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Gleichgeburt statt Jungfrauengeburt?

Von Holger Schleip

Religion und emanzipatorische Pseudo-Religion

Was haben Gender Mainstreaming, Antirassismus und die UN-Behindertenrechtskonvention gemein? Sie dienen dem Ziel, durch Chancengleichheit die Welt von Ungerechtigkeit zu erlösen. Dieses Ziel ist um so realistischer, je gleicher die Menschen geboren werden. Deswegen werden angeborene Unterschiede entweder geleugnet (so beim IQ) oder kleingeredet – etwa in dem „Rasse“ durch „Hautfarbe“ ersetzt wird oder „Geschlecht“ in angeblich unwesentliches „biologisches Geschlecht“ und angeblich davon weitgehend unabhängiges und viel wichtigeres „soziales Geschlecht“ aufgespalten wird. Dies erklärt die Inbrunst des religionsähnlich anmutenden, jedoch im Kern eher einen Gegenpol zu Religion darstellenden, emanzipatorischen Glaubens an die Gleichgeburt der Menschen.

Dieses freudige Ereignis ging durch die Presse: Im September 2013 wurde in Berlin-Neukölln im Rahmen einer Hausgeburt ein Kind entbunden — allerdings nicht von der Mutter, sondern vom Vater, jedenfalls sah das Standesamt dies so.
Genderistisch ein Fortschritt, medizinisch kein Wunder, sprachlich allerdings ungewohnt: Solche Mütteriche sind „Transmänner“, d. h. „Sex“ zwar weiblich, aber „Gender“ männlich — als „sie“ geboren, aber amtlich zu „er“ umdeklariert. Aufgrund ihres weiblich gebliebenen Körpers können solche Wanderer zwischen zwei Geschlechtern schwanger werden und gebären. Wobei eine Schwängerung nach wie vor partnerschaftliche Mitwirkung erfordert — entweder eines künftigen Vaters (eines „Cismannes“, d. h. Sex und Gender männlich) oder einer künftigen Väterin (einer „Transfrau“, d. h. Sex männlich, Gender aber weiblich).
Solche Ereignisse legen nahe zu kommentieren: „Frau bleibt eben Frau, und Mann bleibt Mann, und Gender-Sprech Unfug.“ Dem mag ja so sein, aber bitte keine Empörung am falschen Fleck: Es gibt nun mal Menschen, die sich mit ihrem angeborenen Geschlecht wie in einer fremden Haut fühlen, und solchen Menschen einen Weg zum Frieden mit sich selbst zu ermöglichen, ist löblich. Was jedoch nicht bedeutet, daß die generelle genderistische Ablehnung „traditioneller Geschlechterrollen“ eine löbliche Angelegenheit sei.

Gleichgeburt: Antisexismus

Ausgangspunkt genderistischer Argumentation ist die Aufspaltung des Begriffes „Geschlecht“ in einen angeborenen, „Sex“ oder „biologisches Geschlecht“ genannten Anteil und einen (angeblich) aus gesellschaftlichen Einflüssen und Selbstbestimmung resultierenden, „Gender“ oder „soziales Geschlecht“ genannten Anteil. Genderismus bedeutet, Gender für viel wichtiger zu halten als das ungeliebte (weil angeborene) „biologische Geschlecht“, und von letzterem soweit wie irgend möglich abzukoppeln — mit entsprechenden Konsequenzen. Genderismus ist eine in den letzten Jahren sehr erfolgreiche Strategie zur Änderung menschlichen Zusammenlebens. Ein Beispiel:
Traditionelle, heute innerhalb des deutschen Volkes besonders noch in sehr christlichen Kreisen anzutreffende Ehen sind oft kinderreich und lange haltbar, was wesentlich daran liegen dürfte, daß beide Eltern gerade deswegen gleich wichtig sind, weil sie für ihre Familie ungleiche Aufgabenbereiche übernehmen. Und da solche Eltern ihre Kinder oft selbst und im Sinne einer Wertschätzung von Familie erziehen, brauchen sie Altersarmut wenig zu fürchten — auch nicht für den Fall von Staatspleite und leerer Rentenkasse.
Genderistische Partnerschaft zwischen Frau und Mann hingegen steht typischerweise unter der Schirmherrschaft von Konkurrenz: Wer kocht und wer bügelt besser? Von wem läßt die kleine Patchwork-Tochter sich lieber ins Bett bringen? Wer verdient mehr und kommt trotzdem früher nach Hause? Vielleicht alles miteinander die Frau? Kein Wunder, wenn in solch einer Beziehung bald eines von beiden das Handtuch wirft, und sein/ihr Heil in Partnerwechsel oder in der Single-Selbstverwirklichung sucht. Und sich vor drohender Altersarmut mittels dem „Zweitrente statt Zweitkind“-Modell meint schützen zu können.
Die genderistische These, das „binäre Geschlechter-Schema“ (d. h. Menschen in weiblich und männlich einzuteilen) sei mehr ein „soziales Konstrukt“ als eine in die Wiege gelegte biologische Tatsache, fungiert als eine Art frohe Botschaft, aufgrund derer mittels entsprechender emanzipatorischer Erziehung Ungerechtigkeit beseitigt werden könne. Daß die Zweigeschlechtlichkeit nicht nur eine Erfindung, sondern ein Erfolgsmodell der Evolution irdischen Lebens darstellt und gerade auch für menschliches Leben eine große sinnstiftende Bedeutung besitzt, wird dabei nicht wahrgenommen. Aus evolutionärer Sicht läßt Genderismus sich als ein Streben nach „Zurück zu den Schnecken“ einzuordnen.
Genderismus ist emanzipatorischer Antisexismus und am besten zu verstehen, wenn man ihn gedanklich neben emanzipatorischen Antirassismus stellt. Für letzteres ein Beispiel:

