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Abendländisches Vermächtnis

Christlicher Glaube und europäische Kultur

 
Ein Meisterwerk ist anzuzeigen: Vor wenigen Monaten erst erschienen, liegt Jörg Lausters umfassender Versuch einer Sinngeschichte des Christentums, von den Anfängen bis zur Gegenwart, jetzt schon in der 3. Auflage vor. Über 2000 Jahre spürt der Autor der geistigen Weltdurchdringung des Christentums, der Entfaltung seiner Glaubenswahrheit und deren Gestaltenreichtum nach.

Von Wolfgang Saur
 

Diesen Erfolg spiegeln die zahlreichen Rezensionen wider. Geht man sie durch, zeigt sich eine seltene Einmütigkeit des Lobs. Fast niemand scheint sich dem literarischen Charme und der stupenden Gelehrsamkeit des erstaunlichen Buchs entziehen zu können. 

Schon das Signalwort „Verzauberung“ benennt sein Programm, weist es doch auf zwei gegenläufige Geschichtstheorien hin: auf Max Webers Rationalisierungsthese1 ebenso wie auf die romantische Umkehr zu Sinn und Religion. „Wo keine Götter sind, walten Gespenster“, prophezeite einst Novalis in seinem prominenten Traktat „Die Christenheit und Europa“ (1799). Denn: Allein die Religion vermag die „Heiligkeit der Natur, die Unendlichkeit der Kunst, die Notwendigkeit des Wissens, die Achtung des Weltlichen, und die Allgegenwart des wahrhaft Geschichtlichen“ zu fördern. „Es ist der Christusglaube“ kommentiert Lauster, „der die einseitige Rationalisierung als Entzauberung und Entleerung der Welt aufhebt und wahre Humanität schafft.“ (475) 

Religion und Glaube sind aus der modernen Welt nicht verschwunden, sondern (nach wie vor oder wieder neu) tausendfältig anwesend. Das bricht den selbstgefälligen Säkularismus, ermöglicht aber auch, christliche Wahrheit in Geschichte und Gegenwart neu zu lesen: nicht als notwendigen „Verfall“ (oder umgekehrt als profanen „Progress“), vielmehr je als Bruch und Kontinuität. 

Lausters Kulturgeschichte des Christentums versteht sich deshalb als ein hermeneutisches Projekt, angesiedelt zwischen einem vor- oder gegenmodernen kirchlichen „Triumphalismus“ einerseits wie einem dogmatischen Skeptizismus andererseits. „Eine Kulturgeschichte des Christentums ist […] der Versuch, seine kulturelle Erscheinungsvielfalt besser zu verstehen. Die christliche Religion setzt sich aus einer Vielfalt von Motiven, Themen und kulturellen Erscheinungsformen zusammen, deren Sinn es zu verstehen gilt. Daher ist die kulturgeschichtliche Perspektive auch kein theologisches Sakrileg, sondern ein Gewinn.“ (14) 

Ein Gewinn auch deshalb, weil glückliche Faktoren beim vorliegenden Projekt zusammenwirken: Der Autor ist als Gelehrter seinem Gegenstand vollkommen gewachsen; er hat die riesige Materie souverän bemeistert; im einzelnen gegliedert, dem Ganzen eingefügt; er hat überlegen gerafft, gedehnt, pointiert, zusammengefasst und scharfsinnig geurteilt. Vor allem legt er einen Text vor, der ausgezeichnet geschrieben ist. Lauster weiß sich dabei in der Spur großer Vorgänger wie Jacob Burckhardt oder Johan Huizinga und kann vor ihnen bestehen. 

Kommt hinzu, daß er die kreativen Potentiale beider Hauptströme der lateinischen Kirche in sich vereinigt: als evangelischer Theologe schöpft er aus Idealismus, Kulturprotestantismus und liberaler Theologie; zugleich beweist er ein selten tiefes Verständnis für „katholische“ Prinzipien wie die Universalität des Glaubens, für Überlieferung und Tradition, die institutionellen Formen von Religion und Wissenschaft, für Symbolik, Heiligkeit und Sakramentsbezug. 

