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Die Faszination des Faschismus

Von Friedrich Romig

Häresie oder Antwort auf die Probleme der Moderne?

Niemand, der sich mit der Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts befaßt, kann der Frage ausweichen, was denn die Groß- und Urgroßväter bewogen hat, sich in hellen Scharen – und ganz unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Stellung oder Parteizugehörigkeit – faschistischen Bewegungen und ihren diversen „Führern“ anzuschließen; sie folgten den „Duces“ oder „Caudillos“ voller Begeisterung – manchmal sogar auf dem Weg in den Tod.
Eine kompetente Antwort auf diese Frage gibt uns der neben Ernst Nolte wohl berühmteste Faschismusforscher der Gegenwart, nämlich Zeev Sternhell – inzwischen emeritierter Professor für Politikwissenschaften der Hebräischen Universität in Jerusalem. Auf ihn, der im deutschsprachigen Raum kaum bekannt ist, wurde der Autor dieses Artikels durch Dr. Karlheinz Weißmann aufmerksam gemacht, der anläßlich einer Buchpräsentation des Stocker Verlages einen Vortrag Sternhells vor der Siemensstiftung in München erwähnte. Sternhell soll in diesem Zusammenhang den Faschismus als die einzige Ideologie bezeichnet haben, die mit den gravierenden Problemen der Moderne – vor allem mit dem Versagen der Parteiendemokratie und der Entfremdung der Arbeitermassen von der Gesellschaft – fertiggeworden sei.

Um diese, vielen zeitgeschichtlichen Untersuchungen und vor allem der „politischen Korrektheit“ widersprechende Bemerkung auf ihren sachlichen Gehalt hin zu überprüfen, war es notwendig, sich wenigstens in das einzige bislang in deutscher Sprache (1999) erschienene Buch Sternhells (et. al.) über „Die Entstehungsgeschichte der faschistischen Ideologie“ zu vertiefen. Dieses Buch ist, wie die meisten Bücher dieses Autors, zuerst in französischer Sprache (1989) veröffentlicht worden.
Um gleich zu Beginn dieser Abhandlung Mißverständnissen vorzubeugen und notwendige Abgrenzungen vorzunehmen, sei darauf verwiesen, daß Sternhell den Nationalsozialismus Hitlerscher Prägung trotz vieler faschistischer Elemente nicht zu den originär faschistischen Bewegungen zählt. Nach Sternhell bestand das oberste Ziel des Nationalsozialismus – im Gegensatz zu den faschistischen Bewegungen – nicht in der Integration aller Bevölkerungsteile durch die Idee der Nation, sondern, als Folge einer verqueren biologistisch-darwinistischen Rassentheorie, in der Vernichtung der Juden (vgl. 15). Als faschistisch im originären Sinn gelten für Sternhell vor allem der französische und der italienische Faschismus.
Dieser Faschismus sollte nach Sternhell zuerst und vor allem als eine kulturelle Revolution begriffen werden, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einsetzt, von der Sammlung der nationalen Kräfte im Ersten Weltkrieg gestärkt wird und in den unmittelbar folgenden Jahren im Italien Mussolinis ihren politischen Durchbruch erzielt.
Diese kulturelle Revolution war auf die Zerstörung der materialistischen, dekadenten, hedonistischen, egoistischen und individualistischen bürgerlichen Gesellschaft sowie der liberalen Demokratie gerichtet, die durch das Gewicht von Zahl und Quantität das gesamte Kulturniveau herabzog und mit ihren, sich gegenseitig bekämpfenden Parteien zur Spaltung und Schwächung der Nation beitrug. Getragen wurde diese kulturelle Revolution von vielen prominenten Philosophen, Sozialwissenschaftern, Schriftstellern, Malern, Musikern sowie von vielen Sozialistenführern, die eine „nichtmaterialistische Revision des Marxismus“ in die Wege leiteten. Wir begegnen hier so bekannten Namen wie Thomas S. Eliot, Gabriele D’Annunzio, Ezra Pound, W. B. Yeats, D. H. Lawrence, Thomas Ernst Hulme, William James, Wyndham Lewis, Gustave Le Bon, André Malraux, Friedrich Nietzsche, Benedetto Croce, Arthur Moeller van den Bruck, Ernst Jünger, Gottfried Benn, Hendrik de Man, Robert Michels, Vilfredo Pareto, Giovanni Gentile, Gaetano Mosca, Pierre Drieu La Rochelle. Als Vorläufer lassen sich Pierre Joseph Proudhon, Charles Péguy und vor allem Georges Sorel anführen. Sie alle verbindet die radikale Ablehnung von Aufklärung, Humanismus und Demokratie.

