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Nationale Mythen

Warum wir ohne Mythen keine Zukunft haben

Politische Mythen sind als „ideologisierende Erzählungen“ heute diskreditiert. Die BRD versteht sich als aufgeklärtes, mythenloses Gemeinwesen. Und doch ist mythisches Denken heute noch lebendig, ja unverzichtbar. Mythen sind Ursprungsgeschichten, in denen es nicht darum geht, irgendein lange zurückliegendes Ereignis zu schildern, sondern darum, die Gegenwart zu erklären. Unter nationalen Mythen verstehen wir historische und sagenhafte Ereignisse (sowie auch abstrakte Begriffe), in denen in paradigmatischer Weise Wesen und geistiger Bestand einer Nation deutlich werden.

Von Mag. Wolfgang Dvorak-Stocker

 

Mythen sind idealtypische Erzählungen mit appellativem Charakter, die in emotionsgeladenen Geschichten erzählt werden. Appellativ heißt, daß sie eine Bedeutung haben für unser heutiges Sein und Tun und Wollen. Sie erklären nicht nur das geschichtliche Gewordensein der Nation, sondern weisen ihr auch den Weg in die Zukunft.Von besonderer Bedeutung ist der Hoffnungsaspekt, die Zukunftsdimension, durch die Sinn gestiftet wird. Der Mythos kann so konservierender und zugleich perspektivischer Natur sein. „Seine Erzählung ist in die Vergangenheit verlegt, weist aber auf Zukunft und Gegenwart.“1 Alle Nationen sind geprägt von solchen „Mythen des Woher“, die gleichzeitig zum „Mythos des Wohin“2 werden. Nationale Mythen können in verschiedene Richtungen wirken. Sie können die konservierenden Kräfte einer Gesellschaft bestärken, als fundierende Mythen ein bestimmtes Herrschaftssystem im Rückblick auf die Geschichte begründen und eine bestimmte Gesellschaftsordnung oder Staatsform als sinnvoll und legitim, gottgewollt und unabänderlich darstellen. Mythen können aber auch auf Veränderungen drängen und Revolutionen ermöglichen, indem sie eine Herrschafts- oder Gesellschaftsordnung delegitimieren, die Brüche zur Vergangenheit herausstellen, das Fehlende oder Verlorene betonen und die gegenwärtige Situation aus dem Blick auf die Geschichte als Irrweg und Fehlentwicklung erscheinen lassen. 

Mythische Weltsicht

In der mythischen Weltsicht wird die Nation als numinoses Wesen gesehen, das eine Geschichte und eine Zukunft hat und seine Identität durch die Zeitenläufte bewahrt.3 Als solches ist sie in jedem einzelnen in substantieller Weise anwesend und nicht bloß etwas subjektiv Gefühltes. Wird die Nation als bloße Willensgemeinschaft verstanden, dann könnte jede Generation von neuem bestimmen, welche Inhalte sich diese Willensnation gibt. Der Blick auf die Geschichte lehrt aber, daß im Gegenteil ein gewisses Maß an Kontinuität des Strebens der einzelnen Nationen feststellbar ist. Dabei handelt es sich nicht nur um geopolitische Notwendigkeiten, denen sich jede Generation von neuem fügt, sondern es ist eindeutig auch die Geschichte, deren Aufträge jede Generation zu erfüllen trachtet. Wie ein Mensch im Laufe seines Lebens manche Ansichten revidiert, lernt und sich verändert, so kann sich auch das Selbstverständnis einer Nation im Laufe der Zeiten ändern. Nur ist dies ein kontinuierlicher Prozeß, der stets versucht, Veränderungen aus der Vergangenheit heraus zu legitimieren. Und zwar immer – auch dann, wenn, wie dies bei den heutigen Deutschen der Fall ist, eine Nation ihre Gegenwart als Bruch mit der Vergangenheit definiert.

Die hier beschriebene mythische Weltsicht steht nicht in Konkurrenz zur wissenschaftlichen, sondern bildet ein eigenes System, das seine eigene Berechtigung hat. Sie zeigt uns Aspekte der Wirklichkeit, die genauso real sind wie jene Aspekte, die uns die Wissenschaften zeigen – ähnlich wie ein Forstwirt bei einem Waldspaziergang etwas anderes wahrnehmen wird als ein Künstler, dem es auf das Spiel des Lichts und die seelische Erfahrung der Natur ankommt. Beide sehen Unterschiedliches, und doch ist der Realitätsgrad der einen Erfahrung nicht geringer als der der anderen.4

Das emotionale Fundament der Nation

Die nationalen Mythen bilden „das emotionale Fundament der Nation“5. In den Mythen tritt mir mein Volk, wie es an sich ist, entgegen. Das gilt in indirekter Weise für den ganzen Bereich der Kultur, wo es um das Volkhafte geht – vom Volkslied bis zur Ballade. Solche Erfahrungen sind entscheidend! Dreht man heute den Fernseher auf, stößt man allerorten auf Talkshow-Deutsche, deren Aussehen und Benehmen einem jeden Stolz an der Zugehörigkeit zu diesem Volke nehmen. Doch schon Goethe sprach davon, daß der Erzieher die Kindheit hören muß und „nicht das Kind; der Gesetzgeber und Regent die Volkheit und nicht das Volk. Jene spricht immer dasselbe aus, ist vernünftig, beständig, rein und wahr. Dieses weiß niemals für lauter Wollen, was es will“.6 Das Fundament der inneren Beziehung zum eigenen Volk muß also in der „Volkheit“ liegen, in den Mythen und der Kultur des eigenen Volkes, und ist unabhängig von den positiven oder negativen Erfahrungen, die man mit einzelnen Repräsentanten desselben macht. Geschieht diese positive Grundlegung nicht im Kindesalter, wird es für den erwachsenen Menschen sehr schwierig, noch ein lebendiges Verhältnis zur eigenen, nationalen Identität zu entwickeln. Wenn heute die bunte Welt der Kabel-TV-Programme in den Köpfen der Kinder die Märchen und Sagen, Legenden und Mythen ihres Volkes, ihrer Region ersetzt und verdrängt, trägt dies in ungeahnter Weise zur modernen Entortung bei.

