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Ukraine und Rußland

Von Mag. Wolfgang Dvorak-Stocker

Es ist mir noch nie so schwergefallen, einen Text zu schreiben, wie diesen. Seit Jahrzehnten bemüht sich unsere Zeitschrift, ihren Beitrag zu einer engeren politischen und kulturellen Verbindung Österreichs und Deutschlands mit Rußland zu leisten. Zahlreiche Artikel haben wir der russischen Geschichte und Kultur gewidmet und sind für diese grundsätzlich rußlandfreundliche Haltung auch immer wieder angefeindet worden. An ihr soll sich in Zukunft nichts ändern.

Gleichzeitig bin ich durch den Krieg in der Ukraine auch persönlich betroffen. Meine Frau stammt aus Kharkov, ihre Familie und viele ihrer Freunde leben in der Stadt, wo sie eine Wohnung besitzt und viel Zeit mit unserer zweijährigen Tochter verbrachte. Auch ich war schon häufig in Kharkov, zuletzt zu Anfang dieses Jahres. Die Bevölkerungsmehrheit ist russischsprachig und war bis zum Kriegsausbruch russophil, wenngleich sie auch keinen Anschluß an Rußland anstrebte und der Einfluß der antirussischen Propaganda der Machthaber in Kiew in den letzten Jahren immer stärker spürbar wurde. Die von den Medien in den letzten Jahren bewußt geschürten Vorbehalte wurden durch den russischen Angriffskrieg mehr als nur bestätigt. Viele Ukrainer haben in diesem Krieg bereits Partner, Eltern oder, am schlimmsten, Kinder verloren. Viele haben tagelang unter russischem Raketenbeschuß und Bombardement in Luftschutzkellern ausgeharrt, bis sie unter Lebensgefahr entkommen konnten. Viele haben ihre Wohnungen verloren, ihre Arbeitsstellen, alles, was sie sich mühsam aufbauen konnten. Die Zerstörungen in Kiew, Kharkov und anderen Städten sind immens. Kein Ukrainer wird nach diesen Ereignissen auch nur ein freundschaftliches Nachbarverhältnis zu Rußland begrüßen. Putin hat mit dem Krieg endgültig den Gründungsmythos des ukrainischen Staates geschaffen. Millionen Ukrainer sind in die Europäische Union geflohen, auch wir haben in Wien und in Graz viele Vertriebene untergebracht.

Trotz alledem muß man die Frage stellen, ob es rationale Gründe für diesen Krieg gab. Wie der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer feststellte, wurden in den letzten Jahren die legitimen Sicherheitsinteressen Rußlands vernachlässigt. Nehammer sprach freilich davon, sie wurden „übersehen“, doch davon kann keine Rede sein: Vielmehr wurden sie von der NATO und den USA bewußt mißachtet. So verurteilenswert Putins Angriff auf die Ukraine auch ist, sitzen die wahren Schuldigen dennoch in Washington. Geschossen haben freilich die Russen auf die Ukrainer, oft auf Menschen, die selbst ethnische Russen sind.

Jahrelang wurde der Ukraine die Möglichkeit eines raschen Beitritts zur EU und auch zur NATO vorgegaukelt, nun heißt es, daß ein EU-Beitritt kein Thema sein könnte, und die NATO läßt (aus freilich verständlicher Angst vor einem Atomkrieg) die ukrainischen Zivilisten kaltblütig über die Klinge springen. Alle „Hilfsbereitschaft“ des Westens darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß dieser die Ukraine in jahrelanger Wühlarbeit gegen Rußland in Stellung gebracht hat und sie nun gegenüber der provozierten Aggression des großen Nachbarn im Stich läßt. Noch einmal: So verständlich die Zurückhaltung der NATO aus Angst vor einem Atomkrieg auch ist, der Ukraine sind offenbar (unter der Hand) andere Versprechungen gemacht worden, nur so erklärt sich das Flehen um eine Flugverbotszone (die unweigerlich einen Atomkrieg nach sich ziehen würde) und weiterer Unterstützung seitens der NATO. Daher muß man die Frage stellen, was auf Dauer schwerer wiegen wird: Der Haß der Ukraine auf den russischen Aggressor oder die Enttäuschung über die leeren Versprechungen der USA und der EU?

