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Macht die jungen Leute selbständiger!

Warum wir uns nicht mehr wehren können und was dagegen zu tun ist

Nicht nur der Terrorismus, der mittlerweile in Europa angekommen ist, sondern auch die Tatsache, daß die EU nicht einmal mehr in der Lage ist, der primären staatlichen Aufgabe der Grenzsicherung nachzukommen, stellt die Frage in den Raum, ob sich Europa heute überhaupt noch militärisch verteidigen läßt. 

Bezeichnend ist, daß immer mehr westliche Soldaten – etwa in den USA – nach Einsätzen unter „posttraumatischen Belastungsstörungen“ (PTBS) leiden, eine Erkrankung, die im Ersten und Zweiten Weltkrieg fast keine Rolle gespielt hat, obwohl die Kämpfe und damit auch die psychische Belastungen damals viel höher waren.

Der renommierte israelische Militärhistoriker Martin van Creveld ist in seinem Buch „Weicheier. Warum wir nicht mehr wehren können und was dagegen zu tun ist“, das demnächst im ARES Verlag erscheinen wird, den Ursachen dieser Phänomene nachgegangen. 

Mit Martin van Creveld sprach Bernd Kallina.

  

Herr Professor van Creveld, Sie haben etliche Bücher über militärgeschichtliche und andere Themen geschrieben. Was war Ihr persönlicher Zugriff auf diese Themen?
Martin van Creveld: Das ist ganz einfach: Ich wollte wissen, warum westliche Streitkräfte – mit wenigen Ausnahmen – jedes Mal besiegt werden, wenn sie in der Dritten Welt Krieg führen. Ich dachte: Entweder wir „Westler“ kommen dahinter, warum das so ist, und handeln danach, oder unser Schicksal ist besiegelt.

Eingangs erwähnen Sie in Ihrem Buch das wohlklingende Geräusch, wenn feindliches Feuer endlich von den eigenen Geschützen erwidert wird. „Weicheier“, wie Sie einen Großteil der westlichen Eliten benennen, werden dem Gefechtslärm weniger abgewinnen können. Warum ist das so?
Creveld: Der Grund liegt darin, daß diese Eliten nie unter Feuer standen. Weder sie selbst noch, in den allermeisten Fällen, ihre Eltern, noch ihre Kinder – oft gar niemand, den sie kennen. Da sie nie unter Feuer standen, wissen sie nicht, was das bedeutet – wie sollten sie auch? Aber ich sage es noch einmal: Ich war einen ganzen Tag unter jordanischem Artilleriefeuer, wobei ein Artilleriegeschoß in das Dach des Gebäudes einschlug, in dem ich mich befand. Und als ich dann hörte, wie unsere israelischen Mörser ihrerseits das Feuer eröffneten, war das eine Erlösung, die mit nichts zu vergleichen ist, was ich vorher oder nachher gehört habe.

Schwächen sehr lange Friedensperioden, die ja eigentlich etwas Positives darstellen, die realistische Wahrnehmung von Gefahrenpotentialen – vor allem im sicherheitspolitischen Bereich?
Creveld: Der Friede ist ein Segen, der größte Segen, den es gibt. Andererseits besteht kein Zweifel, daß die Gesellschaft, die in Frieden lebt, geschwächt wird. Um einen Vergleich zu bringen: Nehmen wir an, daß eine Fußballmannschaft weiß Gott wie lange nicht trainiert hat. Die Ähnlichkeit zwischen Krieg und Sport ist im übrigen viel größer, als die meisten Menschen glauben. Und dann soll die Mannschaft plötzlich spielen. Was glauben Sie wird in diesem Fall passieren?