Als emotionales Fundament der Nationen sind die Mythen deshalb unverzichtbar, weil, worauf Karlheinz Weißmann hingewiesen hat, Nationalbewußtsein ein geistiger und kein natürlicher Sachverhalt ist. „Anders als die Liebe zur Familie ist die Vaterlandsliebe nicht auf eine überschaubare Gruppe bezogen, anders als für die Heimatliebe gibt es für den Nationalismus kein Territorium, das der Einzelne in jedem Winkel kennt.“7 In dieser Hinsicht kann man Ernest Renans Definition zustimmen, daß Nationen „geistige Wesen [sind], die existieren, solange sie in den Köpfen und Herzen der Menschen sind und die erlöschen, wenn sie nicht mehr gedacht werden“8. Die Nation ist die geistige Dimension des Volkes, an der beileibe nicht jeder, der diesem biologisch angehört, Anteil nehmen muß – wie man an vielen Repräsentanten des öffentlichen Lebens deutlich sieht.

Die wichtigsten Mythenquellen bilden die großen geschichtlichen Herausforderungen wie Freiheitskriege und das Ringen um nationale Einigkeit. Dabei sind auch heroische Niederlagen mythenfähig. „Generell für die europäischen Nationen läßt sich sagen, daß es ihnen nicht einmal in erster Linie auf den Sieg ankommt, sondern auf Standhaftigkeit im Unglück, auf Heldenmut gegenüber einem zahlenmäßig überlegenen Feind und auf das Opfer des eigenen Lebens in höchster Gefahr. Das sind die Quellen der Legitimität der Nation und Unterpfänder ihres Rechtes, in Freiheit und Einigkeit zu leben.“9

Wichtig ist festzuhalten, daß historische Mythen nicht isoliert im Raume stehen, sondern miteinander verbunden sind.10 So spiegelt sich der zentrale deutsche Mythos vom Freiheitskampf des Arminius gegen die Römer im Mythos der Befreiungskriege gegen Napoleon, und beide werden zur Legitimierung herangezogen, wenn die deutsche Nationalbewegung im 19. und 20. Jahrhundert das Ideal echter, germanischer Freiheit im Gegensatz zu den westlichen Ideen von Liberalismus und Demokratismus zu bestimmen sucht. Augenscheinlich wird solche historische Korrespondenz an einer von dem Künstler Emile Chatrousse errichteten Statue, die Vercingetorix und Johanna von Orléans Hand in Hand zeigt – zwei historische Gestalten, deren Lebenszeit fast anderthalb Jahrtausende auseinanderliegt, die aber für das Selbstverständnis Frankreichs nach der Niederlage gegen Deutschland 1870 dieselbe Botschaft verkünden.11 Mythen beinhalten einen Hoffnungsaspekt, ein Versprechen für die Zukunft.

Wie Mythen wirken

Neben diesen zentralen Mythen, die immer wieder aufgegriffen werden, gibt es selbstverständlich auch solche, die einer gewissen Konjunktur unterworfen sind. So war die Kaiser-Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. im Spiegelsaal von Versailles im 18. Jänner 1871 ein wichtiger Mythos zur Zeit des Zweiten Deutschen Kaiserreichs. Heute sagt er den Deutschen nichts mehr. Und doch können an seinem Beispiel einige Wesensmerkmale des Mythos idealtypisch aufgezeigt werden:

Erstens: Nationale Mythen werden immer mit einer bestimmten Stoßrichtung, einer Absicht erzählt, die sich im Unterschied zu religiösen Mythen auch ändern kann. Nicht umsonst war nämlich ausgerechnet der Prunksaal des wichtigsten Schlosses des französischen „Erbfeindes“ zur Proklamation der neuen Reichsherrlichkeit ausgewählt und damit dem Mythos schon eine bestimmte Richtung gegeben worden – man hätte auch nach Frankfurt, in die Krönungsstadt des Alten Reiches, nach Aachen oder Berlin gehen können.

Wie Mythen ihre Bedeutung, ihre Stoßrichtung ändern können, zeigt sich zum Beispiel auch am Mythos von Kaiser Friedrich Barbarossa, der im Kyffhäuser schlafen soll, um dereinst wiederzukehren, des Reiches Herrlichkeit von neuem aufzurichten. In diesem Mythos spiegelte sich die Hoffnung auf die Wiederherstellung einer guten Ordnung in einem durch Religionskriege zerrissenen, später von feindlichen Mächten im Dreißigjährigen Krieg oder in den Napoleonischen Kriegen gedemütigten Deutschland wider. Als das Deutsche Reich dann aber in seiner preußisch-kleindeutschen Version 1871 wiedererstand, wollte man anfangs an diesen Mythos partout nicht anknüpfen, da man aus der borussisch-protestantischen Perspektive die Rom-Politik der mittelalterlichen Kaiser mißbilligte, ja als schweren Fehler und Verderbnis der Nation brandmarkte. Scharf wandte sich etwa Gustav Freytag gegen ein solches Ansippen an das Alte Reich: „Vom Pfaffen eingerichtet, durch Pfaffen geweiht und verpfuscht, war sie (die Kaiserwürde) ein Gebilde des falschesten und verhängnisvollsten Idealismus, welcher je Fürsten und Völkern den Sinn verstört, das Leben verdorben hat. Schwer hat unsere Nation die innerlich unwahre Idee gebüßt, Jahrhunderte der Schmach und des politischen Verfalls sind aus ihr hervorgegangen.“12 Doch bald wurde der Barbarossa-Mythos doch wieder in den Dienst genommen, wurde Kaiser Wilhelm I. als „Barbablanca“ – „Weißbart“ – bezeichnet, wurde die alte Kaiserpfalz Goslar wiedererrichtet und vor ihr Reiterdenkmäler Wilhelms und Friedrich Barbarossas aufgestellt, um so eine dementsprechende Verbindung herzustellen, weil dadurch dem katholischen Süden des Deutschen Reiches das Gefühl gegeben werden konnte, eben nicht vom protestantischen Norden machtpolitisch überrannt worden zu sein, da dieser doch nur das Versprechen des Barbarossa-Mythos auf die Wiederherstellung der Reichsherrlichkeit eingelöst habe.13 Oder denken wir an das Nibelungenlied, an die Gestalt Hagens zum Beispiel. Hagen kann sowohl für die innere Zwietracht stehen, die das Deutsche Reich immer wieder zerrissen und in blutige Kriege gestürzt hat – einer der größten deutschen Dichter des 20. Jahrhunderts, der Österreicher Josef Weinheber, schrieb beispielsweise: „immer entsteht dem lichten Siegfried ein Tronje im Nu/Weh, wie wir uns vernichten/und das Reich dazu“14. Doch Hagen von Tronje konnte auch als Sinnbild von Gefolgschaftstreue und Aufopferung gegenüber dem legitimen Herrscher verstanden werden, hat er doch Siegfried nur deshalb getötet, weil dieser ein wesentliches Geheimnis König Gunthers an seine Frau Kriemhild verriet und damit die Legitimität von Gunthers Herrschaft gefährdet hatte. Der deutsche Balladen-Dichter Börries von Münchhausen dichtete daher: „drum, ob auch das Herz mir gezittert/als Siegfried gestöhnt und Kriemhild geweint/doch bist du von Grauen umwittert/der Held meiner Lieder, mein Hagen, mein Freund!“.15 Und ein Bismarck konnte aus der Perspektive des Nibelungen-Mythos einerseits als Siegfried, nämlich als Schmied des Reiches betrachtet werden, andererseits auch als Hagen, nämlich als treuer Berater und tapferer Streiter seines Herrn und Kaisers, der sogar bereit ist, zu dessen höherer Ehre Unrecht zu begehen. Der Mythos ist für verschiedene Interpretationen offen.16