Gleichgeburt: Antirassismus

Der US-amerikanische Wissenschaftler James Watson, bekannt besonders für seine Forschungsbeiträge zur Rolle der DNA als molekularer Träger der Vererbung, aber auch für sein Selbstbewußtsein und seinen nicht immer feinfühligen Umgang mit anderen Menschen, reiste im Jahre 2007 nach England, um am 19. Oktober einen Vortrag im Londoner Wissenschaftsmuseum zu halten. Am 17. Oktober erschien in der Sunday Times ein Interview, worin Watson u. a. äußerte, er sehe die Zukunft Afrikas sehr pessimistisch, denn „all unsere Sozialpolitik basiert auf der Annahme, daß ihre Intelligenz dieselbe ist wie unsere — obwohl alle Tests sagen, daß dies nicht wirklich so ist“. Zudem sei bei Schwarzen die Libido ausgeprägter als bei Weißen. Daraufhin sagte am 18. Oktober das Wissenschaftsmuseum Watsons geplanten Vortrag ab, und am 20. Oktober verlor Watson seine Führungsposition am renommierten New Yorker Cold Spring Harbor Laboratory.
Watsons Vergehen war nicht so sehr seine Infragestellung der Gleichheit aller Menschen, sondern seine Infragestellung der Gleichgeburt aller Menschen. Hätte Watson den behaupteten IQ-Unterschied zwischen Schwarz und Weiß auf Diskriminierung zurückgeführt oder auf selbstbestimmte Entscheidung kluger Schwarzer für Wichtigeres als einen hohen IQ, dann hätte er sich eines freundlichen Echos gewiß sein können. Das Problem war: Watson wurde zurecht unterstellt, er sei der Meinung, Schwarze und Weiße seien aufgrund ungleichen Erbgutes ungleich. Und dies auch noch in zwei warum auch immer als besonders wichtig geltenden Bereichen, dem IQ und der Libido. Hinsichtlich anderer Bereiche läßt man emanzipatorischerseits eher mit sich reden.
Ein Beispiel:
2005 erfolgte vonseiten der US-Arzneimittelbehörde FDA die Zulassung eines Medikamentes mit dem Handelsnamen BiDil nur für „Schwarze“, weil diese Wirkstoffkombination laut vorgelegten Statistiken sehr gut für die Behandlung der Herzinsuffizienz durch Bluthochdruck geeignet war — aber nur bei „schwarzen“ Herzen, nicht bei „weißen“. Der Vorsitzende der Amerikanischen Soziologischen Gesellschaft, Troy Dusters, stand fest zu seinem Gleichgeburtsglauben, „Rasse ist kein biologisches, sondern ein gesellschaftliches Konstrukt“, und schlußfolgerte: „Wer trotzdem nach biologischen Unterschieden sucht, gibt Rassisten gute Argumente.“ Aber es gab auch andere Stimmen — nicht nur vonseiten der „Association of Black Cardiologists“, sondern sogar vonseiten weißer Genetiker. Jerome Rotter von der University of California in Los Angeles sagte gar, wer die ethnische Abstammung seines Patienten mißachte, begehe einen Behandlungsfehler.
Mag sein, daß der IQ- bzw. Libido-Erbunterschied für die bestmögliche Armuts- bzw. Aids-Bekämpfung in Afrika wichtiger ist als der Herz-Erbunterschied für die Medikamentenwahl. Egal — für die öffentliche Diskussion in der westlichen Wertegemeinschaft steht fest: Vererbung ist erwünscht bezüglich globaler Artenvielfalt und heimischer Rinderrassen und wird überwiegend geduldet bezüglich körperlicher Unterschiede zwischen Menschen. Das Allerheiligste jedoch — des Menschen Geist und Psyche — muß genfrei bleiben. Ganz besonders, wenn diese Gene auf ungleiche Äste am Stamm der menschlichen Evolution ungleich verteilt zu sein scheinen.
Antisexismus kämpft gegen Differenzierung in weiblich und männlich, Antirassismus gegen Differenzierung in Generationenfolgen. Verständlich, denn „sexistischen“ Chromosomen und „rassistischen“ Genen ist eines gemein: Sie schaffen biologische Vielfalt („Biodiversität“) auch innerhalb der Menschheit und gefährden somit den Allmachtsanspruch von Gesellschaft und Selbstbestimmung.

