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Ukraine zwischen Ost und West

Von Mag. Wolfgang Dvorak-Stocker

Polizisten, die, in lebende Fackeln verwandelt, sich brennend am Boden wälzen; vermummte Demonstranten, die mit langen Stöcken rudelweise auf gestürzte Polizisten einprügeln, die mit Schußwaffen aus dem Hinterhalt feuern und vor laufender Kamera erzählen, sie möchten ihre Gegner „pfählen“. Auf russischen Sendern konnte man Szenen sehen, die ein völlig anderes Bild von der „Schlacht um Kiew“ vermittelten, als dies im Westfernsehen der Fall war. Vieles wurde bei uns bewußt verschwiegen, andere Meldungen der russischen Sender waren offensichtlich falsch, wie jene von den 80 Polizisten, die als Geiseln in die Hand der gewalttätigen Demonstranten gefallen wären. All dies diente erfolgreich dazu, dem russischen Zuseher die „faschistische Gefahr“ zu verdeutlichen, vor der die russische Bevölkerung der Krim — und vielleicht schon bald auch jene der östlichen Ukraine — zu retten ist.

Das bei uns vermittelte Bild war ein völlig anderes. Nie wurde etwa die Frage gestellt, warum die Polizeigewalt mit über 80 Toten ausgerechnet zu einem Zeitpunkt eskalierte, als Janukowitsch bereits dabei war, alle wesentlichen Forderungen der Demonstranten bis hin zu vorgezogenen Neuwahlen zu akzeptieren. Und während die EU sich beeilt, mit einem durch einen gewaltsamen Umsturz an die Macht gekommenen, noch durch keine Wahl legitimierten Regime Verträge zu schließen, die die Zukunft des Landes entscheidend bestimmen, wird der Bevölkerung auf der Krim nur mitgeteilt, daß ihr Referendum illegitim gewesen wäre, ohne auch nur in Aussicht zu stellen, unter welchen Umständen eine dem Selbstbestimmungsrecht der Völker entsprechende Abstimmung überhaupt stattfinden könnte.

Es folgt der Versuch, bezüglich der Vorgänge in der Ukraine, einiges zurechtzurücken, was in West wie Ost verzerrt dargestellt wird.

Die Einkreisung Rußlands

„Not one inch eastward“, die NATO würde sich keinen Fußbreit ostwärts ausdehnen versicherte US-Außenminister James Baker im Februar 1990 Michael Gorbatschow, wenn dieser der deutschen Wiedervereinigung zustimme. Heute sind nicht nur sämtliche frühere Warschauer-Pakt-Staaten Osteuropas NATO-Mitglieder geworden, sondern mit den baltischen Ländern auch drei ehemalige Sowjetrepubliken. Die Nato ist St. Petersburg bis auf 135 km nahegerückt. Auch in Mittelasien unterhalten die USA unter dem Prätext des „Krieges gegen den Terror“ Militärbasen in den ehemaligen Sowjetrepubliken Kirgisistan und Usbekistan. Darüber hinaus wirken in den Staaten der (ehemals) russischen Einflußsphäre verschiedene staatliche und private Stiftungen (wie die des Milliardärs George Soros) mit großem finanziellen Einsatz im Sinne der „westernization“, um diese Länder gemäß den US-amerikanischen Vorstellungen von Demokratie, Menschenrechten, Multikulturalismus, „diversity“ usw. zu verändern. Nicht zuletzt die verschiedenen „Farbrevolutionen“ von der Ukraine bis Georgien wurden massiv finanziell und ideologisch von diesen Institutionen unterstützt. Kein Wunder, daß das solcherart eingekreiste Moskau jetzt nicht auch noch die Ukraine an die NATO verlieren will.