Natürlich ist klar, daß Rußland aus eigenen Sicherheitsinteressen einem NATO-Beitritt der Ukraine nie zustimmen konnte. Daß NATO-Truppen und womöglich Atomraketen auf einer hunderte Kilometer langen Front entlang der russischen Grenze stationiert werden könnten, mußte den russischen Sicherheitsinteressen widersprechen. Der russische Angriff hat den Ukrainern wiederum deutlich gemacht, daß sie gegen einen solchen nur durch einen NATO-Beitritt gefeit sind. Wenn die ukrainische Seite nun einer möglichen Neutralität ihres Landes zustimmt, dann nur, wenn seitens der NATO entsprechende Sicherheitsgarantien übernommen werden, die einen zukünftigen russischen Angriff ausschließen. Die von den USA gesteuerte NATO hat in den letzten Jahrzehnten alles getan, Rußland einzukreisen. Die Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes, ja sogar ehemalige Sowjetrepubliken wie die baltischen Länder wurden Teil der NATO. Und das, obwohl Rußland versprochen wurde, daß sich die NATO nicht nach Osten ausdehnen würde (ohne daß freilich vertraglich ein solches Abkommen geschlossen wurde). Vielleicht hat Rußland daher bei informellen Gesprächen immer klargemacht, daß es einen NATO-Beitritt der Ukraine nicht akzeptieren könnte. Offiziell ist diese – verständliche – Linie aber nie verkündet worden. Das betrifft auch die Krim und die beiden von prorussischen Rebellen besetzten Gebiete von Donezk und Lugansk: Eine unter UNO-Beobachtung durchgeführte Volksabstimmung hätte in der Krim wohl immer eine stabile Mehrheit für den Beitritt an Rußland erbracht und trotz aller Vertriebenen wohl auch in Donezk und Lugansk. Das vom Westen stets verkündete (aber etwa in Spanien nie berücksichtigte) „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ hätte in diesen Gebieten jedenfalls zur Anwendung gebracht werden müssen. Die Ukraine hat aber auf sie nie verzichtet, und Rußland hat nie eine solche Volksabstimmung gefordert. Nun plötzlich zeigt sich die Ukraine gesprächsbereit. Warum nicht früher? Und warum hat Rußland nie klar diesbezügliche Forderungen verkündet, sondern geglaubt, die Sanktionen des Westens wegen der Annexion der Krim und der „Volksrepubliken Donezk und Lugansk“ aussitzen zu können? Österreichische Medien haben auch auf den Staudamm hingewiesen, mit dem die Ukraine die Krim von der Wasserversorgung abgeschnitten hat, was in den letzten Jahren zu regelmäßigen Dürreperioden geführt hat. Rußlands Vorstoß hat nun diesen Staudamm unter seine Kontrolle gebracht. Die Wasserversorgung der Halbinsel stellt gewiß eine existentielle Frage dar. Wiederum muß man fragen, warum auf dieses wichtige Problem von russischer Seite nie international vernehmbar hingewiesen wurde, das doch durch internationale Garantien lösbar gewesen wäre?

Es gibt also nachvollziehbare Gründe für den russischen Angriff, doch muß man sich die Frage stellen, ob diese nicht bloß „Rationalisierungen“ des russischen Handelns seitens seiner Freunde im Westen darstellen und wirklich gegeben waren. Als Grund für seinen Angriff hat Rußland diese Fragen jedenfalls nicht in den Vordergrund gestellt. Dafür hat es abstruse Behauptungen aufgestellt, wonach die ukrainische Regierung „aus Drogensüchtigen und Nazis“ bestünde, die die Bevölkerung des Landes in Geiselhaft hielten. Das war immer russische Propaganda und wurde durch den Verlauf des Krieges eindrucksvoll widerlegt: Aus dem „Blumenfeldzug“ mit einem raschen Zusammenbruch der ukrainischen Armee, den sich Putin offenbar erwartet hatte, ist nichts geworden. Die Ukrainer beweisen von Tag zu Tag mehr die Stärke ihrer Landesverteidigung und den Heldenmut ihrer Bürger. Putin hat offenbar mit einem ganz anderen Verlauf des Krieges gerechnet und wurde sowohl die Schlagkraft der eigenen Armee als auch die Stärke der ukrainischen Armee und die Stimmung der ukrainischen Bevölkerung betreffend falsch informiert. Ist ein Mann, der solchen massiven Fehlinformationen aufsitzt, aber überhaupt geeignet, eine Großmacht wie Rußland zu führen? Putins aufgeschwemmtes Äußeres und sein Beharren auf extreme Distanz zu allen Besuchern haben auch zur Frage seiner geistigen Gesundheit geführt. Es gibt Krebstherapien, die zu Ausbrüchen unkontrollierbarer Aggressivität führen und das eigene Immunsystem deutlich reduzieren. Ist Putin noch gesund genug, einer Atommacht vorzustehen?

