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Ewiges Russland

Von Wolfgang Saur

1000 Jahre russischer Kunst in der Tretjakow-Galerie

Sie beherbergt die herrlichsten Bildzeichen des alten Rußland: Dokumente seines Glanzes und seiner Leiden einer stets dramatischen Geschichte – von der „Wladimirskaja“ (1100) bis zur „Partisanenmadonna“ (1967), vom Antlitz des Erlösers bis zu den imaginären Schäferspielen von 1900 und schließlich auch zu manch derben Bildformeln der stalinistischen Propaganda. Die Tretjakow-Galerie in Moskau ist das beliebteste russische Museum, in dessen Räumen sich die Besucher heute so lebhaft drängen wie vor 100 Jahren und dessen Meisterwerke schon die Schulkinder bestaunen in ihrer Fibel. Nun feierte sie ihr 150jähriges Bestehen mit einem bunten Festreigen, dessen glanzvollste Perle den Deutschen zufiel. Ihnen sandte man die schönsten Stücke nach Bonn. Dort konnte der Kunstfreund vier Monate lang die Säle durchstreifen, fast wie im fernen Moskau. Welch Glück und geistige Erfüllung, setzt Tretjakows Erbe doch mehr als ästhetische Reize. Es vernetzt uns vielmehr mit dem gesamten russischen „Raum“: dessen Geschichte und Kultur, Menschen und Mentalitäten. Die Tretjakow-Galerie entwirft eine symbolische Biographie Rußlands.

Pawel Tretjakow und seine Sammlung

Das weltberühmte Museum trägt den Namen seines Gründers, Erfinders und leidenschaftlichen Sammlers. Pawel Tretjakow (1832–98), einer Moskauer Kaufmannsfamilie entstammend, ist die herausragende Figur unter den „Moskauer Medici“, einer Runde genialischer Mäzene aus dem kunstsinnigen Bürgertum der alten Hauptstadt. 1856 erwarb er seine ersten Bilder und legte so den Grundstein für die nachmals legendäre Sammlung. Mit 28 Jahren faßte er den Plan einer Nationalgalerie, welche die großen Züge der Vergangenheit vereinigen, das aktuelle Kunstschaffen paradigmatisch fördern, dem Publikum aber seelische Vertiefung, sozialen Austausch und nationale Verständigung bieten sollte. Die staunenswerte Umsetzung dieser Idee ward seine ureigene Tat, doch schenkten Zeit und Umfeld Anregungen dazu.
Moskau war der Hort slawophiler Ideen um Rußlands Wesen und geschichtlichen Beruf seit den 1830er Jahren. Von dieser Debatte um den eigenen Beitrag zur Weltkultur war auch Tretjakow geprägt. Die Slawophilen analysierten 150 Jahre zaristischer Verwestlichung als Entfremdung vom kollektiven Selbst, als innere Kolonisierung von Bewußtsein und Lebenswelt, nach der äußeren durch die Tataren (1237–1450). Eben im Jahre 1856 war Iwan Kirejewski gestorben, Haupt der slawophilen Bewegung. In seinem berühmten „Versuch über Europa und Rußland“ (1852) pointiert er bitter, daß die brachiale Indoktrination durch westliche Prinzipien (als vermeintlich universelle) die heimischen Kräfte ganz verschüttet habe: „Der Russe war (…), um sich angleichen zu können, gezwungen, seine persönliche und nationale Eigenart fast ganz dranzugeben, denn sowohl äußerlich als auch innerlich entstammte er einem ganz anderen Lebenskreis, der sich aus anderen Quellen speiste.“ Seine kulturphilosophische Betrachtung mündet in einen Aufruf zur Selbstbesinnung: „Dann, wenn er sich vom Joch der rationalen Systeme der europäischen Philosophie befreit hat, wird der russische Mensch in der Tiefe der besondern, den westlichen Begriffen unzugänglichen, lebendigen, ungeteilten Kontemplation der Heiligen Väter der Kirche die vollkommensten Antworten gerade auf diejenigen Fragen des Geistes und Herzens finden, die mehr als alles die Seele erregen, welche durch die letzten Ergebnisse der westlichen Selbsterkenntnis betrogen ist. Und in dem früheren Leben seines Vaterlandes wird er die Möglichkeit finden, die Entwicklung dieser andern Bildung zu begreifen (…)“
