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Die Juden geben sich selbst auf

Von Dr. Angelika Willig

Historiker negiert die Existenz des jüdischen Volkes

Eine simple Variante des Antisemitismus wirft den Juden vor, kein Vaterland zu kennen und bindungslos durch die Weltgeschichte zu schweifen wie der mythische Ahasverus. Andere behaupten jedoch das Gegenteil, nämlich daß die Juden zwar in modernen Zeiten meist eine kosmopolitische Einstellung vertreten und für die Internationalisierung der Staaten eintreten, gegenüber dem eigenen Volk aber eine traditionelle Anhänglichkeit beibehalten und im Zweifelsfall fest dafür eintreten. Lange Zeit besaß diese Theorie auch einige Plausibilität. Denn bis vor wenigen Jahrzehnten stammten viele jüdische Intellektuelle und Geschäftsleute aus intakten religiös geprägten Familien mit der dominierenden Mutter als Mittelpunkt, und sie wünschten sich trotz Aufstieg und westlicher Bildung wieder eine solche Familie, wozu unbedingt die jüdische Ehefrau gehörte. Diese Struktur hat sich aber inzwischen immer mehr aufgelöst. Nicht nur die Deutschen, die Amerikaner, Franzosen usw., auch die Juden machen ernst mit dem Liberalismus und wollen von ihrer Tradition nichts mehr wissen. Zeichen davon sind die vielen Mischehen bzw. gemischten Partnerschaften, die eine Weiterführung der alten Sitten und Rituale von vornherein unmöglich machen. Die häusliche Ordnung und die religiös geprägte Kultur der Juden werden von der Technisierung und Globalisierung genauso zerstört wie bei anderen Völkern. Die alte Generation leidet darunter, die Jungen versuchen, es ihren Eltern mühsam zu vermitteln, daß alles heute nicht mehr gilt.

Wenn das 20. Jahrhundert, wie der Historiker Yuri Slezkine neuerdings behauptet, „das jüdische Jahrhundert“ ist mit der allgemeinen Verbreitung des Nomadentums und des Intellektualismus, dann ist der Preis, den das jüdische Volk für diesen Sieg zu bezahlen hat, hoch. Es verschwindet in der Masse der nomadisierenden Individuen und besitzt immer weniger Züge, durch die es sich auszeichnet. Dieser Verlust wird inzwischen allenthalben beklagt und viel unbefangener, als es beim Verschwinden der deutschen Identität der Fall ist. Trotzdem wird niemand behaupten, daß an dieser schleichenden Zerstörung jüdischer Identität die NS-Verbrechen schuld seien. Im Gegenteil dient die Verfolgung durch das nationalsozialistische Deutschland als Kitt, der das jüdische Volk weltweit noch einigermaßen zusammenhält. Eine negative Identität wie das Opferbewußtsein kann freilich auf die Dauer den Glauben an die eigene Tradition nicht ersetzen. Nimmt man noch die äußerst niedrige Geburtenrate hinzu, so sieht es für die Zukunft des jüdischen Volkes ähnlich düster aus wie für das deutsche. Stärker als die Gewalt nationalsozialistischer Machthaber wirkt offenbar der Sog der Individualisierung und Liberalisierung, der die ganze Welt erfaßt hat.