Den großen Altvorderen der Disziplin verbunden

Jörg Lauster (*1966) studierte evangelische Theologie, Philosophie und Romanistik (1987–93) und promovierte über die „Erlösungslehre Marsilio Ficinos“2 1996. Die Habilitation erfolgte 2002 zum Thema: „Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips von Schleiermacher bis zur Gegenwart“3. Danach versah Jörg Lauster von 2006–15 eine Professur für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Philipps-Universität Marburg. Zum gegenwärtigen WS 2015/16 wechselte er auf den Lehrstuhl für Dogmatik, Religionsphilosophie und Ökumene (der Ev.-Theologischen Fakultät) der Ludwig-Maximilians-Universität München. 

Neben Buchpublikationen veröffentlicht der Autor zahlreiche Aufsätze zu den Themenkreisen Religion und religiöse Erfahrung, zur Hermeneutik und über Kunst. 

Was die großen Altvorderen der Disziplin angeht, so ist er, neben Rudolf Bultmann und Paul Tillich, besonders Rudolf Otto und dessen Beschwörung des Heiligen4 verbunden. 

Hier wurzelt auch seine Nachbarschaft zur Religionswissenschaft, zumal ihren klassischen Vertretern wie Geradus van der Leeuw, Mircea Eliade, Geo Widengren, Friedrich Heiler oder eben Otto. In ihrem Sinn hatte Nathan Söderblom einer ganzen Epoche das Konzept vorgegeben: „Heiligkeit ist das bestimmende Wort in der Religion; es ist sogar noch wesentlicher als der Begriff Gott. Die wahre Religion kann ohne bestimmte Auffassung von der Gottheit bestehen, aber es gibt keine echte Religion ohne Unterscheidung zwischen ‚heilig‘ und ‚profan‘.“5 

Im Ursprung stehen, so hebt Lausters Studie an, Jesu Leben und Wirken; dann Tod und Auferstehung. Doch „was Jesus predigte und was das Christentum glaubt, ist nicht dasselbe. Dazwischen liegt eine beachtliche Metamorphose. […] Kontinuität und Bruch sind zwei Seiten einer Medaille. […] Das Geheimnis des Anfangs ist die Transformation der Person Jesu zu Christus. Die Geschichte des Christentums lebt von dieser Transformation, sie ist als Ganzes der fortgesetzte Versuch, mit allen kulturellen Ausdrucksformen die Spannung, zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Christentums, zu halten. Dies ist eine Aufgabe, mit der das Christentum in seiner Geschichte nie fertig werden kann.“ (34 f.) 

Das Christusereignis ließ die Urgemeinde den „Einbruch göttlicher Transzendenz“ erfahren. Deshalb ist „die treibende Kraft in der Gestaltwerdung des frühen Christentums die Autorität des Heiligen“. (37) 

Aus der Fülle dieser Ursprungserfahrung sollten den späteren Protestanten die heilige Schrift, den Katholiken das sakramentale Leben und den Orthodoxen die Liturgie teuer werden (88); sollten sich (protestantische) Kulturen des Ohres und (katholische) Kulturen des Auges entwickeln (364); sollten die Figur des (katholischen) Priesters und die des (evangelischen) Predigers hervorgehen. 

Das Zentralsymbol dieses Wahrheitsgeschehens war und ist das Kreuz, nicht zuletzt als Lebensbaum und kosmische Integration. Die Inkarnation vollendet die Logik der religiösen Symbole, heilgeschichtlich und theologisch.

„Religion“ hat der Mensch, weil er nicht bei Gott ist: mythisch bezeugt sie seinen innersten Zustand nach der Paradiesesvertreibung. Und sie bezeugt historisch den Zustand der Gemeinde nach der Auferstehung und in der Erwartung von Jesu Wiederkehr, der Hoffnung auf das Kommen des Gottesreichs. Christliche Kultur entspringt also existentiellem Verlustgefühl und eschatologischer Hoffnung: sie ist ein Produkt der Parusieverzögerung