Zweitens werden an diesem Mythos der Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles die drei Mechanismen sichtbar, aufgrund derer Mythen bewußtseinsbildend wirken, nämlich durch narrative Variation, ikonische Verdichtung und rituelle Inszenierung.17

Narrative Variation meint, daß ein Mythos in den verschiedensten literarischen Gattungen, in Erzählung und Roman, Schauspiel und Gedicht, Anekdote und wissenschaftlicher Abhandlung, immer wieder neu erzählt wird. Mythen sind in dieser Hinsicht auch etwas durchaus demokratisches, für ihre Wirkmächtigkeit sind Eltern und Großeltern, die ihren Nachkommen Geschichten erzählen, ebenso wichtig wie hochgelehrte Historiker, die wissenschaftliche Abhandlungen über die jeweiligen Ereignisse verfassen.

Ikonische Verdichtung meint, daß wir alle bei einem echten wirkmächtigen Mythos sofort dasselbe Bild vor Augen haben – bei der Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles war es eben das bereits zitierte Bild Anton von Werners.

Rituelle Inszenierung letztlich meint, daß solche Mythen im Zuge von öffentlichen Feiern, von Festtagen, durch Umzüge, Aufmärsche oder andere Zelebrationen immer neu ins öffentliche Bewußtsein geholt werden müssen.

Auch unser heutiges politisches System feiert seine tragenden Mythen in rituellen Inszenierungen anläßlich bestimmter Jahrestage, wobei die Rolle der Mythenerzähler in erster Linie Film und Fernsehen übernommen haben, bei denen die beiden Elemente der narrativen Variation und ikonischer Verdichtung zusammenfallen, was ihre besondere Wirkmächtigkeit als moderne Mythenproduzenten erklärt.

Wahre und falsche Mythen?

Es ist für die Wirkmacht eines Mythos nicht wichtig, ob sich das historische Ereignis genau so, ganz anders oder überhaupt nicht zugetragen hat. Heute weist die kritische Wissenschaft gern darauf hin, daß nationale Mythen Konstrukte sind und allenfalls einen geschönten Teil der historischen Realität wiedergeben. Doch darauf kommt es nicht an, denn die Funktion von Mythen ist, daß sie Kontingenz wegerzählen und damit Geschichte als sinnvoll und zielgerichtet verstehbar machen. Auch der angeblich aufgeklärte linke Zeitgeist ist von Mythen bestimmt, also von emotionsgeladenen „Erinnerungen“, die nicht unbedingt viel mit der historischen Wirklichkeit zu tun haben müssen. Aber das sagt eben nichts über die bewußtseinsbildende Kraft aus, die einen Mythos zu entfalten vermag. Welche Mythen gepflegt und welche entmythologisiert werden, ist nur eine Frage der Macht und des Zeitgeistes.

Auch die Unterscheidung zwischen „echten“ und „falschen“ Mythen ist irrig. Darin wird zwischen solchen Mythen unterschieden, die „spontan entstanden“ sind und solchen, die zur Erreichung politischer Zwecke bewußt „gemacht“ wurden.18 Aber nationale Mythen wurden immer von den Bildungsschichten eines Volkes entdeckt, ausformuliert und dem Volk über verschiedene literarische Gattungen nahegebracht. Daß die Freiheit in den germanischen Wäldern zu Hause war, daß der Wille, frei und niemandem untertänig zu sein, ein spezifisch germanischer Wesenszug sei, entdeckten die humanistischen Gelehrten des 16. Jahrhunderts bei Tacitus. Dieser Gedanke wird dann von den Barockpoeten weitergetragen und prägt schließlich die deutsche Nationalbewegung im 19. Jahrhundert ganz entscheidend.19 Auch dies ein echter Mythos, der einerseits historische Wurzeln hat, andererseits in der Gleichsetzung – Freiheitssinn = germanisch – natürlich ahistorisch ist. Auch abstrakte Begriffe – wie zum Beispiel „Preußen“ oder „Reich“ – können also zu Mythen werden. Die bloße Erwähnung eines solchen Begriffs wirkt dann wie der Schlag auf eine Glocke, der bestimmte Schwingungen, bestimmte Gefühle und Vorstellungen wachruft. 