Der Faschismus als kulturelles Phänomen

Der Aufklärung wird die Verabsolutierung des Rationalismus vorgeworfen. Gerade die großen und existentiellen Entscheidungen und Antriebskräfte des Menschen und der Geschichte lassen sich aber nicht durch die ratio erklären. Sie sind viel eher in irrationalen oder besser: überrationalen Bereichen zu finden, in denen das Unbewußte, die Religion, der Mythos und die Poesie zu Hause sind. Sie formen die Völker und ihre Menschen, wecken ihre Begabungen und „begeistern“ sie ganz im wörtlichen Sinne: Sie schenken ihnen ihren „Geist“, ihre eigentümliche Kultur, ihren Ethos und ihre Tradition. Der Humanismus macht den Menschen zum Maß aller Dinge, doch das ist er nicht. Sein Maß findet der Mensch im Göttlichen. Das Göttliche übersteigt den Menschen unendlich und verleiht ihm seinen unbeugsamen Willen, seine Würde und seine Unsterblichkeit. Es gibt dem Leben und Sterben ultimativen Sinn.
Die Demokratie wird vom Faschismus radikal abgelehnt, denn sie stellt die Ordnung der Welt auf den Kopf. Sie verneint Führung, Autorität, Hierarchie und Verantwortung. Sie bringt eine bloß schwächliche, hedonistische Ethik hervor, die den Menschen zum Lusttier erniedrigt, statt ihn auf die Höhe der Helden und Heiligen zu heben. Dem Bedürfnis des Menschen, am Ewigen teilzuhaben, wird diese Ethik nicht gerecht.
Diese kurzen Hinweise mögen zur Untermauerung der These Sternhells genügen, wonach „ein richtiges Verständnis des Faschismus erfordert, daß man ihn zunächst und vor allem als kulturelles Phänomen begreift“ (312). Doch bis das kulturelle Phänomen „Faschismus“ als politische Massenbewegung wirksam werden konnte, mußte zunächst der konkurrierende Marxismus und Sozialismus einer „nichtmaterialistischen Revision“ unterzogen werden. Das gelang um so leichter, als die Unwissenschaftlichkeit des Marxismus, insbesondere seiner fundamentalen Mehrwertlehre, durch bürgerliche Ökonomen – hier ist vor allem der Österreicher Böhm-Bawerk zu nennen – entlarvt wurde. Marxismus war seitdem nichts weiter als Demagogie mit scheinwissenschaftlichem Anstrich. Vom Theoretischen ganz abgesehen, war für jeden Beobachter der wirtschaftlichen Entwicklung um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert herum bereits augenscheinlich, daß die Prognosen Marxens über die zunehmende Verelendung der Massen, die Polarisierung der Klassengegensätze sowie die Konzentration der Produktionsmittel in wenigen Händen so nicht eingetreten waren. Der Massenwohlstand hatte im 19. Jahrhundert zugenommen, die Klassen- und Interessengegensätze traten in sehr zersplitterter und differenzierter Form zutage, der Mittelstand gewann an Boden. Die eingeleitete Sozialgesetzgebung und -versicherung vermittelte immer größeren Schutz gegen Notfälle, Krankheit und Arbeitslosigkeit, die Kinderarbeit wurde zurückgedrängt, die Arbeitszeit begrenzt, die Feiertagsruhe geregelt. Von idyllischen Verhältnissen konnte zwar noch lange keine Rede sein, dennoch schien der Marxismus zu diesem Zeitpunkt bereits „falsifiziert“.