Zügig stellt Lauster die Entwicklungen der ersten drei Jahrhunderte dar. „Drei große Krisen beschäftigten das Christentum in dieser Phase. Der Ablösungsprozess von den jüdischen Ursprüngen; [die] Auseinandersetzung mit der Gnosis [und mit dem] montanistischen Prophetismus […]“ (50)

Traditionslinien des Deutschen Idealismus, der hermeneutischen Tradition und der Dilthey-Schule

Man kann in der Auseinandersetzung mit dem gnostischen Dualismus, seinem verzweifelten Weltgefühl und seiner Daseinsangst, seiner Erlösungslehre eine wichtige Konfrontation erkennen, standen doch Grundfragen von Leben und Schöpfung auf dem Spiel. „Dem gnostischen Kampf zwischen Licht und Finsternis trat in der christlichen Ablehnung ein anderes Welterleben entgegen, denn durch all ihre Widersprüche und unbestreitbaren Sinnlosigkeiten hindurch wird die Welt als in ihrem letzten und tiefen Grund als etwas dennoch Bejahenswertes erfahren. Die Welt selbst ist die Form, in der sich der göttliche Wille der Welt zuwendet. […] In der Abkehr von den Verlockungen der Gnosis streifte das Christentum die ihm selbst innewohnende Weltverneinung ab, es erfuhr die Welt als etwas Sinnvolles. In der Überwindung der Gnosis nahm eine tragende Form christlichen Welterlebens Gestalt an, ein ‚kosmisches Gefühl‘, das eine ‚Daseinsbereitschaft‘ erzeugte.“ (54) 

Dies eine der Zentralstellen des Buchs: Der Autor urteilt nicht nur historisch, er spricht auch sich selber Mut zu. Begründet diese theologische Differenz doch erst die produktive Möglichkeit intensiver Geschichtsschau und Kulturdeutung. Denn: Ohne solch konstitutiven Optimismus wäre das Projekt einer Entfaltungsgeschichte des Christentums kaum zu leisten. 

Ihn braucht der Gelehrte, der als kritischer Sinnversteher sich nicht scheut, auch auf die dunklen Seiten dieser Geschichte einzugehen: Ketzerverfolgung, Kreuzzüge, Inquisition, Hexenverfolgung, Mission, Eroberung und Kolonialisierung, bis hin zu Sklaverei und die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. 

Freilich liegt die subtilere Gefahr in einer perspektivischen „Herrschaft des Verdachts“, deren „ideologiekritische“ (Vor-)Urteilsmuster schnell die historische Materie kontaminieren. Sind doch in den letzten Jahrzehnten zahllose Dekonstruktionen unterschiedlichster Provenienz durch die Humanwissenschaften gefegt. 

Desto überraschener Lausters Herkunft aus den Traditionslinien des Deutschen Idealismus, der hermeneutischen Tradition und der Dilthey-Schule. Sein Werk nimmt gewissermaßen das große Geschäft der idealistischen Geschichtskunde wieder auf: indem es zeigt, daß die geschichtlichen Paradigmen (Konzilien, gotischer Kathedralbau als „gebaute Theologie“, reformatorischer Aufbruch, katholisches Barockpathos usw.) im wesentlichen wahr sind. 

Also gilt es, Geschichte weder abzuschaffen noch zu zerbröseln. Vielmehr muß sie nachvollzogen, rekonstruiert werden. Von da aus leistet Lauster das Verstehen zahlreicher Themen, deren positive Würdigung bei einem heutigen Fachmann man nicht ohne weiteres erwartet: so der scholastischen Denkform, der Ablaßpraxis, des theosophischen Platonismus der Florentiner Akademie oder der Barockkunst (Petersdom, Rubens/Rembrandt). Sein Buch gewinnt seine Vielstimmigkeit nicht nur über ein gewaltiges Themenspektrum (Kunst, Literatur, Musik, Theologie, Politik); es erarbeitet seine Gegenstände zudem energisch interdisziplinär.