Der tragende Mythos der BRD

Heute scheint die mythische Sicht der Nation obsolet geworden zu sein. In ihr stehen nicht nur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer lebendigen Beziehung, sondern auch Ganzes und Teil: die Nation ist in allen, in jeder einzelnen Person substantiell anwesend. Der einzelne kann sich diesem Verhältnis nicht entziehen, er kann es nur in der einen oder anderen Weise interpretieren.20 Heute spricht man aber lieber von „Gesellschaft“, deren Wesen es ja ist, daß man in sie nach Belieben ein- und wieder austreten kann. Doch einer der prägendsten politischen Mythen unserer Zeit setzt wiederum das mythische Verständnis der Nation voraus: Auschwitz. Ein Jürgen Habermas, der ursprünglich jede traditionelle nationale Identität ablehnte und verkündete, alle „Gesellschaftsmitglieder“ sollten sich ihre eigene Identität selbst entwerfen, brach mit dieser seiner Haltung, als er erkannte, daß dann die heutigen Deutschen für Auschwitz auch nicht mehr in die Pflicht zu nehmen wären. So verkündete er 1987, unsere Identität sei bestimmt „durch ein geschichtliches Milieu, das uns erst zu dem gemacht hat, was und wer wir heute sind. Niemand von uns kann sich aus diesem Milieu herausstehlen, weil mit ihm unsere Identität sowohl als Individuum wie als Deutsche unauflöslich verwoben ist“.21 Zitate dieser Art lassen sich ohne Ende finden. So bezeichnete Joschka Fischer „Auschwitz“ als „Staatsrä son“22 und „Fundament“23 der Bundesrepublik Deutschland. Und Verteidigungsminister Peter Struck erklärte am 29. Mai 2008 im Bundestag: „Mit der systematischen Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden während der Nazizeit haben die Deutschen unendliche Schuld auf sich geladen – eine Schuld, die niemals vergeht.“ Niemals. Damit sind wir bei der „zeitlosen Immer-Gegenwart“ des Mythos, von der Thomas Mann gesprochen hat.

Auschwitz – damit ist nicht das konkrete historische Geschehen an diesem Ort gemeint, sondern jener Komplex an Vorstellungen, der damit verbunden ist – ist ein klassischer Mythos. Wirklich ergriffen hat er die Deutschen erst, als sich die heutigen Mythenproduzenten – Film und Fernsehen – seiner annahmen und er bildfähig wurde. „Auschwitz“, das meint die einseitige Verteilung von Gut und Böse im Zweiten Weltkrieg, die Kollektivschuld der Deutschen, ja ihre geschichtliche Widerlegung als Nation. Dieses „Auschwitz“ ist zum tragenden Mythos der Bundesrepublik Deutschland geworden, sie definiert sich selbst das Gegenbeispiel. Was immer Hitler und die Nationalsozialisten für gut befunden haben, das Gegenteil davon muß richtig sein. Von daher erklärt sich die Verbissenheit, mit der der Begriff der „Befreiung“ als einzig mögliche Interpretation des 8. Mai 1945 festgesetzt wurde. Von daher erklärt sich die zunehmende Verdrängung des Schicksals der Vertriebenen, der Geschichte Ostdeutschlands, des Bombenkriegs usw. aus dem öffentlichen Bewußtsein. Manche der Ereignisse können jedoch überhaupt nur als Mythos richtig begriffen werden, denn Opfer eines bestimmten Ausmaßes entziehen sich dem Vorstellungsvermögen und können nur am repräsentativen Einzelbeispiel erlebt werden – und genau dies ist das Wesen des Mythos. Wirklich begriffen hat man etwas erst, wenn man es nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen verstanden hat. Die jüdischen Opfer haben, und daran ist absolut nichts auszusetzen, ihre „Sänger“. Ihr Schicksal erreicht via Film und Fernsehen die Herzen der Menschen rund um die Welt. Von deutschen Opfern „weiß“ man vielleicht die Zahlen, bildhaft sind diese Opfer für die meisten heute lebenden Menschen, ja für die meisten Deutschen, niemals geworden. Schlimmer noch: Sie durften es nicht werden, da sonst der tragende Mythos der Bundesrepublik Deutschland in Frage gestellt worden wäre. Daher die Medienkampagne gegen den Film „Soweit die Füße tragen“ im Jahre 2001, der als Tabubruch aufgefaßt wurde, schilderte er doch die Geschichte eines „deutschen Opfers“. In den folgenden Jahren erschienen jedoch weitere Filme, die den Untergang Dresdens, die Flucht aus Ostpreußen und Schlesien, den Untergang der „Wilhelm Gustloff“, die Massenvergewaltigungen durch die Rote Armee und mit der Gestalt des „Roten Barons“ sogar einen deutschen Kriegshelden zum Thema gehabt haben. 

Mögen all diese Filme auch teilweise unter den Vorgaben der Political Correctness gestaltet und historisch nicht ganz richtig sein, so handelt es sich dennoch um eine erinnerungspolitische Trendwende. Die frühere Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, hat dies klar erkannt. Sie sprach von einem „erinnerungspolitischen Gezeitenwechsel“ und bestand darauf, „daß die Shoa und eben nicht die deutsche Leid-Erfahrung zentrales Motiv unserer Erinnerungskultur bleiben muß“.24