Selbst das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine sollte höheren strategischen Interessen dienen. Die Ukraine braucht nicht nur preisgünstige russische Gaslieferungen, die großen Industrien des Ostens sind auf den Exportmarkt Rußland unbedingt angewiesen. Aus diesem Grund versuchte die Regierung Janukowitsch auch trotz der angestrebten Freihandelszone mit der EU die Kooperation mit der „Eurasischen Union“ von Rußland, Weißrußland und Kasachstan aufrechtzuerhalten. Im Februar 2013 erklärte jedoch José Manuel Barroso, daß sich die Ukraine zwischen Rußland und der EU entscheiden müsse und eine Mitgliedschaft in beiden Wirtschaftsräumen zugleich nicht möglich sei. Dies würde die EU nicht akzeptieren. Bei den USA, mit denen die EU auch über eine Freihandelszone verhandelt, stört deren Mitgliedschaft im gemeinsamen Wirtschaftsraum der NAFTA (mit Kanada und Mexiko) jedoch nicht! Dennoch versuchte Janukowitsch bis in den November 2013 hinein verzweifelt, einen Weg zu finden, der den Interessen des Landes entsprochen hätte, nämlich die Annäherung an die EU voranzutreiben, ohne andererseits die Bindungen zu Rußland zu schwächen. Als sich dies als unmöglich herausstellte, Rußland mit Sanktionen drohte und die EU die Bedingungen für die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommen hinaufschraubte, beschloß die ukrainische Regierung am 21. November 2013 ein „Einfrieren“ der Verhandlungen. Dies war der Beginn der zumindest am Anfang massiv aus dem Westen finanzierten Proteste am Maidan.

Wer waren die Todesschützen?

Nach einem Blutbad wie jenem am Maidan werden in jedem Land der Welt die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen. Nicht so in der Ukraine. Dort hat der neue Innenminister zwar erklärt, Janukowitsch selbst sei für die ausufernde Gewalt nicht verantwortlich zu machen, die Suche nach den wahren Schuldigen scheint aber niemanden zu interessieren.

Es ist merkwürdig, daß die Konfrontation am Maidan ausgerechnet an dem Tag eskalierte, an dem Janukowitsch bereit war, auf sämtliche wichtige Forderungen der Opposition einzugehen. Erst vor kurzem ist ein Telefongespräch der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton mit dem estnischen Außenminister veröffentlicht worden, worin dieser die Aussage einer ukrainischen Ärztin wiedergab, wonach dieselben Kugeln, die so viele Demonstranten getötet hatten, auch in den Körpern verletzter oder toter Polizisten zu finden gewesen waren. Dies würde nichts weniger bedeuten, als daß die Scharfschützen bewußt beide Seiten beschossen hatten, um eine Eskalation herbeizuführen. Der estnische Außenminister äußerte sich besorgt darüber, daß die neue Regierung diese Vorwürfe nicht untersuchen wolle und äußerte den Verdacht, daß wohl eine Gruppe innerhalb der neuen Machthaber hinter dieser Aktion stehen müsse. Doch die Frage nach dem Cui bono ist nicht so leicht zu beantworten. In wessen Interesse könnte die Eskalation gewesen sein und wer hat die Möglichkeit gehabt, sie auf diese Weise herbeizuführen? Die russische Seite, die sich zu diesem Zeitpunkt auf diplomatischem Wege bemühte, Janukowitsch und die Opposition zu einem Kompromiß zu bewegen, ist wohl kaum dafür verantwortlich zu machen. Die damaligen Führer der Opposition, deren Verhandlungen mit Janukowitsch damit zur Makulatur wurden, wohl auch nicht. Sie wurden durch die Ereignisse vielmehr massiv geschwächt. Den Interessen der radikalen Gruppen innerhalb der Protestbewegung mag die Eskalation wohl entsprochen haben, sie wären aber kaum in der Lage gewesen, diese auf einem solchen Weg herbeizuführen. Politisch radikale Aktivisten sind nicht dazu bereit, aus taktischem Kalkül auf die eigenen Leute zu schießen. Dazu braucht man professionelle „Sniper“ – und die kosten viel Geld.

Das zumindest hätte die damals noch in Haft befindliche, ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko gehabt, die dank zwielichtiger Geschäfte während des Zusammenbruchs der Sowjetunion zur milliardenschweren Oligarchin aufgestiegen war. Sie hätte sich ausrechnen können, dadurch ihres Statthalters Arsenij Jazenjuk ledig zu werden und zugleich dank ihrer charismatischen Persönlichkeit als Retterin der nationalen Einheit in einer zusehends von radikalen Gruppen beherrschten Revolution wahrgenommen zu werden. Doch allzu viele Ukrainer wissen, daß die gegen sie erhobenen Vorwürfe des Amtsmißbrauchs nicht an den Haaren herbeigezogen worden waren. Mir haben Ukrainer gesagt: „Das Problem ist nicht, daß Julia Timoschenko im Gefängnis sitzt, das Problem ist, daß nur Julia Timoschenko im Gefängnis sitzt“. Ob sie bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen im Mai noch eine entscheidende Rolle spielen wird, ist mehr als ungewiß.