Die religiösen Wurzeln sozialer und ästhetischer Formen werden freigelegt

Die Sicht aufs Ganze vollzieht der Autor, indem er selbst auf konkrete Synthesen aufmerksam macht: von Kirche und Volksfrömmigkeit, von frommer Demut und intellektueller Analyse, von Glauben und bildlichem Ausdruck. Das Modell dafür liegt schon bei den griechischen Vätern, die Jerusalem und Athen verbanden, Logos und Pistis verschmolzen. Dieser große Elan, diese emphatische Anknüpfung an den platonischen Logosbegriff, der als „göttliches Ordnungsprinzip die ganze Welt durchdringt“ (117), erlaubt dem Autor, seine dichte Sinngeschichte meisterhaft zu erzählen, aus Bausteinen ein Ganzes zu bilden. 

Wohltuend dabei seine katholische Intuition; so exemplarisch beim Urteil zum Universalienstreit. Dabei „ging es nicht einfach darum, ob die platonische Auffassung von einer eigenständigen ontologischen Realität der Ideen gegenüber einer vermeintlich aristotelischen Auffassung Recht behält, die die Ideen bestenfalls als formgebendes Prinzip in den Erscheinungsdingen am Werke sieht oder diese in der radikaleren Fassung des Nominalismus ganz bestreitet. Vielmehr stand zur Debatte, ob die sichtbare Wirklichkeit die Erscheinungsform einer höheren Ordnung ist, an der unsere Vernunft mit Begriffen partizipieren kann, oder ob menschliche Begriffe bloße Abstraktionen sind, die allein Regeln sprachlicher Übereinkunft gehorchen und darüber hinaus keine Urteile über das zulassen, was Wirklichkeit ist. […] Das nachmetaphysische Abendland unserer Tage stellt im Gegensatz zur philosophischen Tradition des Mittelalters aus Ermüdung und Erschöpfung diese Fragen nicht mehr; beantwortet sind sie deshalb noch lange nicht.“ (229) 

Dieses metaphysische Grundmotiv tritt im Buch immer wieder auf; so etwa „anwendungspraktisch“ bei Marsilio Ficino im Kommentar von dessen Theologia Platonica: „Ficino macht daraus6 eine tatkräftige Theorie der Kultur. Denn Kultur ist die Verwirklichung der göttlichen Ideen in der Welt und besonders begnadet gelingt dies dort, wo herausragend inspirierte Menschen […] diese Ideen erkennen und umsetzen. Ficinos Kulturtheorie ist so zugleich auch die Geburt des modernen Geniebegriffs, der sich dem Gedanken göttlicher Eingebung verdankt.“ (258) 

Von daher nimmt sich der Autor auch die Freiheit zur Einbeziehung gelehrter Klassiker wie Henry Thode (Franziskus, Giotto)7 oder Herman Grimm (Michelangelo)8; zeigen sich ältere Autoren dem Kunstschönen als „Äquivalent einer Gottesschau“ gegenüber doch oftmals aufgeschlossener als heutige. In diesem Zusammenhang9 heißt es: „Die Geschichte der Michelangelo-Biografien ist ein interessantes Kapitel der Kunst-, aber auch der Kultur- und Religionsgeschichtsschreibung, denn sie spiegelt die Interessenlagen wider, mit denen man an Michelangelo herantrat. Liest man die Biografien unserer Tage und vergleicht sie mit den Werken des 19. Jahrhunderts, dann wird deutlich, wie viele Illusionen über den Menschen und die Kultur das 20. Jahrhundert geraubt hat. Ähnlich wie man heute bei Giotto die technische, naturwissenschaftliche und auch ökonomische Seite seines Wirkens in den Vordergrund stellt […], wird auch Michelangelo ‚entmythologisiert‘. Während Herman Grimm […] in Michelangelo das Genie ehrte, richtet sich heute der Blick auf seine maßlose ‚Geldgier‘ und seine unterdrückte Homosexualität als Motivationsgründe seiner Kunst. Dieser Perspektivwechsel sagt mehr über unsere Zeit als über Michelangelo selbst […].“ (276 f.) 

