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Auflösungstendenzen der Familie

 Zu 60 Jahre „Wandlungen der deutschen Familie“

Deutsche Familien wurden in den 1940er Jahren durch Krieg und Vertreibung auseinandergerissen. Männer wurden millionenfach zu Gefangenen, Verwundeten und Gefallenen. Um so mehr hatten Frauen beim Wiederaufbau zu leisten. Sinnbild dafür wurden die „Trümmerfrauen“, die die Rolle der Arbeiterin, Mutter und Hausfrau in einem einnahmen. Der 1948 bis 1953 an der gewerkschaftsnahen Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg lehrende Soziologe Helmut Schelsky (1912–1984) merkte rasch, daß die deutsche Familie nicht mehr sein konnte, was sie nach Lehrbüchern aus der Zeit vor dem Krieg einmal war, und begab sich mit seinen Studenten auf die Suche nach Wirklichkeit. Das Ergebnis legte Schelsky unter dem Titel „Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart“ 1953 vor.

Helmut Schelsky

In der genannten Untersuchung wird die von Marxisten noch immer vielfach angeführte Rede von einer Klassengesellschaft für wirklichkeitsfern gehalten. Schelsky sah schließlich eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaf“ aufziehen, die sich durch Schichtdurchlässigkeit auszeichne und auch den Flüchtlingsfamilien Aufstiegschancen einräumte. Für die Entstehung eines politischen Extremismus fehlten hiernach die sozialen Spannungen. Das „Wirtschaftswunder“ machte diese Diagnose rasch populär und wurde zum Standardwissen in der Fachliteratur. Als Gegenspieler erwies sich zunehmend Theodor W. Adorno, der weiterhin Deutschland eine faschistische Zukunft zutraute und davon die Jugend zu überzeugen verstand.
Weniger in Erinnerung geblieben ist, daß Schelsky in seiner familiensoziologischen Untersuchung auch Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“ (1951) widersprach, das zur „Bibel“ einer neuen Frauenemanzipationsbewegung wurde. Schelsky warnte, die von ihm ausgemachte weibliche Doppelrolle aus faktischer Berufstätigkeit einerseits, Hausfrau und Mutter andererseits, sei als Menetekel für die Wunschwelten von Radikalfeministinnen zu deuten. Schelsky gab zu bedenken, daß die Rolle der Frau nicht von der Mutterschaft abgelöst und einseitig vom Erwerbsleben her definiert werden könne. Das werde in praktischer Konsequenz zur Funktionsüberlastung führen. Es werde verkannt, daß die Rolle der Frau durch „Tiefenschichten und Gesetzesabläufe des politischen, sozialen und anthropologischen Geschehens bestimmt“ werde.  
Undurchdacht sei auch die Vorstellung, daß, wenn der Frau die Zukunft in den modernen großorganisatorischen Sozialstrukturen gehöre, sich dann eine Humanisierung in ihr ausbreite. Erstens hatte Schelsky eigene betriebssoziologische Untersuchungen vorgenommen, nach denen gerade Frauen ihre Geschlechtsgenossinnen als Vorgesetzte am wenigsten akzeptierten. Zweitens würden Frauen an den Sachgesetzen moderner Sozialstrukturen, die als inhuman empfundenen würden, kaum etwas ändern. Frauen würden vielmehr mit den Anforderungen moderner Gesellschaften zusätzlich belastet. Es komme faktisch zu „einer ‚doppelten Berufstätigkeit‘“, wie Schelsky 1961 in seiner Abhandlung „Die Bedeutung des Berufes in der modernen Gesellschaft“ präzisierte.
Es seien die Kinder, denen eine Doppelbelastung der Mütter am wenigsten bekomme: „Wir wissen, daß die Schäden, die etwa dem Kleinkind durch die dauernde aushäusige Berufstätigkeit der Mütter zugefügt werden, sehr schwerwiegend und weitreichend sein können. Ganze Apparaturen der Gesellschaft (Child Duidance Kliniken, Ärzte, Fürsorge usw.) werden später zur Heilung der so erwachsenen Schäden eingesetzt.“ Für Schelsky waren die neueren radikalfeministischen Überlegungen also voller „utopischer Elemente“ und daher auch an der „Zerstörung und Umformung einer gegebenen Gesellschaft interessiert“.
Schelsky war die Wirtschafsstruktur einer modernen Gesellschaft „nicht familienkonform und umgekehrt unsere Familien- und Haushaltsstruktur nicht berufskonform“. Ein Dilemma, das die Frau damals in der Regel dadurch löste, daß sie der Familienarbeit durch Aufgabe ihres Berufes zumindest zeitweise den Vorrang einräumte. Damit werde eine wichtige Leistung für die Familie und auch die Zukunft des Staates erbracht. Dem werde mit dem Ehegattensplitting, das Verdienstausfälle kompensieren helfe, zumindest ansatzweise Rechnung getragen.
Das Ehegattensplitting gibt es in Deutschland heute noch, sogar ein Betreuungsgeld von monatlich 100 Euro für jedes ausschließlich zu Hause erzogene und betreute Kind wurde für die Zeit ab August 2013 auf Drängen der CSU beschlossen. Doch die Opposition befindet sich schon in Kampfstellung, nach erfolgreicher Bundestagswahl gleich beides abzuschaffen, während in den Ausbau von Kindertagesstätten für eine Betreuung ab dem 1. Lebensjahr nicht genug Milliardenbeträge fließen können.
Der Karrierefeminismus setzt auf eine Berufs- und Wirtschaftskonformität der Familie. Das mußte nach Schelsky zu Lasten der Mutter- und Hausfrauenrolle gehen. Eva Herman hat die damit verbundene Funktionsüberlastung nur besonders prominent artikuliert und für viele gesprochen.
Als die Leidtragenden dieser Entwicklung haben sich die Kinder erwiesen. Neuere Studien über „Auswirkungen frühkindlicher Gruppenbetreuung auf die Entwicklung und Gesundheit von Kindern“ etwa belegen, daß die immer frühere Fremdbetreuung der Kinder falsche Anreize für ihre „sozioemotionale Kompetenz“ geben, also „dissoziales Verhalten“ wie Lügen, Schikanieren, Sachbeschädigungen und Grausamkeiten fördern. Hinzu kommen stark gestiegene Scheidungsraten und ein wachsender Anteil an mit nur einem Elternteil aufwachsender Kinder. Eine besondere Anfälligkeit für Depressionen und Süchte wird damit von Psychologen oft in einem Zusammenhang gesehen.
Wie sehr Vorstellungen von intakten Familien schon aufgegeben wurden, darüber lassen die schrittweise nachgegebenen Bestrebungen keinen Zweifel, homosexuelle Paare mit klassischen Familienmodellen gleichzustellen. Das wird in den Sozialwissenschaften von der Lehrkanzel herab gerne als „Abbau überkommener Sozialisations- und Wertorientierungen“ (Ingeborg Villinger) gefeiert oder als „Umformung“ und neue „Entwicklungstendenz“ zerredet. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, was von der Familie im Sinne eines Verbandes überhaupt geblieben ist.
60 Jahre nach Schelskys „Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart“ wäre eine Untersuchung über „Auflösungstendenzen der Familie in der Gegenwart“ an der Zeit. Daß das nicht schon längst geschehen ist, ist um so schlimmer für die Wirklichkeit.
Von Dr. Volker Kempf

Volker Kempf, geb. 1968, ist Autor der Biographie „Helmut Schelsky – Wider die Wirklichkeitsverweigerung: Leben, Werk, Aktualität“ (Olzog-Verlag, München 2012, 224 Seiten, 29,90 Euro).  

 
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