„Wir beobachten in Europa ein sehr seltenes Ereignis: Eine Region verteidigt ihre Außengrenzen nicht, sondern öffnet sie stattdessen“, gab Henry Kissinger in einem Interview mit dem „Handelsblatt“ zum Jahreswechsel 2015/16 zu bedenken. Welche historischen Konsequenzen wird das haben?
Creveld: Ich glaube, das Ergebnis wird ein Bürgerkrieg sein. Laut Platon ist ein Bürgerkrieg „das Schlimmste auf der Welt“. Denken Sie an die Hugenottenkriege, denken Sie an den Dreißigjährigen Krieg, denken Sie an den syrischen Bürgerkrieg. Der Krieg wird lange dauern – Jahrzehnte vielleicht –, zu ungeheurer Zerstörung führen, zu diversen ausländischen Interventionen, und wenn er überhaupt endet, wird er in einer Militärdiktatur enden.

Der islamistische Terror ist in Form von asymmetrischen Kriegshandlungen auch in Europa angekommen und überfordert offenbar die klassischen Armeen bei der Abwehr. War dieses Dilemma nicht vorhersehbar?
Creveld: Natürlich war es vorhersehbar, und eine ganze Menge Leute haben es seit Jahren vorhergesehen. Aber die träge öffentliche Meinung, eingelullt von sorglosen Politikern, die nur an der eigenen Karriere interessiert waren, hat sich geweigert, die Gefahr ernstzunehmen. In vielen Fällen nimmt sie die Gefahr immer noch nicht ernst. Ein amerikanischer Freund von mir hat dazu gesagt: „Weißt du, was passiert, wenn man den Kopf in den Sand steckt? Man wird in den Hintern getreten.“

Israel lebt mit dem täglichen Terror schon seit Jahrzehnten und wehrt ihn – bisher – erfolgreich ab. Was können die Europäer von Israel lernen?
Creveld: Alles. Ich werde nicht ins Detail gehen, die Details sind so zahlreich, daß ich sie in diesem Interview nicht einmal aufzählen kann. Es genügt die Feststellung, daß israelische Experten auf der ganzen Welt – nicht nur in Europa – aktiv sind und den örtlichen Polizeikräften und Sicherheitsdiensten zeigen, wie man es richtig macht.
Das wahre Geheimnis des israelischen Erfolges ist aber ein anderes. Es besteht in der Schnelligkeit, mit der alle sichtbaren Spuren des jeweiligen Terrorangriffs beseitigt werden, ob es nun eine Messerattacke, ein Schußattentat oder ein Sprengstoffanschlag war. Wenn Sie nur ein paar Stunden später an den Ort des Geschehens kommen, werden sie nichts mehr davon bemerken. Das Leben kann weitergehen. Das Leben muß weltergehen.

Der Kriegs- und Konfliktforscher Herfried Münkler benennt als erstes Erfordernis bei der Terror-Abwehr eine „heroische Gelassenheit“ der Bevölkerung. Stimmen Sie zu? Gibt es weitere Anforderungen, die wichtig wären?
Creveld: „Gelassenheit“ ist vielleicht ein zu starker Ausdruck. Terror ist kein Vergnügen. Die Szenen sind manchmal schrecklich anzusehen. Menschen werden getötet oder werden zu Krüppeln, oft fürs ganze Leben. Das Schlimmste ist das Leiden der Hinterbliebenen. Aber eine gewisse Schicksalsergebenheit und eine Entschlossenheit, weiterzumachen: Ja, da stimme ich zu. 
Ich bin mir auch nicht sicher, ob wir alle hier in Israel Helden sind. Aber es gibt andere Grundvoraussetzungen, die die Menschen mitbringen müssen. Eine davon ist Erfahrung – die Leute wissen, was zu tun ist, und tun es. Zweitens müssen sie bewaffnet sein – viele Attentäter sind nicht an der Polizei gescheitert, sondern an Passanten, die auf eigene Faust eingegriffen haben. Eine Woche, bevor ich dieses Interview gemacht habe, im Februar 2017, gab es so einen Fall. Und drittens müssen die Menschen trainieren, um die Waffen im Ernstfall gebrauchen zu können. In Israel sind all diese Dinge weitverbreitet.