Auch im Gotik-Kapitel prüft der Autor eingehend zahlreiche „ideologiekritische“ und „dekonstruktive“ Argumente, um trotz allem zu schließen: „Dies alles ist wahr, tatsächlich brachten ehrgeizige Kathedralpläne Not über die Bevölkerung, tatsächlich standen dahinter oftmals recht irdische Motive menschlicher Ehr- und Ruhmsucht, und doch zeigt sich in den Kathedralen auch die ganze Größe des christlichen Kirchenbaus. Von Menschenhänden gemacht, strahlen sie eine Erhabenheit aus, die die Absichten ihrer Erbauer um ein Vielfaches übersteigt.“ (236) 

So kommt eins zum anderen: Lauster legt die religiösen Wurzeln sozialer und ästhetischer Formen frei, wie etwa beim modernen Roman, dessen literarische Erfindung und poetologische Struktur „aus dem Geist der Puritaner“ (435–443) er raffiniert als modernes Lesemysterium deutet. (438) Um andererseits religionsgeschichtliche (Aus-)Wirkungen in den Grundlagen unserer wissenschaftlichen Zivilisation aufzuzeigen: Schon als sich bei Paulus und dann bei den griechischen Vätern eine christliche Theologie entwickelte, übernahmen diese die antiken Erklärungsmuster und Urteilsformen. Diese Linie verfolgt der Autor über die Scholastik, Anselm, die Renaissance bis hin zum Deutschen Idealismus. „Der doppelte Ursprung der christlichen Theologie in der antiken Philosophie und in der jüdischen Kommentartradition prägt die christliche Theologie bis heute.“ (62) Und weiter haben griechisches und christliches Denken logische und argumentative Rationalitätsstandards ins europäische Bewusstsein eingeführt (218); diese ermöglichten erst unser modernes Wissenssystem

Das diskursive Prinzip, den Glauben verstehend zu durchdringen, prägt als besonders wichtige Epochengestalt auch den Deutschen Idealismus: „Der deutsche Idealismus ist für die Kulturgeschichte des Christentums ein einsamer Gipfel […]. Nie wieder wurde eine ähnliche philosophische Durchdringung und Begründung des Christentums durchgeführt oder dies überhaupt nur versucht.“ (465) Deren Vertreter gaben sich „nicht mit der Einsicht in die Konstruktionsleistungen [des Geistes] im Aufbau der Wirklichkeit zufrieden, sondern fragten nach dem Woher dieser Kraft des menschlichen Denkens. Einig waren sie sich in der Annahme eines absoluten Grundes des menschlichen Bewußtseins. […] Zweitens führte die Einsicht […] zu der Idee, alles menschliche Wissen auf diesen Grund zu beziehen. Darauf folgte notwendigerweise die Suche nach einem System, dass alle menschlichen Wissensformen miteinander verbindet […]. Neben der Einsicht in die Kraft des menschlichen Geistes und den Systemgedanken war schließlich drittens das Interesse an einer Transformation des Christentums ein Grundmotiv des deutschen Idealismus.“ (ebd.) 

Das System des absoluten Geistes und das Modell der Dialektik von Säkularisierung und Glauben

Im deutsch-protestantischen Bereich hat dies zwei verschiedene Konzepte hervorgebracht: einmal das System des absoluten Geistes, als dessen Erfüller Hegel gelten mag. Lauster scheint dieser Tradition zu folgen, begegnet er Hegel doch mit rückhaltloser Bewunderung: „Hegel begreift die Wirklichkeit als Selbstbewegung des göttlichen Geistes. […] Die Wirklichkeit ist der aus sich heraustretende und über die Andersheit vermittelte, zu sich selbst zurückkehrende Geist.“ (469) Dessen Kritikern hält Lauster entgegen: „Spekulative Systeme […] finden heute wenig Gegenliebe. Man hält sie in der Attitüde postmoderner Denkfaulheit bestenfalls für Transzendentalbelletristik oder in vulgärskeptischen Anflügen für ungedeckte Schecks. Mit Vorwürfen dieser Art macht man es sich sehr einfach.“ (ebd.) 