Bleiben die USA. Obamas Europa-Beauftragte, Victoria Nuland, hat in einem Telefonat mit dem amerikanischen Botschafter in Kiew bereits deutlich gemacht, was sie von der auf Verhandlungen und Deeskalation bemühten Diplomatie der EU hält: „Fuck the EU!“, so ihr wörtliches Zitat. Bedenkt man, daß bei der Revolution in Libyen erstmals Hinweise aufgetaucht waren, wonach die USA durch den Einsatz von verdeckten Scharfschützen gezielt eine Eskalation der Situation herbeiführten, ist ein solcher Eingriff in den Konflikt in der Ukraine nicht mehr ganz so unwahrscheinlich. Die logistischen und finanziellen Möglichkeiten dazu bereitzustellen, wären für die USA ein Leichtes gewesen, und politisch haben sie eindeutig profitiert.

Jetzt ist die EU sogar bereit, das lange angestrebte Assoziierungsabkommen mit der neuen, durch einen Putsch an die Macht gekommenen Regierung zu unterfertigen! Janukowitsch war immerhin der demokratisch gewählte Präsident des Landes. Nur Wahlen sind in einer Demokratie ein legitimes Instrument des Regimewechsels, allenfalls kann ihre Vorverlegung durch Proteste erzwungen werden. Die Angst muß groß sein, wenn man nicht einmal bis Mai warten kann, bis wieder ein demokratisch legitimiertes Parlament vorhanden und eine rechtmäßige Regierung gebildet ist, um ein solch entscheidendes Abkommen zu unterzeichnen, sondern man schon jetzt vollendete Tatsachen schaffen will. In diesen Zusammenhang gehört auch das massive Vorgehen der jetzigen Regierung gegen alle Vertreter der „Partei der Regionen“ des früheren Präsidenten. Janukowitsch war ohne Frage aufgrund der extremen Korruption, die unter ihm Platz griff, sogar schon bei den eigenen Wählern verhaßt. Doch jetzt scheint es nicht so, als ob nur nachweislich korrupte Repräsentanten seiner Administration zur Rechenschaft gezogen würden, sondern vielmehr, als ob die neuen Machthaber versuchten, alle einigermaßen intelligenten Vertreter der pro-russischen „Partei der Regionen“ auszuschalten. Wäre es nicht zu den Toten am Maidan und dem darauffolgenden Putsch gekommen, hätten auch vorgezogene Neuwahlen ein immer noch starkes Ergebnis für die „Partei der Regionen“ gebracht. Jetzt ist die Lage völlig offen.

Die Krim

Es ist korrekt, daß diese erst unter Nikita Chruschtschow der Ukraine angegliedert wurde, jedoch nicht als „Geschenk Rußlands“. Die zwischen Mongolen, Byzanz, Venedig und Genua umstrittene Halbinsel wurde im 15. Jahrhundert osmanisch. Hauptsächlich besiedelt war sie damals von den erst mit der „Goldenen Horde“ ins Land gekommenen Tataren. Diese behielten eine gewisse Unabhängigkeit, die ihnen Raubzüge in die (polnische) Ukraine und nach Rußland ermöglichten, wo sie vor allem viele Gefangene machen wollten, um diese als Sklaven in den Orient zu verkaufen. 1571 setzten sie sogar Moskau in Brand. Erst unter Katharina II. gegen Ende des 18. Jhdts. wurde die Krim Teil des russischen Reiches. Mehr als 100.000 Tataren wanderten daraufhin in die Türkei aus. Die russischen Zaren förderten im Gegenzug die Besiedlung der Halbinsel nicht nur durch Russen, sondern auch durch Deutsche und andere Völker. Seit aber Sewastopol im 19. Jahrhundert zum Hauptstützpunkt der russischen Flotte wurde und insbesondere seit dem Krimkrieg von 1853–1856 wurde das Land zu einem für das Selbstverständnis des zaristischen Reiches entscheidenden Boden. Verwaltungstechnisch gehörte es jedoch zum Gouvernement Taurien, das sich über große Teile der ukrainischen Schwarzmeerküste bis hin zur Dnjepr-Mündung erstreckte. Auch nach der Oktoberrevolution bildete die Krim eine unabhängige Sowjetrepublik. Als „ur-russischer Siedlungsboden“ kann sie also kaum bezeichnet werden. Allerdings bilden ethnische Russen mehr als 60 % der Einwohner der autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol. Als Ukrainer bezeichnen sich rund 24 %, auf mehr als 11 % in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen hat die Zahl der Krimtataren. Weißrussen, Polen, Armenier, Juden usw. machen den Rest der Bevölkerung aus.