Gezeitenwechsel 

Trotz dieses „Gezeitenwechsels“ pflegen aber viele Deutsche und insbesondere weite Teile der Massenmedien noch immer einen negativen Mythos von sich selbst als den „Tätern“ in der Geschichte, zumindest in der des 20. Jahrhunderts. Das negative Selbstbild, das die Deutschen von sich haben, ist vergleichbar mit dem der amerikanischen Neger zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Rahmen einer Studie gaben damals Psychologen Kindern aus schwarz-amerikanischen Familien zwei Puppen – eine schwarze und eine weiße – und baten die Kinder, ein Spiel zu spielen, in dem eine der beiden Puppen eine böse und die andere eine gute Rolle zu übernehmen hätte: Die überwiegende Mehrzahl der Kinder ließ die schwarze Puppe die böse Rolle spielen, was ein bezeichnendes Licht auf das Selbstbewußtsein der Afroamerikaner zu diesem Zeitpunkt wirft. Die „Black Consciousness“-Bewegung hat dieses Selbstbild binnen weniger Jahrzehnte völlig gedreht. Ein solcher Bewußtseinswandel kann noch viel abrupter erfolgen. Karlheinz Weißmann hat als Beispiel angeführt, daß für die amerikanische Jugend der späten dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts Patriotismus als letzter Zufluchtsort für Taugenichtse galt, eine krude Form liberalen Pazifismusses vorherrschte und kaum etwas verächtlicher schien als Wehrdienst und Vaterlandsliebe. Pearl Harbour änderte dies von einem Tag auf den anderen – womit Präsident Roosevelts Rechnung, der diesen Schlag brauchte, um in den Krieg eintreten zu können, exakt aufging.25 Auch ein schlagartiger Wandel des öffentlichen Bewußtseins ist also möglich!

Das ist auch höchste Zeit, stehen die Deutschen doch vor – im wahrsten Sinne des Wortes – existentiellen Fragen und Problemen. Der Historiker Herfried Münkler – selbst SPD-Mitglied – hält es für eine große Hypothek der Bundesrepublik Deutschland, über keine positiven, das Gemeinwesen tragenden Gründungsmythen zu verfügen. Dafür gibt er den deutschen Intellektuellen die Schuld: „Statt mühselige Versuche zu unternehmen, der Bundesrepublik eine gründungsmythische Fundierung zu geben, bezogen sie den Hochsitz der Kritik, wo sie weder in die politische Pflicht genommen, noch für folgenreiche Entscheidungen verantwortlich gemacht werden konnten. Eigentlich können sich die politischen Intellektuellen eine solche Position nur leisten, wenn sie davon ausgehen dürfen, daß die politische Ordnung stabil und im Bewußtsein der Bevölkerung fest verankert ist. In der Bundesrepublik der 1980er Jahre gab es gute Gründe, das anzunehmen; in den späten 1990er Jahren war das jedoch nicht mehr der Fall …“26 

Politische Gemeinwesen kommen jedoch auf Dauer ohne Mythen nicht aus: Denn die wichtigste Funktion von politischen Mythen ist, daß sie „Unterstützung für ein Projekt mobilisieren, das mit erheblichen Kosten und Nachteilen verbunden ist …, daß sie begeisterte Zustimmung hervorbringen, wie sie bei einem nüchternen Abwägen der Vor- und Nachteile nie zustande käme“.27 

„Ohne Großerzählungen von schwierigen Situationen, in denen die Altvorderen in vorbildlicher Weise gehandelt und ihre Herausforderungen bewältigt hatten, fehlt es an Beispielen, auf die man verweisen und aus denen man Vertrauen und Zuversicht schöpfen kann. Vermutlich ist das einer der wichtigsten Beiträge, die die politischen Mythen zu Stabilität von Staaten und Nationen leisten: Daß sie Selbstvertrauen und Selbstsicherheit schaffen.“28

Münkler warnt die politische Klasse davor, daß die politische Zukunft eines Gemeinwesens in hohem Maße davon abhängt, wer über diese Großerzählungen verfügt. Und wie die Geschichte lehrt, müssen dies nicht unbedingt die Machthaber sein. Mythen können, wie wir eingangs festgestellt haben, ein System stabilisieren und legitimieren, sie können aber auch die Brüche zur Vergangenheit herausstellen und die gegenwärtige Situation aus dem Blick auf die Geschichte als Fehlentwicklung erscheinen lassen. Dann befördern sie den politischen Wandel.

Welche politischen Mythen könnten nun in der Zukunft eine Wirksamkeit entfalten? Arminius, das Nibelungenlied oder Barbarossa sind für die meisten Deutschen verschüttete Geschichte. Ein lebendiger Bezug läßt sich zu diesen jahrhundertelang wirkemächtigen Mythen in der nächsten Generation nicht mehr herstellen. Der mythische Anknüpfungspunkt wird regionaler und zeitlich näher liegen.

Die Heimat

Der Wille nach heimatlicher Verankerung ist nicht zu unterschätzen. Der – zumindest teilweise erfolgende – Wiederaufbau des Zentrums der Frankfurter Innenstadt wurde nicht von jenen erstritten, die noch eine lebendige Erinnerung an diese altdeutsche Stadt in sich trugen, sondern von einer Generation, die „Heimat“ bewußt herstellen und gegen die internationale Austauschbarkeit von Geschäftsfassaden in Innenstädten rekonstruieren wollte. Diese Bewegung feiert nicht nur deutschlandweit immer neue Triumphe, sondern ist in ganz Europa zu vermerken: Selbst in Moskau soll das dem stalinistischen Groß-Hotelprojekt „Rossija“ zum Opfer gefallene Altstadtviertel größtenteils wieder errichtet werden! Auch der große Zulauf, den die Südtiroler Schützen in der jungen Generation haben, der Erfolg des steirischen Trachtenfestes „Aufsteirern“ in der Landeshauptstadt Graz mit über 100.000 Teilnehmern, der viele Studenten dazu gebracht hat, sich das erste Trachtengewand ihres Lebens zuzulegen, und zahlreiche andere Phänomene deuten in diese Richtung. 

Aus dieser verstärkten Blickrichtung auf die eigenen Wurzeln mag ein größeres Interesse an regionaler Literatur und Volksmusik entspringen. Das muß aber nicht so sein, die – wohl unaufhaltsame – stärkere Besinnung auf die regionale Identität schließt nicht zwangsläufig eine stärkere Rezeption der literarischen, musikalischen oder brauchtumsmäßigen Traditionslinien ein. Hier mag sich die bewußte Vernachlässigung dieses Erbes in der Schulbildung der letzten Jahrzehnte noch nachhaltig bemerkbar machen. Das Wiederaufleben der regionalen Verwurzelung kann durchaus auch flacher wurzeln und die Wiederherstellung optischer regionaler Identität durch bauliche Maßnahmen mit folkloristischen Versatzstücken und einer entorteten amerikanischen Globalkultur in cineastischer oder musikalischer Hinsicht verbinden.