Die Chance dazu schien nähergerückt, jedenfalls die Aussprache darüber. Mitten im Krimkrieg starb Nikolaus I. (1855), dessen rabiate Zensur zuvor alles intellektuelle Leben erdrückt hatte. Nun gewann der geistige Verkehr sachte Spielräume. Der 1856 verlorene Krieg wirkte niederschmetternd; er erzeugte das Bedürfnis nationaler Selbsterkundung. Da weckten die liberalen Aussichten des neuen Zaren Alexander II. Hoffnungen auf Reformen, zumal die Bauernbefreiung (1861). Sie verbanden sich mit der ästhetischen Bewegung der 40er Jahre, der „natürlichen Schule“. Unter der Knute der Autokratie, ohne eigentliche Öffentlichkeit, war die Literatur seit 1750 zum Instrument des nationalen Bewußtseins geworden. Dies erhielt – wie in Deutschland – mächtigen Auftrieb 1812 durch den Kampf gegen Napoleon. Jetzt aber wich die Romantik der Puschkin-Zeit einem neuen Realismus, der in Kritik, Poesie und Malerei die drängenden Fragen der Zeit aufwarf und in Wissarion Belinskij ihren Exponenten erhielt. Die sozialkritische Richtung rief Aufrichtigkeit, Wahrheit, Realität, Modernität und Volksverbundenheit als neue Prinzipien auf den Plan. Ein Stichdatum kam 1863, als Tschernyschewskis programmatischer Roman „Was tun?“ (die ewig russische Frage!) erschien. Gleichzeitig rebellierten Absolventen der Petersburger Kunstakademie gegen klassizistische Stilform und Themenkanon. Wenig später (1870) kam es zur Gründung der Pere­dwischniki, der „Wanderer“, in Moskau. Freie Ausstellungstourneen durch die Provinz sollten den Menschen die nationalen Fragen und Probleme der sozialen Reform nahebringen.
Pawel Tretjakow reagierte positiv auf diese Strömungen als Bürger, Intellektueller, Mäzen und Sammler. So kaufte er nicht nur Werke an, wirkte vielmehr aktiv als Freund und Auftraggeber. So ist seine Galerie nationaler Porträts entstanden. Sie hat die großen Werte und Persönlichkeiten des kulturellen Lebens nicht nur registriert, vielmehr symbolisch gestaltet und weltanschaulich kanonisiert zu ‚Ikonen‘ des nationalen Bewußtseins.
Die Porträts von Tretjakow selbst zeigen einen feinsinnigen Intellektuellen, schmal und vergeistigt, der rastlos die Zeit auskaufte. Sein überbordender Terminkalender war vergleichbar dem des deutschen Unternehmergenies und Politikers Walther Rathenau. Irdischer, doch gleich intensiv wirkt neben ihm das Porträt seiner Frau, der Pianistin Vera Mamontowa (von Iwan Kramskoi, 1879). Ruhig und gelassen sitzt diese als Halbfigur dem Betrachter gegenüber, nobel, unprätentiös, im schwarzen holländischen Kleid, steife Aufschläge an Ärmeln und Kragen, dazu die Haube, als diskreter Schmuck die Silberschließe am Gürtel. In monumentaler Einfachheit adaptiert diese Figur aus der klassischen Bildwelt niederländischer Malerei hier ganz untheatralisch, eine fremde, bürgerliche Tradition, die Rußland fehlte, und zeigt ein Moment europäischer Vernetzung auf, das den russischen Eliten stets eigen war.
Im altrussischen Stil gehalten ist dafür die Fassade der Galerie, deren 2.000 Kunstwerke Tretjakow 1892 der Stadt Moskau übergab. Diese hat fleißig weitergesammelt und verwaltet heute einen stolzen Hort von 150.000 Objekten: Gemälde, Zeichnungen, Ikonen und Skulpturen – heilige Ikonen und säkulare, doch alle dem wechselvollen Geschick russischen Lebens verbunden. Sie geben uns eine Ahnung von dessen Wesen, in Zeit und Ewigkeit.