Bei Ihrer Schwächeanalyse westlicher, postheroischer Gesellschaften und deren Armeen heben Sie hervor, daß sie nicht mehr in der Lage seien, Blut zu vergießen, auch wenn es notwendig sei. Was könnte diese Lage noch verändern?
Creveld: Wie ich vor vielen Jahren in meinem bekanntesten Buch, „Die Zukunft des Krieges“, geschrieben habe, werden die Menschen dazu getrieben werden, ihren „way of life“ zu verteidigen. Wenn nicht mit der Hilfe der Regierung, die oft zu gar nichts nütze ist, dann aus eigener Anstrengung. In Europa beginnt das schon.

In diesem Zusammenhang zitieren Sie Friedrich Schillers Reiterlied von 1797, das mit der Sentenz endet: „Und setzet Ihr nicht das Leben ein / Nie wird euch das Leben gewonnen sein.“ Diese Verse halten Sie offenbar für zeitlos gültig?
Creveld: Ja. Eine Gesellschaft, die nicht bereit ist, Risiken einzugehen, kann und wird keinen Bestand haben.

Warum ist Korpsgeist in jeder Armee so wichtig, und was passiert, wenn er unterentwickelt ist oder ganz fehlt?
Creveld: Der Korpsgeist ist es, der eine militärische Organisation von einem Mob unterscheidet. Ein Mob kann gewiß Chaos anrichten. Aber er kann sich keine realistischen Ziele setzen und nicht planvoll kämpfen, um sie zu erreichen. Schlimmer noch: Da die Einzelpersonen, aus denen der Mob besteht, einander nicht kennen und keine gemeinsame Kultur haben, können sie einander nicht vertrauen. Wenn sie unter Beschuß geraten, werden sie davonlaufen.

In Ihrem Buch gehen Sie auf die Demontage westlicher Armeen ein, vorrangig an Beispielen der US-Streitkräfte. So sei vor allem die Rekrutierung von Frauen in die Armeen und die damit einhergehende Feminisierung ein wesentlicher Grund dafür, daß die Kampfkraft der Truppe geschwächt wird. Womit hängt das zusammen?
Creveld: Es stimmt, daß mein Buch sich hauptsächlich mit den US-Streitkräften beschäftigt. Der Grund dafür ist, daß diese die bedeutendsten und die stärksten Streitkräfte sind. Aber das heißt nicht, daß die anderen westlichen Streitkräfte nicht von den gleichen Problemen betroffen sind. Manche sind sogar in einem schlechteren Zustand als die US-Streitkräfte. 
Sie fragen nach der Feminisierung der Streitkräfte. Das ist ein Thema, zu dem ich ganze Bücher geschrieben habe, also lassen Sie mich nur die drei wichtigsten Probleme nennen, die aus der Feminisierung entstehen. Erstens bringen nur sehr wenige Frauen die körperlichen Voraussetzungen für den Militärdienst mit. Zweitens, und teilweise deshalb, weil sie die körperlichen Voraussetzungen nicht mitbringen, haben Frauen bei allen Streitkräften, in denen sie dienen, alle möglichen Vorrechte. Das führt dazu, daß ihre männlichen Kameraden sie hassen; der Umstand, daß sie das nicht sagen dürfen, macht es nur noch schlimmer. Drittens – und das ist das Wichtigste: Wenn es Frauen in den Streitkräften gibt, dann fällt einer der Hauptgründe weg, warum Männer Soldaten werden und kämpfen, nämlich der männliche Stolz. Dann sagen sie: Danke, ohne mich.

