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Notwendigkeit Nationalstaat

Von Claus Wolfschlag

Die Barriere gegen europäische Entdemokratisierung und Entsolidarisierung

„Der Nationalstaat ist tot“ verkündete Philip Stein unlängst in der „Neuen Ordnung“ (2/14). Doch die angebotene Alternative schmeckt leider abgestanden. Stein steht als Mitarbeiter der Jugendzeitschrift „Blaue Narzisse“ mitnichten im Verdacht, sein Fähnchen opportunistisch nach dem Zeitgeist zu hängen. Gleichwohl scheint seine Argumentation unbewußt von jenem beeinflußt. Die nun schon seit Jahrzehnten von Politik und Leitmedien propagierte Europa-Euphorie, von der real in der Bevölkerung nicht viel zu spüren ist, hinterlässt bisweilen Zermürbungsspuren und Blicktrübungen. Der Nationalstaat nämlich ist keinesfalls tot. Wäre er es, dann müßte man nicht immer so bemüht sein, sein Ende und das postnationale Zeitalter beschwören. Gleichwohl gibt es Kräfte, die ein Interesse an seiner Abschaffung haben.

Die Europa-Debatte wurde durch den Beitrag der Nationalratsabgeordneten Barbara Rosenkranz „Wie das Projekt EU Europa zerstört“ in der NO I/2014 angestoßen. Ihr erwiderte Philip Stein in seinem Artikel „Der Nationalstaat ist tot. Es lebe Europa“ in der NO II/2014, auf den hier wiederum Claus Wolfschlag repliziert. Die Debatte wird fortgesetzt.

Tot ist sicher die Vorstellung von einem Bund der europäischen Nationalstaaten als expansive politische Macht. Für einen Imperialismus und Kolonialismus im Stil des 19. Jahrhunderts sind die Einzelstaaten nicht mehr stark genug. Nicht tot ist der Nationalstaat allerdings als demokratische Institution und soziale Solidargemeinschaft. Gleich ob der Nationalstaat volklich oder jakobinisch begründet wurde, ohne ihn hätte es keine Konstitution eines Volkes als Souverän, somit keine moderne Demokratie gegeben. Überdimensionierte, universalistisch angelegte Staatsstrukturen werden hingegen immer einen real undemokratischen Charakter haben, da sich die Institutionen zu weit vom Volk entfernen. Eine solche faktische Diktatur ist im Auftreten auch durchaus sanft und seriös vorstellbar, ohne das militaristische Lametta untergegangener Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Hier agieren Lobbyisten und Schattenmänner in anonymen Strukturen, ungestört von einer Öffentlichkeit, zu der nur gefilterte Informationen durchsickern. Dort werden Verordnungen in einem Geflecht von Gremien beschlossen und von einer atomisierten Masse abgenickt, der jede Gemeinsamkeit und jeder gemeinschaftliche Wille abhanden gekommen ist. Die Ansätze dazu sind in den postdemokratischen Tendenzen der EU-Bürokratie bereits spürbar. Da Stein es als paradox wertet, wenn sich die Deutschen gegen Atomkraft entscheiden, die Polen jedoch dafür, muß man ihm antworten: So ist Demokratie. Was wäre gewonnen, wenn sich die Deutschen einer polnischen Mehrheit oder die Polen einer deutschen anschließen müssten, oder beide sich einer anonymen Bürokratie unterwerfen müßten, obwohl es nicht ihrem Willen entspräche? Zwar sind nationale Grenzen bei einem möglichen Kraftwerks-Gau kein Schutz, dennoch gibt die kleine Struktur immerhin die Freiheit, die Fehler von Nachbarn nicht mittragen und potenzieren zu müssen. Ganz im Gegenteil, je kleiner die Entscheidungsebene, umso größer ist die Möglichkeit, Fehlentscheidungen einen Riegel vorzuschieben. Aus diesem Grund sollte das strikte Subsidiaritätsprinzip Anwendung finden. Mehr Rechte gehören in die Ebene der Kommunen, der Länder bzw. Regionen. Der Nationalstaat wiederum hat die wichtige Funktion, das Gedeihen der nationalen Kultur sicherzustellen. Die Betonung der Region verweist darauf, daß hier nicht von einem jakobinischen Zentralstaat die Rede ist, sondern von einem organischen, föderalen Gebilde, das den verschiedenen Regionalidentitäten ihre Grenzen und Autonomien zuerkennt. Auf die europäische Ebene gehören allenfalls Institutionen zur zwischenstaatlichen Abstimmung eines gemeinsamen außenpolitischen Vorgehens.