Das Hegelsche Erbe freilich wird hier narrativ und historisch fruchtbar gemacht, der Systemanspruch zurückgesetzt. Diese kulturtheoretische Transformation wurzelt schon im Historismus, dann bei Dilthey. Bemerkenswert ist freilich, daß Lauster an einer „Metaphysik der Kultur“ (470) festhält, besteht er doch darauf, seine Rekonstruktion der individuellen Ideen und kulturellen Ausdrucksformen einem „größeren Sinnzusammenhang“ zu integrieren. 

Zum zweiten Modell in der Dialektik von Säkularisierung und Glauben wurde das Konzept der Religion und Religiosität: als eines besonderen Zugangs zur Welt – in betonter Abgrenzung zu konkurrierenden „Symbolformen“10 wie Erkenntnis und Wissen, Ethik, Politik oder Kunst. In diese Richtung verweisen Schleiermacher und die Romantiker mit ihrer Ästhetisierung der Religion. 

Zahlreiche Motive und Themen romantischen Denkens, romantischer Dichtung und Kunst werden hier ausgebreitet und erörtert: Verlust, Heimweh, Sehnsucht nach dem Unendlichen, Sinnlosigkeit, Kunstfreude, Innerlichkeit u. a. m. Novalis, Wackenroder und Caspar David Friedrich stehen dabei im Vordergrund. 

Ein weiterer Hauptaspekt ist medialer Natur: er stellt die traditionelle Vorherrschaft von Begriff, Text und Buch in Frage und spricht Bildern eine womöglich größere Erschließungskraft und Deutungsfülle zu als dem Wort: so markant nachlesbar im 6. Kapitel, wo Lauster seine Darstellung Michelangelos mit einer Analyse der Sixtinischen Decke folgendermaßen abschließt: Sie gilt ihm als „Meilenstein in der religiösen Ausdruckskraft christlicher Kunst“. Denn „es ist eine theologische Meisterleistung, wie Michelangelo hier Schöpfung und Erlösung ineinanderfügt. Die Faszination geht nicht von theologischen Begriffen aus, sondern von der neuplatonisch inspirierten Strahlkraft einer Kunst, die das Geheimnis des Weltdramas und der Erlösung in religiösen Bildern weit machtvoller erzählt, als es Worte und Begriffe vermögen.“ (287 f.)11 

„Destabilisierung“ und „Fragilisierung“ weltanschaulicher Überzeugungen 

Säkularisierung, Revolution, Entchristianisierung müssen wir als weltgeschichtlichen Bruch sehen: Problematisierung, Individualisierung und Pluralisierung von Religion sind die langfristigen Folgen dieser Ereignisse. Setzt man den Grundzug einer modernen Epochengestalt mit Immanenzorientierung ohne Transzendenzbezug und Konflikte zwischen Atheismus und Religion voraus, kann man eine allgemeine „Destabilisierung“ und „Fragilisierung“ weltanschaulicher Überzeugungen beobachten. „Dies“, so Lauster, „bürdet dem Einzelnen ganz neue Lasten auf. Eine religiöse Haltung oder eine theologische Position muss in der Moderne – anders als in den Jahrhunderten zuvor – den Einzelnen überzeugen. Nach der Destabilisierung der Kirche und ihrer Lehren durch die Aufklärung konnte die ‚verlorene Eindeutigkeit‘ des Christentums nur in der Überzeugung der Einzelnen wiederhergestellt werden. Alle Haltungen, von der Sehnsucht nach dem vormodernen Christentum bis zur radikalen Ablehnung des Christentums, appellieren an diese Überzeugungsgewissheit. Die Zahl unterschiedlicher religiöser Haltungen vervielfältigt sich seitdem. Auch dort, wo sich erweckte Protestanten oder marienfromme Katholiken wünschen, dass alles beim Alten bleibt, ist nichts mehr, wie es vorher war, denn man muss nun mit Überzeugung wollen, dass alles beim Alten bleibt.“ (503) Das spielt auf Peter Bergers These vom „häretischen Imperativ“, also der Individualisierung als unausweichlichem Schicksal, an.12 