Elite gegen Oligarchie

Eine „nichtmaterialistische Revision des Marxismus“ war vor allem das Werk von Georges Sorel. Er hatte bereits um die Jahrhundertwende klar erkannt, daß das träge Arbeiterproletariat als revolutionäres Subjekt ausfiel. Die Arbeitermassen mußten geführt werden, als aktivistische Träger der Revolution kam nur eine Elite infrage, die es verstand, Gewalt und Generalstreik als Mittel der Gesellschaftsveränderung und -integration sinnvoll einzusetzen. Sorels „revolutionärer Syndikalismus“ lieferte die theoretische Begründung des Faschismus. Sein Buch „Über die Gewalt“ (1908) wurde zum Vademecum Benito Mussolinis.
Die notwendige Führung der Massen durch Eliten wurde durch die um die Jahrhundertwende vorgelegten Ergebnisse der Sozialwissenschaften eindrucksvoll bestätigt. Le Bons „Psychologie der Massen“, Vilfredo Paretos „Lehre von der Zirkulation der Eliten“ und die bahnbrechenden Untersuchungen der „Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie“ mit der Entdeckung des „Gesetzes der Oligarchisierung“ durch Robert Michels, trugen ganz wesentlich zur Festigung des elitären Denkens im Faschismus bei. Eliten, so wurde es ganz allgemein erkannt, zeichnen sich durch adeliges Denken und Verhalten aus, sie verzichten zu Gunsten des Gemeinwesens auf persönliches Glück. Sie sind überzeugt von der Idee, daß der Einzelne geboren ist, um der Gemeinschaft zu dienen und für nichtmaterielle Werte zu kämpfen. Elitäre Eigenschaften und Überzeugungen finden sich in allen Schichten der Gesellschaft, denn was zählt, ist die geistige Verfassung, nicht die Stellung des Einzelnen oder ganzer Gruppen im Produktionsprozeß. Der Faschismus bewies, „daß es eine Kultur geben konnte, die sich nicht auf Geburts- oder Geldprivilegien gründete, sondern auf Gemeinschaftsgeist…“ (315).

Synthese der nationalen und der sozialen Idee

Der Gemeinschaftsgeist des Faschismus fand seinen Ausdruck in der alle sozialen Spannungen und Gruppeninteressen überwölbenden Idee der Nation. Der Schlüssel für die gesellschaftliche Ordnung „lag nicht im Klassenkampf, sondern in der organischen Einheit der Nation“ (314). Der Nation zu dienen, „die eigenen Interessen mit jenen des Vaterlands zu identifizieren, sich im Kult an heroischen Werten mit anderen zu vereinigen, erlaubte eine stärkere und tiefere Teilnahme, als wenn man einen Wahlzettel in eine Urne warf“ (315).
Der Erste Weltkrieg bewies, welche Kräfte die nationale Idee zu entbinden vermochte, wie sehr die Massen für die Zwecke der Nation zu mobilisieren waren, welche heroischen Tugenden noch im einfachsten Menschen geweckt werden konnten und zu welch unsagbaren Opfern das ganze Volk bereit war. Die Kameradschaft im Krieg verband hoch und niedrig. Menschliche Würde war keine Frage des gesellschaftlichen Ranges mehr, sondern der Bewährung. Ehre und Treue wurden gelebt und erhielten durch das Leben Inhalt. In der gelungenen Synthese von nationaler und sozialer Idee ist der Grund für die Faszination des Faschismus zu suchen.