Putin hat alles getan, um die Anwürfe seiner Gegner im Westen zu bestätigen und die Hoffnungen seiner Freunde zu enttäuschen. Er hat bedenkenlos gelogen, als er behauptete, die russischen „Manöver“ seien eben nur „Manöver“, während sie in Wirklichkeit bereits der beschlossene Aufmarsch zum Krieg gegen die Ukraine waren. Er hat gelogen, als er behauptete, es handele sich um eine „begrenzte Aktion“ zum Schutz der von Rußland anerkannten Separatistenrepubliken in Donezk und Lugansk. Und Außenminister Lawrow lügt auch jetzt, wenn er behauptet, es habe gar keine Aggression Rußlands gegen die Ukraine gegeben. Das alles läßt die russische Darstellung der Gründe für die Zerstörung von Grosny im Tschetschenienkrieg, für die Bombardierung von Aleppo im syrischen Bürgerkrieg, aber auch die russische Darstellung des Abschusses der malaysischen Passagiermaschine über der Ostukraine im Jahre 2014 als bloße Schutzbehauptungen wirken. Auch die Frage der Vergiftung des Doppelagenten Skripal und des Kremlkritikers Nawalny wirkt im Lichte der Lügen der russischen Staatsführung nun ganz anders.

  • Doch was ist Lüge, was ist Wahrheit? Rußland bombardiert, so sagt die Ukraine, rücksichtslos Wohngebäude und zivile Einrichtungen. Mehrere Videos der letzten Tage haben aber gezeigt, wie abgeschossene russische Raketen Wohngebäude beim Absturz zerstörten. War dies auch bei der Geburtsklinik in Mariupol der Fall? Oder wurde sie absichtlich beschossen? Wurde sie von einer abgeschossenen russischen Rakete getroffen, und die Russen wollen diesen Erfolg der ukrainischen Abwehr nicht zugeben? Wurde sie irrtümlich getroffen, weil die russische Aufklärung versagte? Oder wurde sie gezielt bombardiert, um der ukrainischen Regierung zu signalisieren: Wir können den Krieg vielleicht nicht gewinnen, aber wir können mit unseren Bomben noch ungeheuer viele Menschen in der Ukraine töten und unermeßlichen Schaden anrichten, also verhandelt lieber mit uns? Die absolut verstörenden Bilder der Opfer vom Beschuß dieser Klinik wurden jedenfalls von einem bulgarischen Journalisten verbreitet, der auf Twitter von den „unausgesetzten Kriegsverbrechen der russischen Nazis“ schreibt und als Symbol eine durchgestrichene Matrjoschka verwendet, um seinem Haß auf die russische Kultur schlechthin Ausdruck zu verleihen. Ein bulgarischer Journalist, der im Auftrag einer von George Soros gesponserten Organisation arbeitet. Wie viele der Zerstörungen in den ukrainischen Städten sind also gezielt erfolgt und wie viele durch abgeschossene russische Raketen?
  • Auch muß man sich die Frage stellen, wer die vereinbarten Fluchtkorridore aus den belagerten ukrainischen Städten beschießt. Der österreichische Rundfunk hat darauf hingewiesen, daß die Verteidiger einer Stadt weniger Interesse an einer Flucht der Zivilbevölkerung haben, weil danach die Angreifer umso rücksichtsloser vorgehen können. Andererseits hätten Aufnahmen von tausenden nach Rußland fliehenden ukrainischen Zivilisten genau jene Fernsehbilder erbracht, die der Kreml zur Rechtfertigung seines Angriffs vor der eigenen Bevölkerung benötigt.
  • Rußland hat auch behauptet, etliche Tage nach dem Einmarsch ukrainische Labore entdeckt zu haben, in denen an Biowaffen geforscht wurden. Das klingt wie „Fake News“ par excellence, doch hat die US-Unterstaatssekretärin Victoria Nuland bei einer Befragung im US-Senat eingeräumt, daß es tatsächlich solche geheimen Forschungseinrichtungen gäbe und die USA mit der Ukraine zusammenarbeiteten, um zu verhindern, daß sie unter die Kontrolle der russischen Streitkräfte geraten.
  • Die massiven russischen Zensurmaßnahmen und die Verfolgung aller Kritiker des Angriffs auf die Ukraine wurden breit dokumentiert. Doch auch in der EU wurde eine strikte Zensur eingeführt, werden kritische Äußerungen verfolgt. Darüber liest man nichts.
  • Aus der Slowakei höre ich, daß mit den Flüchtlingen aus der Ukraine viele Männer kommen, die ganz sicher nicht Ukrainer (oder dort wohnende internationale Studenten) sind. Und auch in Wien konnten wir bereits zahlreiche junge ukrainische Männer sehen, die doch das Land gar nicht hätten verlassen dürfen. Wie lange wird die Hilfsbereitschaft angesichts der großen Zahl an Flüchtlingen und Vertriebenen noch anhalten, besteht nicht die Gefahr, daß die Stimmung in vielen europäischen Staaten umschlägt?
  • Warum hat Präsident Selenskyj die eigene Zivilbevölkerung zum Kampf mit Molotowcocktails gegen die Invasoren aufgerufen? Zivilisten genießen keinen kriegsrechtsmäßigen Schutz, sie in die Kämpfe zu involvieren, ist ein klares Verbrechen. Das haben unsere Medien aber nie gesagt. In Wirklichkeit gibt der Aufruf Selenskyjs den Russen die Möglichkeit, ukrainische Zivilisten „wie die Hasen“ abzuschießen, worauf Tassilo Wallentin in der „Kronen Zeitung“ hinwies.
  • Und wie sieht es mit Selenskyjs 3,8 Millionen Euro teurer Villa in Forte dei Marmi aus, die dieser dort nach einem Bericht der „Neuen Zürcher Zeitung“ kaufte, aber bei seinem Präsidentenwahlkampf nicht deklarierte?
  • Und was muß man sich angesichts der Twitter-Meldung des „Bild“-Journalisten Julian Röpcke denken, der schrieb: „Die Ukrainer machen grausige Dinge mit gefangenen russischen Soldaten und Verrätern. Aber ich werde das hier nicht posten“?
  • Und dann ist da die Cancel culture: Auftritte russischer Künstler werden in der EU großflächig abgesagt, Sinfonien von Tschaikowski werden aus dem Programm geworfen, universitäre Vorlesungen über Dostojewski gestrichen. Von ukrainischer Seite wird generell ein Boykott russischer Autoren und Künstler gefordert, ganz unabhängig davon, ob diese leben oder nicht und ob sich diese in der einen oder anderen Form zum Krieg in der Ukraine geäußert haben. Die „IG Meinungsfreiheit“ im Börsenverein des deutschen Buchhandels hat dies einen „erschreckenden Appell“ genannt. Wenn das Schule macht, wird ein Graben zwischen dem russischen Volk und dem übrigen Europa aufgerissen, der lange über Putins Herrschaft hinaus unheilvolle Folgen zeitigen würde.
  • Letztlich sind da die harten wirtschaftlichen Sanktionen, verständlich freilich wegen des russischen Angriffskrieges. Doch die Kosten dieser Sanktionen werden die europäischen Länder in viel größerem Ausmaß zu tragen haben als die USA. Und wird Rußland damit nicht in die Arme Chinas getrieben, dessen Führung entsetzt auf die Wirkung der westlichen Maßnahmen starrt? Rußland allein ist sicher zu schwach, diesen Sanktionen zu begegnen. Mit China und Indien gemeinsam kann aber ein Machtblock entstehen, der eine eigene Wirtschaftsmacht aufbaut, die von der des Westens unabhängig ist. Wenn das Ziel sein soll, den vorhandenen inneren Widerstand in Rußland gegen Putins Krieg in der Ukraine zu befördern, muß es ein klares Exit-Szenario aus diesen Sanktionen geben. Sonst fügt sich Europa selbst massiven Schaden zu, und der lachende Dritte ist China.