Es sind also weniger historische Gründe, als vielmehr das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das die Russen für Abspaltung der Krim ins Treffen führen können. Das Selbstbestimmungsrecht der Albaner war der NATO im Falle des Kosovo immerhin einen Bombenkrieg gegen Serbien wert, während die USA und die EU selbiges der Bevölkerung der Krim unter allen Umständen verwehren möchten. Andererseits ist Rußland in diesem Fall bereit, eine internationale Krise heraufzubeschwören, während es dasselbe Recht den Tschetschenen brutal verweigert. Heuchelei also auf beiden Seiten, oder: Vom „Selbstbestimmungsrecht“ ist dort die Rede, wo es dem jeweiligen Hegemon ins Konzept paßt.

Trotzdem mutet es seltsam an, wenn die rechten, nationalistischen Kräfte in der Ukraine den Einwohnern der Krim das Selbstbestimmungsrecht verweigern wollen und gleichzeitig die Zerschlagung Rußlands unter Berufung auf eben dieses Recht vorantreiben möchten. Die Abstimmung auf der Krim soll bei 80 % Wahlbeteiligung 93 % Zustimmung für den Anschluß an Rußland erbracht haben. Internationale Beobachter wie Johannes Hübner (FPÖ) und Ewald Stadler (REKOS) haben keine Wahlmanipulation feststellen können. Die Abstimmung hat jedoch in einer von pro-russischen Einheiten beherrschten Lage stattgefunden, wo keine Gegenpropaganda möglich war, und wurde von einer selbst durch Putsch an die Macht gekommenen Regionalregierung durchgeführt. Verständlich, wenn die EU diesen Vorgang als illegitim bezeichnet. Andererseits hat man der Bevölkerung der Krim gegenüber nie signalisiert, unter welchen Umständen ein solches Referendum akzeptabel wäre — etwa unter der Aufsicht von UN-Beobachtern und einer gewählten Regierung in Kiew.

Dabei muß man sich natürlich grundsätzlich fragen, ob eine Bezugnahme auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker für diese Weltregion überhaupt angemessen ist. Die Durchsetzung des nationalstaatlichen Prinzips in Ost-Mitteleuropa nach 1918 hat zu gewaltigen Nationalitätenkonflikten geführt, da jeder der neuen „Nationalstaaten“ verschiedene, oft zahlenstarke Minderheiten zu integrieren hatte. Schon in Europa funktionierte also das Recht der nationalen Selbstbestimmung nicht wirklich. Selbst heute, wo entsprechender Minderheitenschutz selbstverständlich geworden ist, verweigern Italien, Spanien und Frankreich ihren Minderheiten das Selbstbestimmungsrecht. In Asien gibt es fast keine echten Nationalstaaten. Überall finden sich Länder, in denen verschiedenste Ethnien zusammenzuleben gezwungen sind.