Garant für die Einheit der Nation sollte der „starke Staat“ sein, geführt von der staatstragenden Elite, die durch Erziehung und Ausbildung auf ihr hohes Amt vorbereitet war, sich die zur Führung notwendige Autorität verschaffen konnte und sich im Kampf um die Durchsetzung der sozialen und nationalen Ziele des Faschismus zu bewähren hatte. Die in der Fortentwicklung des Syndikalismus aufgegriffene Organisationsform der Korporation ermöglichte den Aufbau des „organischen“ Staates, an dem alle Glieder der Gesellschaft tagaus und tagein und nicht bloß an Wahltagen partizipieren konnten. „Der Korporativismus stellte einen Eckpfeiler für ein Regime dar, dem es gelang, breiten Schichten der Bevölkerung das Gefühl zu vermitteln, daß sich das Leben geändert habe und sich ganz neue Möglichkeiten des Aufstiegs und der politischen Mitgestaltung boten, ohne daß es notwendig gewesen wäre, die sozioökonomischen Strukturen anzutasten“ (314). Eben darin sieht Sternhell die unbestreitbare Leistung des Faschismus, der sich für ihn als eine Revolution darstellt, „die das Beste aus dem Kapitalismus, der modernen technologischen Entwicklung und dem industriellen Fortschritt“ übernahm, ohne „die Triebkraft der wirtschaftlichen Aktivität anzutasten (das Gewinnstreben), ohne ihr die Grundlage zu entziehen (das Privateigentum) oder ihre notwendige Organisationsform zu zerstören (die freie Marktwirtschaft)“ (18). Hierin allerdings kann Zeev Sternhell wohl nur bedingt zugestimmt werden, erhielten doch Gewinnstreben, Privateigentum und Marktwirtschaft durch die soziale Verpflichtung, im Dienste des Gemeinwohls wirksam zu werden, eine Orientierung, die der liberal-kapitalistischen Wirtschaft weitgehend fremd ist. Zumindest in der Theorie entsprach der Idee der Nation und der „organischen“ Gesellschaft die berufsständische oder „korporative“ Wirtschaft, deren regulatives Prinzip nicht die Konkurrenz, sondern die gemeinwohldienliche, „sozialpartnerschaftliche“ Zusammenarbeit der Unternehmer und der Arbeiter, der Unternehmerverbände und Gewerkschaften, der nationalen Wirtschaft und des Staates war. Die organische, „geschlossene“ Gesellschaft verlangte als wirtschaftliches Pendant den autarken oder „geschlossenen Handelsstaat“, der allein imstande war, das „Recht auf Arbeit“ zu sichern. Schade, daß Sternhell die deutsche Literatur zum Korporativismus, die an die Genossenschaftsidee anknüpft, nicht berücksichtigt.
Wirtschaftliche Fragen, darin ist Sternhell sicher beizupflichten, standen im Faschismus allerdings nicht im Vordergrund des Interesses, „denn wirklich wesentlich am faschistischen Denken ist die Ablehnung des ‚Materialismus’“(21f). Dem Faschismus geht es um „eine neue Werteskala, eine neue Auffassung von Kultur“. Verherrlicht wird von ihm „die Energie, die Dynamik, die Kraft, die Maschine und die Geschwindigkeit, die Instinkte und die Intuition, die Bewegung, der Wille der Jugend“. Gepredigt wird „die absolute Verachtung der alten bürgerlichen Ordnung“, gepriesen „die Notwendigkeit und der Glanz der Gewalt“ (20). Darin finden sich die sorelianischen Präfaschisten mit dem Futurismus der künstlerischen Avantgarde lange vor dem ersten Weltkrieg zusammen. „Man versteht die Anziehungskraft, die diese Bewegung in der ganzen ersten Hälfte des 20. Jahrhundert auf weite Kreise der europäischen Intelligenz ausübte, wenn man in Betracht zieht, daß sie (die Intelligenz, d. V.) darin den Ausdruck ihres eigenen Nonkonformismus und ihrer eigenen Auflehnung gegen die bürgerliche Dekadenz finden konnte und daß diese Ideologie nicht nur eine neue Auffassung der Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft brachte, sondern auch eine neue Vorstellung vom Schönen und Bewundernswerten“ (21).