Putin mag sich durch die weltpolitischen Ereignisse der letzten Jahre bestätigt gefühlt haben. Aus Afghanistan haben sich die Amerikaner schmählich zurückgezogen, in Syrien hat die russischen Intervention Assad die Herrschaft gerettet und auch zwischen dem Iran und den USA wurde ein Ausgleich möglich. Internationale Umfragen haben vor einiger Zeit sogar erbracht, daß sich die Bevölkerung der meisten Staaten der Welt lieber eine russische als eine amerikanische Führungsrolle wünschte. Dies alles mag Putin verleitet haben, die direkte Konfrontation aufzunehmen. Bezüglich der Ukraine hat er sich aber verrechnet oder ist falschen Informationen aufgesessen – sowohl was die Stärke der eigenen Armee als auch was die Stimmung in der ukrainischen Bevölkerung betrifft. Doch Putin kann sich keine Niederlage leisten. Er muß den Krieg in der Ukraine gewinnen oder zumindest essentielle Erfolge einfahren. Nur wenn ihm der Westen solche zu geben bereit ist, scheint eine Beendigung des Krieges ohne noch höhere Opfer unter der Zivilbevölkerung denkbar. Die Sanktionen, die Rußland wirtschaftlich vernichtend treffen, und die ganze politische Haltung des Westens machen einen solchen Ausweg immer unwahrscheinlicher. Dies wiederum läßt einen großen Atomkrieg in den Bereich des Möglichen rücken.

 
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