In einer offiziellen Botschaft rief der „Rechte Sektor“ am 1. März 2014 „… alle Freiheitsbewegungen Rußlands dazu auf, ihre Tätigkeit zu aktivieren. Das russische Imperium wird zugrunde gerichtet. An dessen Stelle werden freie Nationalstaaten entstehen!“ Doch kann das funktionieren? Würde sich Rußland aus den Provinzen nördlich des Kaukasus, aus Tschetschenien, Dagestan usw. zurückziehen, wäre, so steht zu befürchten, kein neuer „Völkerfrühling“ die Folge, sondern vielmehr ein gegenseitiges Abschlachten, wie wir dies schon jetzt im Irak oder Syrien erleben können. Eine russische „Reichsidee“, wie sie Alexander Dugin zu entwickeln versucht, die es auch Nicht-Russen attraktiv machen soll, unter Moskaus Schirm zu leben, ist also keine ganz so schlechte Idee. Schon jetzt gibt es kleine Völker — etwa die Osseten, oder die Abchasier am Beispiel Georgiens —, die lieber unter russischer Oberhoheit leben, als unter der eines viel kleineren „Nationalstaates“.

Der „Rechte Sektor“ und die russische Propaganda

Die russischen Medien werfen dem neuen Regime in Kiew regelmäßig vor, von „Faschisten“ und „Nazis“ unterwandert zu sein, womit neben der „Svoboda“ insbesondere der „Rechte Sektor“ gemeint ist. Dessen Führer Dmitro Jarosch soll sogar den tscheschenischen Terroristen Doku Umarow via Facebook um Unterstützung gebeten haben. Der „Rechte Sektor“ verlautbarte umgehend, Jaroschs Seite sei gehackt worden, die diesbezügliche Nachricht wäre gefälscht. Und tatsächlich betont Jarosch, nicht russophob zu sein, sondern nur dem Imperialismus Moskaus mit allen Mitteln entgegenzutreten. In einem offiziellen Appell heißt es etwa: „Wir sind eine Nation, unabhängig davon, welcher Nationalität wir angehören, der ukrainischen, russischen, jüdischen, krimtatarischen ...“ Jarosch bereitet sich auf seine Präsidentschaftskandidatur vor und erklärte, er sei bereit, in den geistigen „Wettbewerb der Ideen“ einzutreten. Der „Rechte Sektor“ soll in eine Partei umgewandelt werden, die dem „Dritten Weg“ verpflichtet ist.

Rußland ist im Propagandakrieg gegen Kiew nicht zimperlich. Natürlich ist es Unsinn, daß „Faschisten“ die russischen Bevölkerung auf der Krim – oder jetzt in der Ostukraine – bedrohen würden. Selbst russische Einwohner etwa der Stadt Charkow, die mit dem neuen ukrainischen Regime alles andere als einverstanden sind, bestätigen, daß zu Demonstrationen „Bustouristen“ aus dem nahe gelegenen Rußland anreisen.

Doch auch unabhängig von diesen Machinationen mußte jedem aufmerksamen Besucher der Ukraine schon lange die Spaltung des Landes auffallen. Daß sich nicht nur die Bevölkerung der Krim, sondern womöglich auch die Mehrheit der Ostukrainer im Zweifelsfall für Rußland entscheiden würden, kann nicht von der Hand gewiesen werden. Und dieser Zweifelsfall ist nun wahrscheinlicher geworden. Schon das zweite Gesetz, das nach dem Sturz von Janukowitsch in Kiew verabschiedet wurde, beendete den Status des Russischen als zweite Amtssprache des Landes. Nicht gerade eine Maßnahme, die der russischen Bevölkerung im Osten und Süden Vertrauen einflößt. Dazu kommt noch, daß es Zitate von Svoboda-Politikern gibt, wonach das Russische eine „Sprache für Hunde“ sei usw. Der „Rechte Sektor“ ist diesbezüglich klüger. Er ist, anders als die Svoboda, nicht ausschließlich im Westen des Landes verwurzelt, Dmitro Jarosch selbst stammt aus der Region Dnjepropetrowsk ganz im Osten. Intellektuell beeindrucken die Seiten des „Rechten Sektors“ im Internet durchaus. Auf hohem Niveau wird Carl Schmitts „Nomos der Erde“ diskutiert und Bezug auf andere Exponenten der deutschen Konservativen Revolution genommen. Man verwundert sich darüber, daß diese Persönlichkeiten auch für russische Konservative Orientierungspunkte darstellen, während ihre ukrainischen Anhänger als „Nazis“ bezeichnet werden.

