs. Rezeption der zeitgenössischen Autoren und Diskurse.
8 Hans Eibl/Gustav Kafka: Der Ausklang der antiken Philosophie. München 1928.
9 Ebd., 220.
10 Romano Guardini: Vom Wesen katholischer Weltanschauung. Basel 1953.
11 Von Pascal, Hölderlin, Rilke, Dostojewskij, Dante u. a.
12 Zit. bei: Esther-Maria Wedler: Symphonische Theologie. In: Die Politische Meinung – Nr. 433/XII.2005; 61–65.
13 Vgl. Art. „Nouvelle Théologie“. LThK, Freiburg 1993/2009; 7. Bd., 935 ff.
14 Mein Werk; 38.
15 Hugo Rahner: Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter. Salzburg 1964.
16 Henri de Lubac: Glauben aus der Liebe. Übertragen von Hans Urs von Balthasar. Einsiedeln 1970.
17 Mein Werk; 38.
18 Vom Geist der Liturgie. (1918) Von heiligen Zeichen. Vom Sinn der Kirche. (beide 1922)
19 Epilog. Trier 1987; 14 f.
20 Zit. Nach Wedler; a.a.O.; 61f.
21 Apokalypse der deutschen Seele. Bd. 1: Der deutsche Idealismus. (1937) Freiburg 1998; 16.
22 Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin 1918.
23 Vgl. Barbara Hallensleben et. al.; a.a.O.
24 Geschichte des eschatologischen Problems in der modernen deutschen Literatur. (1930) Freiburg 1998; 14.
25 Apokalypse der deutschen Seele. Bd. 2: Im Zeichen Nietzsches. (1939); 13.
26 Matthias Mühl: Literaturbericht: Von einem theologischen „Gebirgsmassiv“. Ein Rückblick auf das „Balthasar-Jahr“. Freiburg 2006; 304–12.
27 Offenbarung und Schönheit. In: H. U. v. Balthasar: Verbum Caro. Skizzen zur Theologie I. Einsiedeln 1960; 100–135, 103.
28 Romano Guardini. Reform aus dem Ursprung. München 1970; 16
29 Epilog; 18.
30 Ildefonso Murillo: Im Dialog mit den Griechen. Balthasars Verständnis antiker Philosophie in „Herrlichkeit“. In: Lehmann/Kasper; a.a.O.; 210–23,19.
31 Nach dem byzantinischen Bilderstreit 726–843.
32 Dazu Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Salzburg 1948.
33 Guerriero, 286
34 Ebd.
35 Mein Werk, 68–77.
36 Ebd.; 24f.
37 Aus dem Leben der Kirche. Adrienne von Speyr (1902–1967) Die Miterfahrung der Passion und Gottverlassenheit. In: Geist und Leben; Nr. 58/1985; 61–66.
38 Erster Blick auf Adrienne von Speyr. (1968) und: Unser Auftrag (1984).
39 Thomas Krenski: Hans Urs von Balthasar. Das Gottesdrama. Mainz 1995; 144.
40 Balthasar, zit. bei Krenski, 137.
41 Manfred Hauke: Auf den Spuren des Origines. Größe und Grenzen Hans Urs von Balthasars. In: Katholische Monatsschrift. Jahrgang 35/Nr. 9; 554–562.
42 Adrienne von Speyr und ihre kirchliche Sendung. Akten des römischen Symposiums 17.–19. September 1985. Einsiedeln 1986.
43 Adrienne von Speyr: Der Epheserbrief. Einsiedeln 1983; 135.
44 Auf dem 5. Ökumenischen Konzil 553.
45 Epilog, 98.
46 Mein Werk, 83.
47 Max Schoch: Ökumenische Unterredung unter Brüdern. In: Lehmann/Kasper; 312–333,379.
48 Zit. bei Gottfried Locher: Hans Urs von Balthasar. Impulse für unsere Ökumene. In: Wolfgang Müller (Hrg.): Karl Barth – Hans Urs von Balthasar. Eine theologische Zwiesprache. Zürich 2006; 143–75,157.
49 Zit. bei Christoph Schönborn: Hans Urs von Balthasars Beitrag zur Ökumene. In: Lehmann/Kasper; 334–349, 345.

 

 
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