Die Politik kann hier auch nichts erzwingen, allerdings viel dazu beitragen, daß sich die Verhältnisse langsam wieder stärker in eine identitäre Richtung entwickeln, etwa durch entsprechende Lehrpläne an den Schulen oder durch die Förderung der regionalen Kulturen in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehprogrammen. Der Erfolg von Magazinen wie „Landlust“ oder „Servus“ zeigt, wie groß das Bedürfnis danach ist. Dabei darf nicht außer acht gelassen werden, daß Dokumentationen und Kultursendungen im TV immer nur eine Minderheit erreichen werden. Es sind in erster Linie Spielfilme und Unterhaltungsserien, die bewußtseinsbildend wirken und welche schon heute von der amerikanischen Medienindustrie gezielt dafür verwendet werden, um den tiefgreifendsten Wertewandel, dem Europa und die restliche Welt seit der Christianisierung unterworfen sind, voranzutreiben.29 

Der zweite Weltkrieg

Lore Waldvogel hat in ihrem Beitrag über C. G. Jung eindringlich darauf hingewiesen, daß die größte Hypothek, die die Zukunftsfähigkeit des deutschen Volkes belastet, im „einseitigen Narrativ“ besteht, also in der historischen Großerzählung, die, wie wir oben gezeigt haben, die historische Widerlegung der Deutschen als Nation impliziert. Auch der sozialdemokratische Historiker Herfried Münkler hat in seinem hier mehrfach zitierten Buch darauf hingewiesen, wie belastend das Fehlen positiver Mythen für eine Nation in Zeiten existentieller Herausforderung ist. In Rußland wird nicht umsonst auch mehr als 70 Jahre nach Kriegsende der Tag des Sieges landesweit pompös gefeiert. Bis ins letzte sibirische Dorf erinnern Plakate an die Söhne der Heimat, die in den „Großen Vaterländischen Krieg“ zogen und dort oft ihr Leben ließen, jede Schule und jeder Kindergarten ist mit oft noch aus der Stalin-Zeit stammenden Postern geschmückt und viele Autos tragen einen Aufkleber mit dem Georgsband und der Aufschrift „Ich gedenke – ich bin stolz!“. Die Verbrechen der Roten Armee haben in diesem Gedenken ebensowenig Platz wie das menschenverachtende kommunistische System, das in der Folge dieses Sieges halb Europa in seine Ketten schlug. Es geht einzig und allein um den historischen Bezugspunkt des „einer für alle – alle für einen“, um die nationale, rußländische (nicht bloß russische!) Identität, die alle Völker und Kulturen dieses Riesenreiches auch in Zukunft verbinden soll. Das Gedenken an Krieg und Sieg trotz schwerster Bedrängnis soll die Zukunftsfähigkeit Rußlands auch angesichts der heutigen Herausforderungen belegen. 

Genau darum muß es auch im tragenden deutschen Mythos der nahen Zukunft gehen. Die Bezugnahme auf einen historischen Sieg ist dabei ohne Bedeutung. Auch das Zusammenstehen eines Volkes in Zeiten schwerer Not und Herausforderung, das Bewahren von Kultur und Identität in einer Zeit des totalen Niederbruchs und ein erfolgreicher Wiederaufbau danach, können Anknüpfungspunkte für einen solchen Mythos bilden. Nicht umsonst ist der Stolz auf Wirtschaftswunder und den Wiederaufbau der 1950er Jahre unter den nachgeborenen Generationen der Deutschen genauso groß, ja größer als unter der Aufbaugeneration selbst.30 Wendet man den Blick von den im deutschen Namen begangenen Verbrechen an Juden, Polen, Ukrainern, Russen und anderen hin zu den Taten der Siegermächte, zum Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung, zu den Massenvergewaltigungen durch die Rote Armee, zur Vertreibung von 18 Mio. Menschen von Haus und Hof aus der angestammten Heimat, zu den Hungerlagern der Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihren Hunderttausenden von Opfern und zu den Millionen deutschen Kriegsgefangenen und Zivilverschleppten, die in der Sowjetunion ihr Leben ließen, kann man im Zweiten Weltkrieg auch einen Existenzkampf des deutschen Volkes sehen. Und die weltpolitischen Ziele der Alliierten? Daß der Triumph der Sowjetunion für die Völker Ostereuropas alles andere als ein Sieg und eine Befreiung war, steht außer Zweifel, wenngleich diese Tatsache im öffentlichen Bewußtsein Deutschlands und Österreichs noch nicht angekommen zu sein scheint. Und wofür standen die USA? Müssen einen nicht die Worte eines der größten katholischen Schriftsteller Großbritanniens, J. R. R. Tolkiens, des Schöpfers des „Herrn der Ringe“, nachdenklich stimmen, wonach ein Sieg des amerikanischen Kosmopolitismus für die Welt womöglich schlimmere Folgen zeitigen könnte als einer des Dritten Reiches?31 Man kann das Ringen des Zweiten Weltkrieges also auch ganz anders bewerten, als es unsere Medienöffentlichkeit tut.32 Und es war bemerkenswerterweise ein jüdischer Autor, welcher große Teile seiner Familie in der Shoah verloren hat, der die große Leistung der Soldaten der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg neutral und ohne moralische Wertungen hervorgehoben hat.33 

In den meisten deutschen Familien gibt es dabei noch lebendige Erzählungen, die vom Schicksal der Groß- oder Urgroßväter während der Feldzüge oder in Gefangenschaft, vom Schicksal der Vorfahren im Bombenkrieg der Alliierten oder von Flucht, Vertreibung und Heimatverlust erzählen. Es sind Opfer-Geschichten von Menschen, die Schweres in schwerer Zeit durchgemacht haben, von Ahnen, deren Schicksal die Enkel nach wie vor bewegt. Nicht umsonst gibt es etwa seit der Jahrtausendwende eine kleine Welle an Filmen, die sich mit solchen deutschen Opfern in Kriegsgefangenschaft, Bombenhagel und Vertreibung befaßt. Hier wird der Anknüpfungspunkt eines neuen Mythos liegen, der die deutschen Opfer und Verluste, den Überlebenswillen des deutschen Volkes und seinen erfolgreichen Neustart nach der „Stunde Null“ positiv würdigt – ganz unabhängig von der Ideologie, unter deren Vorzeichen dieser Krieg begonnen wurde. Und nur, wenn eine solche positive Bezugnahme gelingt, gewinnt das deutsche Volk, wie Lore Waldvogel unter Bezugnahme von C. G. Jung gezeigt hat, seine Zukunftsfähigkeit zurück.