Völkischer Nationalismus

Philosophisch bedeutete der Faschismus eine ganz klare Absage an das rationalistische, individualistische und utilitaristische Erbe der Aufklärung, die vollständige Ablehnung der von Hobbes bis Kant entwickelten Auffassung vom Menschen und der Gesellschaft sowie der Revolutionen, wie sie in England, Amerika oder Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert auftraten. Bei diesem Generalangriff auf die philosophischen und politischen Grundlagen der bürgerlichen Zivilisation wurde nicht nur die Relevanz des (individualistischen) Naturrechts und die Gültigkeit gleicher und „unveräußerlicher“ Menschenrechte bestritten, sondern auch alle institutionellen Strukturen der liberalen Demokratie radikal bekämpft. Genau wie heute, so wurde bereits vor rund hundert Jahren die „Demokratie als der Gott“ erkannt, „der keiner war“ (vgl. hierzu Hans-Hermann Hoppe: Democracy – The God That Failed, 5. Aufl., New Brunswick 2003; jetzt auch in deutscher Übersetzung). In der Schule Sorels wurde die liberale Sozialdemokratie, dieser stets kompromißbereite, „süßliche und weichliche Sozialismus“, der mit „seiner demokratischen Humanitätsduselei“ „im Parlamentarismus versumpft“ sei, mit schneidenden Argumenten theoretisch verurteilt und von der politischen Bühne gefegt.
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts gewann als später wichtigstes Element des Faschismus der „völkische“ Nationalismus an Bedeutung, wie er am klarsten in den Werken von Maurice Barrès, Edouard Drumont, Charles Maurras und der „Action française“ zum Ausdruck kam. Er löste die alte, von der Französischen Revolution geprägte Auffassung vom Gemeinwesen als Gesamtheit der Individuen ab. „Die Auffassung der Gesellschaft als geschlossenes, abgeschottetes Ganzes, ein virulenter Antirationalismus sowie der Primat des Unbewußten führten zu einer wahrhaft ‚völkischen‘ Vorstellung von der Nation“ (24 f). Ganz anders als für den jakobinischen Nationalismus war das Volk nach dieser „organischen“ Auffassung ein Körper, einem Lebewesen vergleichbar, das sich unabhängig vom Willen des Einzelnen  behauptete. Dieser völkische Nationalismus – mit der Betonung des Vorrangs der Gemeinschaft vor dem Einzelnen – brachte eine neue Ethik oder Wertordnung hervor, in der „Disziplin, Autorität, gesellschaftliche Solidarität, Pflichtgefühl, Opferbereitschaft und Heldentum als notwendige Voraussetzungen für das Überleben des Landes“ ihren verdienten Stellenwert erhielten (vgl. 27). Die Hindernisse, die der faschistischen Gesellschaftsveränderung im Wege standen, verlangten heroische Kräfte, und es erscheint bemerkenswert, daß kein Geringerer als Sigmund Freud den Duce als „Helden der Kultur“ feierte (315). Um das Wohlergehen der Nation zu garantieren, waren die Urkräfte und Lebensgeister des Volkes zu aktivieren, „die nicht vom Gift des Rationalismus und Individualismus verseucht waren“ (25). „Zwangsläufig leugnete dieser neue Nationalismus die Evidenz jeder universalen und absoluten moralischen Norm: Wahrheit, Gerechtigkeit und Recht existierten nur, um die Bedürfnisse des Gemeinwesens zu befriedigen (24 f). Von solchen Gedanken geprägt, kam am Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich die Synthese von Nationalismus und Sozialismus zustande, und Barrès gehört (1898) zu den ersten politischen Denkern in Europa (wenn er nicht überhaupt der allererste war), der den Begriff ‚nationalistischer Sozialismus‘ verwandte“ (26).

Faschismus – eine weitere Häresie oder einzige Antwort auf die  Probleme der Moderne?

Überblickt man den Aufbruch zur Neugestaltung der Gesellschaft, den der Faschismus in Europa bewirkte, dann wird man der These Sternhells wohl cum grano salis zustimmen können, der Faschismus sei die einzige adäquate Antwort auf die Probleme der Moderne, die der menschliche Geist bis heute gefunden habe. Blickt man tiefer, so lassen sich im Faschismus Züge entdecken, die in der „nichtmaterialistischen“, und also „idealistischen“ Staatslehre von der Antike bis in die Gegenwart ihre unvergängliche Gültigkeit behauptet haben. Das eigentliche Anliegen des Faschismus, die Synthese von nationaler und sozialer Idee, wird auch in Zukunft zur unverzichtbaren Aufgabe der Politik gehören. In Rußland, China, Israel und vielen asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern wird dies vielfach deutlicher gesehen als im so genannten „Westen“.
Im Faschismus, wie er in Literatur und Geschichte des 20. Jahrhundert Gestalt gewann, wurden die unvergänglich gültigen Züge der idealistischen Staatsidee allerdings überlagert von der Verherrlichung der Gewalt, des Krieges, des Herostratentums, der Zerstörungswut, der Raserei und des futuristischen Wahns. Dadurch reihte sich der Faschismus samt seiner „kulturellen“ Revolution in die Reihe der Häresien ein, die – genauso wie die mit ihm konkurrierenden Ideologien des Liberalismus, Anarchismus, Demokratismus, Sozialismus, Kommunismus oder Nationalsozialismus – durch den Verlust der Gottesmitte und des Maßes den „Untergang des Abendlandes“ nur beschleunigten. Zum Tod nämlich ist verurteilt, wer „lebt, als ob es Gott nicht gäbe“ (J. Ratzinger). Dieses Verdikt gilt für Kulturkreise, Völker und politische Ideologien gleichermaßen wie für einzelne Menschen.

Quellennachweis

Zeev Sternhell, Mario Sznajder und Maia
Asheri: Die Entstehung der faschistischen Ideologie. Von Sorel zu Mussolini. Hamburger Edition, Hamburg 1999.

 
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