1000 Jahre russischer Kunst
Rußlands Kunstperiode und neuere Geschichte überhaupt beginnt mit der Christianisierung der Kiewer Rus im Jahr 988. Die große Form ist sofort da, importiert aus Konstantinopel, gründet Rußland doch in hellenischem Christentum und byzantinischer Kultur. Sie vermittelt den Russen die reife Monumentalarchitektur und Ikonenmalerei der mittelbyzantinischen Periode: griechische Kreuzkuppelkirche mit leuchtenden Mosaiken und innige Mutter-Kind-Ikonen. So die „Wladimirskaja“, die zum Palladium Rußlands wird, Inbegriff des wundertätigen Bildes schlechthin. Doch schafft heimische Phantasie in der Folgezeit kreative Umbildungen, entwickelt eine reiche Symbolik und nach 1300 die Ikonostase im Kirchenraum: die Bilderwand als heilige „Membran“ (P. Florenskij) zwischen Mensch und Mysterium. Die Kirchen selbst verändern ihr Erscheinungsbild, verblüffen mit geschweiften Giebeln, Kokoschniks; die Tamboure der Kuppeln wachsen sich aus zu Türmen, bekrönt von Zwiebelspitzen, Gold im Sonnenlicht. So entsteht die mythische Silhouette des Heiligen Rußland, glitzernd im Winterschnee.
Daneben bleiben Züge der autochthonen, vorchristlichen Kunst erhalten. Parallel zur Großarchitektur geht der Holzbau fort, seine Formen bereichern auch die offizielle Architektur. Die ornamentale Phantasie der Skythen und Waräger lebt in der Volkskunst, ihren geometrischen Mustern bis heute fort. Auf die Metropole Kiew, Machtzentrum von 1000–1150, folgen Wladimir und Susdal, Tschernigow, Smolensk – bis 1237 das Land im Mongolensturm zusammenbricht und für 100 Jahre die russische Kultur zurückwirft. So blüht das Kulturleben der freien (Handels-) Städte Novgorod und Pskov bis zum Aufstieg Moskaus im 15. Jahrhundert, wohin schon 1328 der Metropolit gezogen war. Hier nun werden, „ausgehend von der Schaffung eines Nationalstaates, die Grundlagen der Nationalkultur gelegt. Die Einheit der Sprache festigt sich, und die Literatur wird ganz deutlich der Aufgabe der Errichtung des Staates untergeordnet. In der russischen Baukunst schließlich treten die nationalen Eigenarten immer ausgeprägter hervor“, so Dimitrij Licha­tschow. Das verdankt es nicht zuletzt dem Befreiungskampf gegen die Tataren und auch dem Fall von Byzanz 1453, der Rußland zur orthodoxen Vormacht befördert. In seiner Staatssymbolik vollzieht sich eine geschichtstheologische Übertragung, die Moskau zum 3. Rom deklariert. In dieser Zeit entfaltet sich die heimische Ikonenmalerei zu höchster Blüte. Sie vertieft sich spirituell bei Feofan Grek und verklärt sich in der Liebesmystik Andreij Rubljows, so seine Dreifaltigkeitsikone (1427). Den siegreichen Anspruch unterstreicht Iwan IV. 1560 mit dem Bau der bizarren Basiliuskathedrale am Roten Platz, einem manieristischen Wunderwerk aus vielfarbigen Türmen, Kuppeln, Treppen, Terrassen und überreichem Dekor.
Die neue, private Andachtsfrömmigkeit bezeugen die kostbaren Ikonen der Stroganow-Schule mit ihrer miniaturhaft erlesenen Feinmalerei, während die Kirche selbst um 1650 vom Schisma erfaßt wird: Die Altgläubigen widersetzen sich der Reform und werden fortan zu einer subkulturellen Verfolgtenschicht, den Raskolniki.