Damit ist ein wesentliches Dilemma der gegenwärtigen russischen Führung aufgezeigt. Auf der einen Seite wird die Propaganda gegen „Faschisten/Nazis“ systematisch verstärkt. Seit einigen Jahren gibt es in Rußland eine regelrechte Welle von Filmen über den Zweiten Weltkrieg, in denen die deutschen Angreifer mit einer holzschnittartigen Bösartigkeit portraitiert werden, wie dies selbst in Sowjetzeiten nicht üblich war. Mit dem Abtreten der Kriegsgeneration, die, wie ich mehrfach erlebt habe, gerade in Rußland ein sehr differenziertes und nicht durchwegs negatives Bild des deutschen Feindes bewahrt hatte, wird die Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ zunehmend instrumentalisiert: Er ist der letzte große Konflikt, den das Land unzweifelhaft gewonnen hat und soll auch heute zur Identitätsfindung beitragen. Zugleich hofft man (wohl fälschlicherweise) mit der Herausstreichung des eigenen Beitrags an der „Niederringung des Hitler-Faschismus“ auf Sympathiepunkte in den USA.

Die Unterstützung für Rußland kommt in Europa aber zumeist von rechts. Abgesehen von deutschen Abgeordneten der Linken, die wie zu alten SED-Zeiten auf russischen Zuruf reagieren, waren es fast ausschließlich Vertreter von Rechtsparteien, die als Wahlbeobachter auf die Krim reisten. In den Augen der meisten europäischen Rechten ist die geopolitische Lage klar: Die USA mit ihrem Streben nach Dominanz, mit ihren gesellschaftlichen Umerziehungsprogrammen und der durch sie beförderten Vorherrschaft der internationalen Konzerne und Geldmächte, werden abgelehnt. Die einzige Macht, die dagegenhält, ist Rußland, dessen Präsident Putin sich in seinen letzten Reden immer mehr zum Verteidiger der traditionellen europäischen Werte machte. Für die europäische Rechte ist Rußland der logische Bündnispartner. Allein ist man gegenüber den USA und ihrer Agenda zu schwach, gemeinsam mit Rußland würde die europäische Sache anders aussehen. Die Optionen sind klar, die daraus gezogenen politischen Entscheidungen auch. Selbst in Moskau beginnt man dies langsam zu begreifen. Auf der Strecke bleibt womöglich die Ukraine. Die Führer der Rechten hoffen dort auf einen eigenständigen Weg zwischen West und Ost, wobei Moskau vorgeworfen wird, ebenso ein Vertreter des Globalismus wie die USA zu sein. Es ist hier nicht der Platz zu diskutieren, inwieweit diese Einschätzung zutrifft. Fakt ist, daß die Ukraine zur Schachfigur auf dem „Grand Chessboard“ der Weltpolitik geworden ist. Bereits 2008 hat Hauke Ritz in einem großen Artikel für die „Blätter für deutsche und internationale Politik“ unter dem Titel „Die Welt als Schachbrett – Der neue Kalte Krieg des Obama-Beraters Zbigniew Brzežinski“ aufgezeigt, wie skrupellos die USA ihre antirussische Strategie umsetzen und sogar beginnen, einen Krieg gegen Rußland vorzubereiten. Muß sich also die Ukraine zwischen Rußland und den USA entscheiden? Die für das Land vorzuziehende Bewahrung einer Unabhängigkeit zwischen beiden Lagern, wie sie jüngst sogar Henry Kissinger angeregt hat, ließe sich mit einer klugen Außenpolitik wohl auch erreichen. Der „Rechte Sektor“ scheint dazu aber nicht in der Lage zu sein. Solange er die Auflösung Rußlands in „Nationalstaaten“ und sogar einen „Moskauer Maidan“ anstrebt, wird er dort nicht viele Freunde haben, auch wenn viele der da wie dort propagierten Werte dieselben sind. Und noch seltsamer mutet es an, daß Dmitro Jarosch — dessen Facebook-Seite eine Darstellung von Jesus Christus krönt —, ausgerechnet Mikail Saakaschwili, diesen skrupellosen Agenten US-amerikanischer Interessen, „geliked“ hat.

 
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