Es ist jedoch nicht zu erwarten, daß der historische Mythos dabei stehenbleiben wird. Die Möglichkeit, die Opfer des Krieges in dieser Weise „neutral“ zu interpretieren und daraus einen positiven Gründungsmythos des westlich-demokratischen Deutschlands zu formen, ist von der BRD in den Jahrzehnten ihres Bestandes bewußt vernachlässigt worden. Im Gegenteil wurde und wird der Irrweg des Nationalsozialismus bis heute für die Rechtfertigung politischer Entwicklungen bemüht, die immer mehr Deutsche als falsch, gefährlich und identitätsbedrohend empfinden. Europaweit und sogar in den slawischen Ländern und in Rußland gilt der NS – heute immer noch für eine Minderheit – als ein gescheiterter, kompromißloser, letztlich aber doch entschiedener Versuch der Selbstbehauptung Europas gegen die internationalen Großmächte in West und Ost. Natürlich ist es einfach, die Irrtümer dieser Interpretation aufzuzeigen: Europäisch war der NS schon allein durch seinen antislawischen Rassismus nicht, auch nicht, wenn in Wehrmacht und Waffen-SS vielfach anders gedacht wurde. Und genauso wenig läßt sich der exterminatorische Rassenantisemitismus aus dem kulturellen oder geistigen Erbe des alten Europa herleiten. Nach innen gerichtet hat sich der Nationalsozialismus in Deutschland wiederum als entschiedene Kraft der Modernisierung erwiesen, die sich unter anderem anschickte, regionale Identitäten durch ihren totalitären Kulturanspruch ebenso zu nivellieren, wie sie im Gegensatz zu der christlich-religiösen, aber auch aus Aufklärung und Klassik stammenden deutschen Kulturtradition stand. 

Die Attraktion, die der NS ausübte und die ihm solch immensen Zulauf, gerade unter idealistischen gesinnten Deutschen, verschaffte, lag aber unter anderem darin, daß er es vermochte, mit seinen Liedern, Aufmärschen, politischen Inszenierungen und seiner mythenträchtigen Bildsprache, unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts und einer modernen Medienlandschaft, Masse in Volk zurückzuverwandeln und Identität zu schaffen. Am schönsten und „modernsten“ wird dieses Gemeinschaftserlebnis in einem völlig unpolitischen Lied deutlich, das die Nationalsozialisten nie gesungen haben, sondern das für den amerikanischen Film „Cabaret“ entstand und das trotzdem – oder eben deswegen – die Faszination nachvollziehbar macht, welche diese Ideologie im Deutschland der 1930er Jahre zu entfalten vermochte: „Tomorrow belongs to me“. 

All die nationalsozialistischen Lieder, Aufmärsche und politischen Rituale, die Filme einer Leni Riefenstahl und die bewegenden Bilder des großen Krieges sind heute auf YouTube abrufbar und werden von Hundertausenden Menschen gesehen. Eben weil das heutige Deutschland und die politische Führung der EU sich dadurch legitimieren, daß sie ihr Handeln aus einer Negation des nationalsozialistischen Weltbildes ableiten, halten sie die Attraktion des NS als Gegenbild zur heutigen Politik aufrecht. Gerade auch die Verfemung, Stigmatisierung und die angesichts des Internets unwirksam gewordenen Verbotsgesetzte befördern die Faszination, welche diese Ideologie auch heute noch auf viele auszuüben vermag.

Daher ist es durchaus wahrscheinlich, daß der neue nationale Mythos nicht bloß „neutral“ an Leistung und Leid des deutschen Volkes im Zweiten Weltkrieg anknüpft, sondern – womöglich europaweit – eine positive Neuinterpretation der Person Hitlers und des Nationalsozialismus miteinschließt. Wie wir oben gezeigt haben, müssen solche historischen Mythen nicht viel mit der geschichtlichen Wahrheit zu tun haben, es kommt auf ihre Bedeutung und Aussage für die Gegenwart an. Auch ein radikaler Umschlag des Geschichtsbildes ist daher in naher Zukunft denkbar. 

Europas Identität

Europa wird jedoch nur ein Europa im europäischen Sinne bleiben können, wenn es die durch die Massenzuwanderung hervorgerufene Gefährdung seiner Identität auch in europäisch-abendländischer Weise, im Sinne des christlich-humanistischen Erbes dieses Kontinents, löst. Tut es dies nicht, verliert Europa ebenso, wenngleich auf andere Weise, seine Identität. Wenn die christlichen Kirchen des Westens im Unterschied zu jenen Osteuropas fortfahren, sich zu Handlangern der antiidentitären Zersetzungspropaganda zu machen und dabei die eigentliche Botschaft Christi bis zur Unkenntlichkeit verdrehen und verfremden, verlieren wir allerdings die stärkste geistige Kraft, die für einen solchen wahrhaft europäischen Weg stehen könnte. Daß die europäischen Völker wieder, wie im 19. und frühen 20. Jahrhundert gegeneinanderstehen, anstatt gemeinsam ihre Kultur und Identität zu bewahren, ist eine weitere reale Gefahr, die durch das aktuelle Handeln der EU befördert wird. 