Die Zwischenzeit des 17. Jahrhunderts ist durch vorsichtige Anleihen an die Stilform des Barock geprägt. Bezeichnend für diese Jahre sind die Heiligenbilder des Uschakow, die durch ihre Licht-Schatten-Modellierung und die räumlich-plastischen Effekte (eine schleichende Naturalisierung also) auffällig kontrastieren mit der starren Frontalität der alten Sakralästhetik. Mit dem Bildmodell der Parsuna entstehen die ersten (Herrscher-) Porträts, eigentümlich schwebend zwischen (traditioneller) Idealität und (neuer) Individualität.
1613 hatte der erste Romanow den Zarenthron bestiegen, 1689 wird Peter I. Autokrat. Mit ihm verbindet sich eine Modernisierungsrevolution, die zum tiefsten Bruch russischer Geschichte wird seit dem Mongolensturm. Peter transformiert den gesamten Bestand kultureller Zeichen und tritt mit der Gründung von Petersburg (1703–13) ins europäische Kunstsystem ein. Sein „Fenster zum Westen“ wird zur programmatischen Leistungsschau barocker und klassischer Stilformen, die er und seine Nachfolger zur monumentalen Stadtlandschaft gruppieren. Doch blieb Petersburgs gewaltige Schönheit von tragischem Zwielicht umwittert, schien verflucht, dem Untergang geweiht. Peters Gewaltakt war teuer bezahlt, er hat das alte Rußland seiner Tradition beraubt.
Beim Anschluß an die höfische Kultur des Westens fällt neben den repräsentativen Projekten der italienischen Baumeister vor allem die breit ausströmende Pflege des Porträts auf. Fortan sollte es sich zu einer zentralen Bildgattung im neuen Rußland entwickeln. War mit der Einrichtung einer Akademie 1757 auch der akademische Klassizismus staatlich approbiert, adaptierte das 19. Jahrhundert vollends das europäische Spektrum der Künste: Alle Gattungen sind nun reich etabliert, die Stilentwicklung folgt weitgehend den üblichen Zyklen, doch mit russischem Profil. Im Übergang zur Moderne, dem „Silbernen Zeitalter“ von 1890–1914, kommt es schließlich zu einer „Differenzierung und Beschleunigung des russischen Kunstlebens“ (Ada Raev) im Rahmen des Sezessionssystems. Bemerkenswert für diese Periode sind exklusive Zirkel und Zeitschriften, Künstlerkolonien (Abramzewo) nach dem Vorbild der viktorianischen Reformästhetik und die gesamtkünstlerischen Projekte Diagilews seit 1906.
Nach der Oktoberrevolution 1917 entwerfen die jungen Avantgardekünstler Utopien vom „Neuen Menschen“, bis diese experimentelle Phase Ende der 1920er ausläuft und seit 1932 ersetzt wird von der Doktrin des Sozialistischen Realismus. Der freilich zeigt in seiner langen Traditionsbildung, neben plakativ-schematischen Schwundformen, die kaum mehr sind als simple Illustration der Parteiideologie, ein weites Spektrum stilistischer Varianten, die das Kunstschaffen des Ostblocks – zwischen konservativer Formbesinnung und gemäßigter Modernität – als ernstzunehmende, schöpferische Alternative zum westlichen Avantgardekarussell markieren.
Bleibt festzuhalten, daß bis heute (selbst im Rahmen eines neoliberalen Pluralismus) in Rußland die Grundorientierung an überindividuellen Werten erhalten blieb. Die setzt der autonomistischen Dynamik subjektiven Eigensinns und sozialen Zerfalls Grenzen. Woran selbst die Dissidenten der Breschnew-Ära festhielten. Künstler wie die „Moskauer Metaphysiker“ kritisierten den „Alltagswahnsinn“ und nahmen mit der „verderblichen Abtrennung der künstlerischen Aufgaben von überpersönlichen Vorgaben“ überraschend früh schon den postmodernen Nihilismus aufs Korn. „Das eigengesetzliche Spiel mit den Zeichen der Kultur war für die Metaphysiker inakzeptabel. Es wurde als Konformismus, als wesenloser, zynischer und höhnischer Relativismus aufgefaßt. Die echte Moderne schloß weder ewige Werte aus noch die platonische Welt überzeitlicher Ideen, noch die Erfahrung der alten Meister.“ (J. Barabanow)

 
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