Weit entfernt, diesen modernen Individualismus zu preisen, gibt er ihm bezeichnenderweise eine pessimistische Wendung. Petrarcas Erfahrung kommentiert er so: „Woher kam dieser Aufbruch, der die Renaissance einleitete? […] Durch den Verlust metaphysischen Ordnung und politischen Stabilität und durch die Einsicht in die eigene Hinfälligkeit wurden der Mensch in jener Epoche auf sich selbst zurückgeworfen. Petrarcas Berufung auf das eigene Ich ist darum weit weniger triumphalistisch, als es den Anschein hat. In einem zerfließenden Weltgefüge bleibt allein das Ich, worauf sich der Mensch verlassen kann. […] Die kontinuierliche Besinnung des Menschen auf sich selbst seit dem 14. Jahrhundert war die Reaktion auf politische, soziale, kulturelle und religiöse Krisenphänomene der Epoche.“ (249 f.)

Produkte der schöpferischen Einbildungskraft erhalten bisweilen über ihre Wirkungsgeschichte das Prädikat der Klassizität. Lausters Sinn- und Kulturgeschichte verdient diesen Ehrentitel schon in der vorliegenden Form. Weil sie in einzigartiger Weise einen an sich unabsehbaren Stoff überlegen objektiviert und gestaltet hat. Das schenkt dem Lesenden eine seltene Klarsicht der Erscheinungen. 

Skeptisch beobachtet der Autor schließlich den Knoten der Gegenwart, der – von Radikalismus und Vereinseitigung bestimmt – zweifach auseinandergehe: christlich „als Traditionalismus in Osteuropa oder als Fundamentalismus in anderen Erdteilen“ (610) und atheistisch als „säkulare Option“ (Charles Taylor), die die „Aufkündigung aller Transzendenzbezüge“ (611) propagiere. 

Dennoch schließt Lausters Werk verhalten optimistisch: Es sei ein Mißgriff heutiger Debatten, Entdogmatisierung und Entinstitutionalisierung mit „Entchristianisierung“ zu verwechseln. (616), warteten doch „ungeahnte Möglichkeiten, das christliche Welterleben zu bereichern“. (617) Weil das Christentum nur mit der Fülle seiner Erscheinungsformen […] identisch sein könne, sei eine „Kulturgeschichte des Christentums als eine fortwährende Anreicherung in dem Versuch zu begreifen, den Überschuss des christlichen Welterlebens kulturell zu artikulieren und als Verzauberung der Welt weiterzugeben“. (ebd.)

Anmerkungen

1 Dazu Max Webers Stichwort und Geschichtstheorie der „Entzauberung“.

2 Die Erlösungslehre Marsilio Ficinos: theologiegeschichtliche Aspekte des Renaissanceplatonismus. Berlin 1998.

3 Tübingen 2004.

4 Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Breslau 1917.

5 Nathan Söderblom: Das Heilige (1913); wiederabgedruckt in: Carsten Colpe (Hrg.): Die Diskussion um das Heilige. Darmstadt 1977; 76–119.

6 Aus der anthropologischen Seelenlehre Platos.

7 Henry Thode: Franz von Assisi und die Anfänge der Kunst der Renaissance in Italien. Berlin 1885.

8 Herman Grimm: Leben Michelangelos. Hannover 1868.

9 Vgl. das Kapitel: Die Religion Michelangelos, 276–93.

10 „Symbolische Formen“ im Sinne Ernst Cassirers. Vgl. E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Bde. 1–3; Berlin u. Oxford 1923–29, und ders.: Versuch über den Menschen. (1944) Frankfurt/M. 1990.

11 Für die Symbolik als eine universelle und (im Unterschied zum rationalen Begriff) nicht-reduktive Bildersprache haben sich unermüdlich eingesetzt, in Europa: C. G. Jung: Der Mensch und seine Symbole. Olten 1968; in den USA: Joseph Campbell: Die Botschaft der Mythen. Zürich/München 1994; in Deutschland: Manfred Lurker: Die Botschaft der Symbole. In Mythen, Kulturen und Religionen. München 1990 und Wörterbuch der Symbolik. Stuttgart 1991; von religionskundlicher Seite her: Mircea Eliade: Ewige Bilder und Sinnbilder. Olten 1958.

12 Peter L. Berger: Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft. Frankfurt/M. 1980.

 
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