Ein neuer historischer Mythos, der die Deutschen mit ihrer tausendjährigen Geschichte verbindet und an den Existenzkampf dieses Volkes im Zweiten Weltkrieg anknüpft, wird wohl mit Sicherheit kommen. Vielleicht erst, wenn es zu spät ist, unser Volk zur Minderheit im eigenen Land wurde und der Weg ins historische Erlöschen vorgezeichnet scheint. Vielleicht auch noch rechtzeitig, um die Kräfte des Selbsterhalts zu entfesseln. Das Pendel wird umschlagen und alle heuten „Gewißheiten“, genauso wie das bestehende politische System hinwegfegen. Welches Gefahrenpotential diese Entwicklung in sich birgt, sollte in diesem Beitrag nicht verschwiegen werden. Daß es soweit kommen konnte, liegt allein in der Verantwortung der gegenwärtig Mächtigen.

Anmerkungen

1 Eugen Kotte, Not to have ideologies but to be one. Die Gründungsgeschichte der USA in amerikanischen Schulgeschichtsbüchern, Hannover 1997.

2 Robert Michels, Patriotismus. Prolegomena zu seiner soziologischen Analyse, München 1929, S. 7.

3 Am besten zusammengefaßt hat den mythischen Begriff der Nation: Kurt Hübner, Mythos und Politik. – In: Bernhard Willms (Hg.) Handbuch zur deutschen Nation, Band III, Tübingen 1988, S. 276–281.

4 Kurt Hübner, Das Nationale, Graz 1991, S. 278–291.

5 Étienne Franҫois und Hagen Schulze, Das emotionale Fundament der Nationen. – In: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, München 2001, S. 17–33.

6 Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen (Aus Wilhelm Meisters Wanderjahren), Nr. 682 nach der Zählung von Max Hecker.

7 Ebd., S. 27.

8 Ernest Renan, Was ist eine Nation? Zit. nach: Michael Jeißmann, Henning Ritter (Hg.), Grenzfälle. Über alten und neuen Nationalismus, Leipzig 1993, S. 18.

9 Étienne Franҫois und Hagen Schulze, 2001, S. 22.

10 Étienne Franҫois und Hagen Schulze 2001, S. 21.

11 Karlheinz Weißmann 2001, S. 83.

12 Gustav Freytag, Der Kronprinz und die deutsche Kaiserkrone, Leipzig 1888, S. 118.

13 Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, S. 61.

14 Ebd., S. 88 f.

15 Ebd., S. 88 f.

16 Ebd., S. 85 f.

17 Ebd., S. 15.

18 So z. B. Karl Kerenyi, Wesen und Gegenwärtigkeit des Mythos. – In: Ders. (Hg.), Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos, Darmstadt 1967.

19 Klaus von See, Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg 1994, S. 63 ff.

20 Kurt Hübner 1985, S. 278.

21 Zitiert nach Peter Dürrmann, Heimat und Identität. Der moderne Mensch auf der Suche nach Geborgenheit, Tübingen 1994, S. 70 f.

22 Spiegel, 28/1987.

23 FAZ, 18. Februar 1989.

24 Zitiert nach der Thüringischen Landeszeitung, 14. April 2008.

25 Weißmann 2001, S. 13.

26 Herfried Münkler, S. 484.

27 Herfried Münkler, S 457.

28 Ebd., S. 483.

29 In diesem Wertewandel geht es um die Auflösung aller religiöser, ethnischer, nationaler, regionaler, familiärer und sexueller Identitäten. Mehr dazu unter anderem in meinem Beitrag „Vorsicht Wertewandel!“ in der NO III/2015 oder bei Paul Gottfried, Multikulturalismus und die Politik der Schuld. Unterwegs zum manipulativen Staat?, 222 Seiten, Hc., Ares Verlag, € 19,90

30 Elisabeth Noelle-Neumann, Renate Köcher 1987, S. 60 und Elisabeth Noelle-Neumann, Wir sind Volk. Was die Deutschen zusammenhält. Eine Dokumentation des Beitrags in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Nr. 214 vom 15. September 1999, Tab. A7.

31 J. R. R. Tolkien in einem Brief an seinen Sohn Christopher vom 9. Dezember 1943. J. R. R. Tolkien, Briefe, herausgegeben von Humphrey Carpenter, 611 Seiten, gebunden, Klett-Cotta, 3. Auflage 2002, S. 89.

32 Es würde den Rahmen dieser Abhandlung sprengen, diese Frage zu vertiefen, die nicht in ein paar Sätzen abgetan werden kann. Auch wenn der Zweite Weltkrieg, wie hier angedeutet, anders gesehen werden kann, als dies massenmedial heute geschieht, würde dies ebensowenig die europaweite Verfolgung der Juden noch die Versklavungsintentionen im Osten mit ihren Hekatomben an unschuldigen Opfern rechtfertigen oder auch nur relativieren. Eine Neuinterpretation des Zweiten Weltkrieges müßte die Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf allen Seiten mit gleichem Maßstab messen und gleichzeitig die politischen Ziele, aber auch Möglichkeiten der einzelnen Kriegsteilnehmer in die Gesamtsicht integrieren. Dies ist eine Aufgabe für eine gesamte Historikergeneration und kann nicht einmal ansatzweise in einem solchen Artikel angemessen geleistet werden. Mythen, wie die öffentliche Meinung insgesamt, prägt aber ein eher holzschnittartiges, relativ grobes Geschichtsbild mit klarer Gut-Böse-Verteilung. Damit können sie niemals der differenzierten Schau des Historikers gerecht werden. Insbesondere im Falle des Zweiten Weltkrieges, wo aus christlich-europäischer Sicht keine der drei entscheidenden Kriegsparteien uneingeschränkt positive Ziele verfocht und alle schwere Schuld auf sich geladen haben, ist eine solche Wertung schon für den Historiker nur schwer vorzunehmen. Zu einer weit ausgewogeneren Sichtweise auf den Krieg und die beteiligten Regime wird die Historiographie aber im Laufe der Zeit mit Sicherheit kommen.

33 Martin van Creveld, Kampfkraft. Militärische Organisation und Leistung der deutschen und amerikanischen Armee 1939–1945, 5. Auflage, 216 Seiten, s/w Abb., Hc., Ares Verlag, € 19,90.

 
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