Sozial geht nur national

Weiterhin ist aber auch der moderne Sozialstaat untrennbar mit dem Nationalstaat verbunden. Nur im Rahmen des Nationalstaats existiert eine für die Bürger nachvollziehbare Berechtigung zur Umverteilung ihrer Gelder, nämlich aus nationaler Solidarität. Je stärker der Nationalstaat ausgehöhlt wird, um so mehr schwindet die Akzeptanz des Sozialstaates, abgesehen vielleicht von jener Sentimentalität, die eine allgemeine „Mitmenschlichkeit“ beschwört, solange sie einen selbst nicht viel kostet. Trotz aller humanistischen Begleitmusik dürfte die Akzeptanz eines postnationalen Umverteilungsstaates also rasch schwinden und die Neigung zunehmen, den Zahlungen an als fremd empfundene Personengruppen auf fast jede nur erdenkliche Weise zu entgehen. Betrug, Schattenwirtschaft, Korruption und Haß werden wachsen. Die wirtschaftlichen Nutznießer werden sich freuen, das Profithemmnis abgeschafft und eine Gesellschaft des Gegeneinanders der Bevölkerungsgruppen erzeugt zu haben, in der der Überlebenskampf zur profitableren Ausbeutung von Arbeitskraft geführt hat. Vielleicht werden idealistische Reste der Sozialdemokratie dann posthum erschaudernd bemerken, welches Zerstörungswerk sie als kurzsichtige Marionetten mitgetragen haben.

Die EU ist und bleibt der Destruktion verschrieben

Wenn Philip Stein erklärt, daß die Brüsseler Eurokratie nicht in der Lage sei, „die wesentlichen, lebensnotwendigen und grundlegenden Probleme der europäischen Völker zu lösen“, dann deutet er damit an, daß er die EU als Institution eigentlich positiv bewertet, nur die bislang von den Brüsseler Eliten getätigte Politik nicht. Doch wie sollen Probleme innerhalb falscher Strukturen gelöst werden, die die Probleme miterzeugen? Sollen wir auf ein besseres Europa-Wahlergebnis im Jahr 2019 hoffen, bei dem vielleicht neue Parteien andere Mehrheiten erzielen? Sollen wir auf die Ausschüttung höherer Einsicht in die Köpfe der heutigen EU-Funktionäre hoffen? Wenn es den maßgeblichen EU-Eliten darum ginge, ein „Bollwerk gegen die aufstrebenden Schwellenländer“ aufzuziehen, „alte europäische Werte wieder aufleben“ zu lassen, die „traditionelle Familie“ zu bewahren oder dem „Aussterben vieler europäischer Völker“ entschieden entgegenzutreten, könnten sie das schon heute anpacken. Es ist allerdings blauäugig, nicht zu sehen, daß das Projekt EU gerade deshalb betrieben wird, um die von Stein genannten Probleme effektiver in entgegengesetzter Richtung vorantreiben zu können. Es geht um ein Fitmachen für die weltwirtschaftliche Verwertung der zunehmend mobileren EU-Bevölkerung. Dabei stören Bollwerke, traditionelle Familien und europäische Völker nur. Und „alte Werte“ präsentiert man höchstens gelegentlich aus Imagegründen bei Sonntagsreden.
Da sich Stein der realen Defizite bewußt ist, setzt er der realen Europäisierung ein europäisches Utopia entgegen. Er findet dies in antidemokratischen, teils faschistischen Geistern der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts. Er erwähnt Pierre Drieu la Rochelle, Oswald Mosley, Léon Degrelle. Es ist wie die Reise in eine längst vergangene Vergangenheit. Schließlich sind die damaligen Europa-Visionen nur in einer spezifischen historischen Lage entstanden, in der man im gemeinsamen Interesse den überlebten Nationalismus des Ersten Weltkriegs zu überwinden trachtete. Doch verkennt es nicht die heutige Lage, den Tod des Nationalstaates zu behaupten, obwohl man bei jeder Fußballmeisterschaft und jedem Streit während der Euro-Krise seine ungebrochene Lebendigkeit aufflackern sieht? Und ist es nicht ein vergebliches Unterfangen, eine europäische Lebendigkeit mit alten Namen zu beschwören, die kaum noch ein EU-Bürger kennt und deren ideologischer Hintergrund nur Ablehnung hervorrufen dürfte?
Zwar mag auch der Nationalstaat in Zeiten von Internet, Weltwirtschaft und Masseneinwanderung kein „sicherer Garant für die nationale Identität“ mehr sein, wie Stein richtig bemerkt. Gleichwohl ist er die bislang noch effektivste Hürde gegen diejenigen, die den Zug in Richtung Nivellierung und Globalisierung vorantreiben wollen. Er ist eine Basis für politischen Widerstand. Nicht grundlos wird auch deshalb seit Jahrzehnten sein Ende beschworen und von politischer Seite daran gearbeitet. Bricht man diesen Damm ab, wird nicht das Traumreich eines Drieu la Rochelle vom Himmel herniederschweben, sondern denjenigen, denen es um die Abschaffung von Demokratie, Sozialstaat und ethnischen Unterschieden geht, massiv Vorschub geleistet. Je größer und zentraler die Entscheidungsstruktur organisiert ist, um so umfassender und schneller lassen sich politische Pläne umsetzen, Profite erzeugen, haltlos gewordene Widerstandsnester bekämpfen.