Auch im Erziehungsstil des „Überbehütens“ sehen Sie ein kritikwürdiges Phänomen gesellschaftlicher Fehlentwicklungen. Herr van Creveld, wie sähe denn eine lebensnähere Pädagogik aus?
Creveld: Die Erziehung muß die jungen Menschen einerseits vor ihrer Unerfahrenheit schützen und sie andererseits zur Selbständigkeit ermutigen – und das richtige Gleichgewicht zwischen beidem finden. Es haben jedoch mehrere Ursachen – unter anderem die Verstädterung, die sinkende Geburtenrate und der Anstieg des Alters, in dem Männer und Frauen heiraten und das erste Kind bekommen – dazu geführt, daß sich dieses Gleichgewicht verschoben hat. Vor über zweihundert Jahren ist der Bruder der berühmten Feministin Mary Wollstonecraft mit zwölf Jahren von zu Hause weggegangen und in die Royal Navy eingetreten. Vor etwas mehr als hundert Jahren hat mein Großvater mit fünfzehn Jahren das gleiche getan. Ich bin mit achtzehn Jahren von zu Hause weggegangen; heute aber bleiben die jungen Leute oft zu Hause, bis sie dreißig Jahre alt oder noch älter sind.
Ich kann Ihre Frage zwar nicht im Detail beantworten, aber das Prinzip sollte klar sein: Macht die jungen Leute selbständiger!

Desweiteren machen Sie auf eine Beschwichtigungssemantik aufmerksam: Statt vom „töten“ zu sprechen, wird in den westlichen Armeen lieber mit dem Wort „neutralisieren“ hantiert. Hat man auch sprachlich Angst vor der Wahrheit?
Creveld: Ja, keine Frage. Es kommt heutzutage nur mehr ganz, ganz selten vor, daß man einen Toten zu Gesicht bekommt. Das führt unter anderem dazu, daß westliche Soldaten Angst haben, ihre Arbeit zu tun. Von da ist es nicht mehr weit bis zur „posttraumatischen Belastungsstörung“ (PTBS), dem Übel, das die Streitkräfte lähmt. 

Schon der Ende 2015 verstorbene deutsche Altkanzler Helmut Schmidt wies vor Jahrzehnten – so wie Sie heute – darauf hin, daß Rechte in den westlichen Gesellschaften sehr einseitig fast absolute Priorität gegenüber den Pflichten hätten. Hier scheinen Grundlagen im Gesellschaftsvertrag aus dem Gleichgewicht geraten zu sein, oder?
Creveld: Ich freue mich zu hören, daß Helmut Schmidt, den ich bewundert habe, meine diesbezügliche Meinung geteilt hat. Oder vielleicht sollte ich eher sagen, daß ich stolz bin, seine Meinung zu teilen. „Ich halte mich an einem großen Baum fest“, wie es in einem hebräischen Sprichwort heißt. 

Wie gehen Sie mit folgendem Einwand um: Die vermeintlich so zahnlosen westlichen Armeen, die Sie beklagen, könnten doch durch moderne Waffentechnik, Stichwort zum Beispiel Kampfdrohnen, vieles ausgleichen und so wieder militärische Überlegenheit gewinnen. Ist dies nicht so? 
Creveld: Nein. Sehen Sie sich nur an, was in den letzten paar Jahrzehnten passiert ist, und Sie werden erkennen, daß unzählige Male moderne, starke, gut ausgerüstete, technisch fortschrittliche Streitkräfte mit ihren komplizierten Waffen an Gegnern gescheitert sind, die, zumindest anfänglich, nicht einmal Schuhe hatten.

Sie weisen der USA eine dominierende Rolle zu, wenn „der Westen überhaupt zu retten ist“, wie Sie schreiben. Wird Donald Trump und seine Regierungsmannschaft dazu einen maßgeblichen Beitrag leisten können?
Creveld: Ich möchte Ihnen ein Geständnis machen: Obwohl ich kein US-amerikanischer Staatsbürger bin, habe ich zu Trump gehalten und mich sehr gefreut, daß er gewählt worden ist. Hauptsächlich wohl deshalb, weil ich hoffte, daß seine Wahl den Anfang vom Ende der „political correctness“ bedeuten würde, die uns alle zu Idioten macht. Bis jetzt jedoch hat er sich eher seltsam benommen. Einige behaupten, das beweist, daß er ein kompletter Idiot ist, andere, daß er zielbewußt agiert, um seine Gegner zu überraschen und zu verwirren. Also müssen wir wohl abwarten, was weiter geschieht.

 
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