Völkisches Konzept

Dies gilt für die Juden in der Diaspora, besonders in den USA. Was Israel betrifft, sieht die Sache etwas anders aus. Die Israelis nehmen auf Grund ihrer ständig umkämpften Lage nicht in üblicher Weise am westlichen Lebensstil teil. Zwar erscheint das Land äußerlich recht amerikanisiert, doch das Bewußtsein der Einwohner ist bislang anders. Sie bewahren, auch ohne religiöse Bindung, eine gewisse heroische und kriegerische Haltung, die sich nicht zuletzt in einem abweichenden Gebärverhalten zeigt. Zwei bis drei Kinder sind hier immerhin die Norm. Die Grundlagen des israelischen Staates sind bewußt völkisch ausgerichtet, das heißt, Staatsbürger kann nur sein, wer jüdischer Herkunft ist. Bei der Gründung erschien das selbstverständlich, da Israel denen Zuflucht bieten sollte, die wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgt wurden. Inzwischen befindet sich dort aber eine größere Anzahl von Einwanderern, denen die Staatsangehörigkeit grundsätzlich verweigert wird und die sich daher als „Menschen zweiter Klasse“ fühlen. Auch der Anspruch Israels auf jene Gebiete, die laut Altem Testament einst dem Gottesvolk gehörten, gründet sich auf die Annahme, daß die heutigen Juden die direkten Nachkommen von Abraham, Moses und David seien, quasi ihre Blutsverwandten. Selbst wenn diese Nachkommen nicht mehr an Jehova glauben, bleiben sie doch die rechtmäßigen Erben des Besitzes. Das ist die Einstellung der Zionisten.
So sind Identität und die konkrete Politik Israels bis heute von einer zionistischen, und das heißt völkischen, Auffassung bestimmt. Und genau dadurch macht sich das Land inzwischen in der Welt und sogar bei den amerikanischen Verbündeten immer unbeliebter. In einer „multikulturell“ bestimmten Menschheit wird eine nationalistische Sichtweise allmählich unverständlich. Gerade die ausgesprochenen Philosemiten mit ihrer Betonung von „Toleranz“ und „Offenheit“ geraten mit der israelischen Wirklichkeit ständig in einen nur mühsam verborgenen Konflikt. Schließlich muß dann immer der Holocaust herhalten, der seine früheren Opfer zu einem diskriminierenden Verhalten berechtigen oder gar verpflichten soll. Diese Konstruktion wird auf die Dauer nicht halten können.
Im letzten Jahr ist nun ein großer wissenschaftlicher Angriff auf den Kern des jüdischen Selbstverständnisses erfolgt. Shlomo Sand lehrt Geschichte an der Universität von Tel Aviv. Sein Buch „Die Erfindung des jüdischen Volkes“ ist inzwischen auch auf Englisch erschienen. Der Autor gibt sich zunächst skeptisch, was die Wirkung seines Buches betrifft. Es werde gewiß auf Desinteresse und Ablehnung stoßen, prophezeit er, weil die Thesen so wenig populär sind. Das dürfte aber nur für die israelischen Patrioten gelten. Der Rest der internationalen Leserschaft ist für das Gebotene mehr als bereit. Das Buch zielt in dieselbe Richtung wie all die kritisch-aufklärerischen Schriften, die uns in den letzten Jahrzehnten darüber belehren wollten, daß Homer nie gelebt hat, der Römer Varus größer als Arminius gewesen ist und die Gebrüder Grimm ihre Märchen hemmungslos verfälschten. Kurz, es handelt sich um eine „Entmythologisierung“ nationaler Heiligtümer – nur diesmal bezogen auf die Juden. In der französischen Postmoderne nannte man das auch „Dekonstruktion“, und in Paris hat Shlomo Sand unter anderem auch studiert. Er bedient sich des Ausdrucks „Mythistory“ von „myth“ und „history“, um zu kennzeichnen, wie sich in der traditionellen Geschichtsschreibung Irrtümer festsetzen, an denen Nationalkonservative gern festhalten. Und diese Nationalkonservativen herrschen nach dem Tenor des Buches bis heute an israelischen Universitäten und Instituten. Wer die Juden für besonders eifrige „Zersetzer“ eingewurzelten Glaubens hielt, kann sich freuen, wenn diese Begabung jetzt auf sie zurückschlägt. Bei manchen deutschen Konservativen dürfte aber auch eine spontane Sympathie für die angegriffenen Israelis aufkommen.
Unter dem Dahinschwinden seiner eigenen Tradition scheint der Autor mitnichten zu leiden, im Gegenteil. Er sieht darin ein wichtiges Mittel, um die heutigen Probleme Israels zu lösen und zu einer pragmatischen Einigung mit den Arabern diesseits und jenseits der Grenzen zu kommen. Das könnte tatsächlich der Fall sein – nur wird Israel ohne sein „archaisches“ Selbstbewußtsein ohnehin schon aus demographischen Gründen bald verschwunden sein und mit ihm die letzte Bastion jüdischen Volkstums.
Ein Gegenbeispiel zum Historiker Sand liefert der Schriftsteller Franz Kafka, ebenfalls jüdischer Herkunft und mit aufklärerischer westlicher Bildung versehen. Wie eine interessante Studie von Hans Joachim Schoeps darlegt, leidet Kafka in furchtbarer Weise darunter, daß er nicht mehr den Zugang zur alten jüdischen Welt findet, wie sie im Gesetzesglauben eingeschlossen ist. Das Gesetz erscheint nur noch als unbegreifliche drohende Macht und ist doch das einzige Ordnungsprinzip. Kafka fühlt sich als Jude in der modernen Welt verloren und ist doch unwiderruflich teil von ihr. Hans Joachim Schoeps: Der vergessene Gott. Franz Kafka und die tragische Position des modernen Juden.
Im Unterschied zum Dichter glaubt der Historiker felsenfest an die Objektivität seiner Befunde und fühlt sich darin unangefochten sicher. Eines seiner Argumente lautet, daß die Juden nach der Zerstörung ihres Tempels durch die Römer keineswegs alle vertrieben worden seien, sondern nur ein gewisser Teil. Die starke Zunahme jüdischer Gemeinden in den folgenden Jahrhunderten sei durch eine erfolgreiche Mission erreicht worden. Dabei aber hätten viele blutsfremde Elemente Eingang in das Volk gefunden. Diese Menschen verband nach Sand vor allem die Religion und nicht eine Volkszugehörigkeit. Mit folgenden Fragen zweifelt er die ethnische Identität auch für die Folgezeit an: „Was waren die gemeinsamen Elemente in den ethnischen Kulturen eines Juden in Kiew oder eines Juden in Marrakesch außer dem religiösen Glauben und bestimmten Praktiken dieses Glaubens? Schmälert etwa die Behauptung, daß das Judentum stets eher eine wichtige Glaubenskultur gewesen ist als eine einheitliche Volkskultur, seine Würde, wie die Wortführer des jüdischen Nationalismus es in den letzten 130 Jahren vertreten haben?“ (Anmerkung: Shlomo Sand, The Invention of the Jewish People, London 2009). Sand bezeichnet die Behauptung, daß die Juden eine biologische Einheit seien, als typisches Merkmal für Antisemitismus und wundert sich, daß die Zionisten bis heute genau das gleiche behaupten.
Salcia Landmann hatte in ihrem Buch „Die Juden als Rasse“ in den 1960er Jahren noch eine ganz andere Ansicht vertreten. Sie schreibt: „Daß also endogene, angeborene und ererbte Faktoren und folglich auch rassische Zugehörigkeit das Kulturgesicht eines Volkes und seine Geschichte wesentlich mitbestimmen, ist unbestreitbar.“ So leitet sie etwa die hohe Musikalität vieler Juden aus der Tatsache ab, daß das Volk aus einer Gegend stammt, wo es wenig zu beobachten gibt und das Lauschen eine desto größere Bedeutung gewinnt. Dies wäre ein genetisch determiniertes, aus ältester Zeit stammendes Rassemerkmal. Doch würde Sand gar nicht abstreiten, daß die Erbanlagen das Verhalten mitbestimmen. Er sagt nur, daß die jüdischen Erbanlagen auf Grund der Geschichte gar nicht einheitlich sein können und über die Religion hinaus auch gar kein einheitliches Verhalten vorliegt. Man kann darüber bis ins Endlose streiten, wenn man die nötigen Fachkenntnisse besitzt. Entscheidend bleibt jedoch der Wille, mit dem man an eine solche Untersuchung herangeht. Neu an dem Buch von der „Erfindung des jüdischen Volkes“ sind weniger die einzelnen Argumente als die Tatsache, daß das jüdische Volk dabei ist, seine jahrtausendealte Konzeption aufzugeben.