Barrieren gegen nivellierende Universalismen

An der gegenwärtigen geistigen Krise Europas sind mitnichten die Nationalstaaten schuld, sondern ein Ungeist der Destruktion, der seine ideologischen Wurzeln in diversen Universalismen hat. Die Schaffung einer europäischen Staatsstruktur würde diesem Ungeist nur eine barrierefreie Spielfläche ermöglichen, das Problem also verstärken, bis hin zu latent diktatorischen, bestenfalls scheindemokratischen Verhältnissen. Ein europäischer Bundesstaat dürfte wahrscheinlich der Totengräber der europäischen Volkskulturen werden. Jenseits einheitlicher Verordnungen, die das Alltagsleben aller Europäer prägen werden, würden nur noch folkloristische Nischen übrig bleiben.
Sehr treffend hat der Publizist Manfred Kleine-Hartlage die „Entdemokratisierung durch Supranationalisierung“ in seinem Buch „Die liberale Gesellschaft und ihr Ende“ auf den Punkt gebracht: „Die weithin propagierte Vorstellung, wonach die Übertragung von Kompetenzen an UNO und EU sozusagen per se etwas Gutes sei, weil dadurch doch der Frieden (…) und dergleichen gefördert wurden, ist vor diesem Hintergrund unschwer als ideologische Begleitmusik eines Prozesses der systematischen Entdemokratisierung, der Entmündigung von Völkern und Bürgern zu durchschauen.“ (S. 198) Ein europäischer Bundesstaat ist vermutlich nur ein Etappenziel auf dem Weg zum Weltstaat oder gar zu einem Zukunftsmensch „ohne Rasse, ohne Klasse, ohne Geschlecht“, wie Norbert Borrmann ihn in seiner Schrift „Die große Gleichschaltung“ beschreibt.
Gegen nivellierende Universalismen, ob sie nun christlich, humanitär, kapitalistisch marxistisch oder gar faschistisch begründet werden, helfen nur sinnvolle Barrieren. Der Nationalstaat ist eine dieser wichtigen Barrieren. Und er ist der beste Garant für Demokratie und Sozialstaat.

 
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