Jüdisches Leben in Deutschland

Die liberale Wochenzeitung „Die Zeit“ berichtete jüngst ganz begeistert über das neue jüdische Leben in Deutschland. Die Gemeinden wachsen an. Und sie lösen sich von der traurigen Fixierung auf den Holocaust, entwickeln sich zu einem gelassenen, ja fröhlichen Selbstbewußtsein. – „Du siehst aber gut aus“, sagen auch manche Besucher, wenn sie das Zimmer eines Dahinsiechenden betreten. Sie halten das für einen Ausdruck der Sympathie. Das Anwachsen der jüdischen Gemeinden beruht fast ausschließlich auf dem Zuzug aus Osteuropa, besonders aus Rußland. Russen mit jüdischer Abstammung haben nach einer Regelung von Helmut Kohl in Deutschland automatisch ein Aufenthaltsrecht. Was diese russischen Einwanderer allerdings zu Juden macht, muß man sich im Sinne von Shlomo Sand manchmal fragen, und es fragen sich auch die eingesessenen (und wohlhabenden) Gemeindemitglieder, die für einen Teil der Eingliederungskosten aufkommen sollen. Sie bitten bereits die derzeitige Regierung um weniger jüdischen Zuzug, weil sie die Ansprüche nicht mehr bewältigen können. Die „Russen“ wissen von jüdischer Religion wenig, haben einen anderen Habitus und andere Bräuche als die deutschen Juden. Nach Auffassung der „Zeit“ und anderer Philosemiten schadet das aber nichts, solange sie nur ein Stück zur bunten Tünche der postindustriellen Gesellschaft beitragen. Immer mehr Völker dürfen sich mit ihrem Drumherum gerade in Berlin enthalten, und immer stärker drängen diese ach-so-vielfältigen Menschen auf den gleichen Markt, die gleichen Versorgungseinrichtungen und die gleichen Geldmittel zu. Letztlich wollen sie alle das gleiche und glauben auch alle das gleiche, nämlich gar nichts. Alles ist nur Aufputz, Abwechslung, Folklore.
Lange hat die deutsch-jüdische Schriftstellerin Lena Gorelik überlegt, ob sie ihren Sohn beschneiden lassen soll. Sie fühlt sich in dieser Absicht bestätigt, weil christliche Eltern ihre Kinder taufen lassen, obwohl sie auch nicht mehr in die Kirche gehen. Sabbath und Beschneidung sind genauso zur Beliebigkeit verkommen wie Weihnachten und Ostern. Da rücken sogar der Rabbiner und der Kabarettist zusammen, der über seine jüdische Identität die schönen (und finanziell einträglichen) Scherze macht. Ein T‑Shirt trägt die Aufschrift „I love jews“. Das klingt immer noch provozierend. Doch wer sollte die Juden nicht lieben, wenn sie der Abstammung nach gemischt und der Einstellung nach pluralistisch sind? Wir lieben die jüdischen Kulturtage genauso wie die türkischen Bäder und die französischen Restaurants. Alles Oasen in der Zivilisationswüste, die etwas Geruch und Farbe verheißen, etwas Abwechslung und exotischen Reiz. Doch die Oase ist eine Fata Morgana. Ohne Gegensätze und ohne eine gewisse Ablehnung ist die kostbare Fremdheit auf der Welt nicht zu haben.

 
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