Gleichgeburt auch für Behinderte

Wie Antisexismus und Antirassismus, so entspringt auch die „Inklusion“ Behinderter emanzipatorischem Denken. „... in der Erkenntnis, daß … Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern...“ (aus der Präambel der„UN-Behindertenrechtskonvention“, zit. aus www.bmask.gv.at. Mit anderen Worten: Ein Mensch kann zwar mit „Beeinträchtigungen“ wie Lähmung oder Blindheit geboren werden, aber „behindert“ wird er erst durch die ihn hindernde Wechselwirkung mit der Gesellschaft. Der Sinn dieser sprachlichen Turnübung wird deutlich, wenn man sie gemeinsam mit dem Ersatz von „Rasse“ durch „Hautfarbe“ oder der Aufspaltung von „Geschlecht“ in „Sex“ und „Gender“ betrachtet: jeweils wird versucht, mittels Sprachänderung Angeborenes möglichst unwichtig, durch Gesellschaft sowie persönliche Entscheidung Lenkbares hingegen möglichst wichtig erscheinen zu lassen.
Die Inklusion auch geistig Behinderter in Regelschulen gleicht einem „Zurück zum Mehrklassen-Zimmer“ ehemaliger Dorfschulen — allerdings ohne gemeinsames Dorf. Konzentriertes Lernen für (warum auch immer für wichtig gehaltene) Abiturs- und Pisa-Zensuren wird so erschwert, und Wohlwollen gegenüber Behinderten auch. Geistig Behinderten hilft nicht gemeinsamer Unterricht mit künftigen Abiturienten, sondern das Erlernen von für sie als sinnvoll erlernbarer Arbeit — z. B. Kartoffeln schälen und Tisch decken.
Die große Tragödie emanzipatorischer Behindertenpolitik: In die Wiege gelegte Identitäten, wie Geschlecht, Familie, Volk oder Religion ermöglichen es Behinderten am besten, sich innerhalb eines „wir“ als Gleiche unter Gleichen zu fühlen. Aber gerade ein derartiges „wir“ wird emanzipatorischerseits bekämpft, z. B. mittels Antidiskriminierungsgesetz: Aus „Ich hab die Arbeit bekommen, weil ich Kurde bin genau wie mein Chef“ wird so „Die mußten mich nehmen wegen der Behindertenquote“.
Nicht alles, was unter Inklusion firmiert, muß schlecht sein. So z. B., wenn die behindertengerechte „Konvention in Leicht Lesen-Fassung“ (ebenfalls unter der Netzseite des BMASK abrufbar) formuliert: „Briefe vom Amt sind in schwerer Sprache. Dadurch haben Menschen mit Behinderungen vielleicht Nachteile. Österreich muss dafür sorgen, daß sich das ändert.“ Dem werden, vielleicht leicht schmunzelnd, auch viele Nicht-Behinderte gerne zustimmen. Forderungen wie die nach „Herstellung der Chancengleichheit für Behinderte“ (O-Ton Behindertenrechtskonvention) dürften allerdings so schwer zu verwirklichen sein wie die Herstellung von Wettergleichheit für Grönland oder die Sahara.

Gleiche (?) Liebe für Kinder

Eine schon welke Blüte der Emanzipation, die antiautoritäre Erziehung, hilft beim Verstehen der sich in Deutschland besonders auf die Frühphase der Partei Bündnis90/Die Grünen beziehenden Pädophilie-Debatte in Deutschland: Die seinerzeitige emanzipatorische Pädophilie-Offenheit entsprang dem Wunsch, Kinder durch Sexualisierung und freie Partnerwahl von Bevormundung zu befreien. Die heutige emanzipatorische Pädophilie-Verurteilung entspringt der Erkenntnis, daß selbst antiautoritäre Erziehung nicht die für alle Beziehungen erwünschte gleiche Augenhöhe herstellen kann. Da derzeit die emanzipatorische Geschlechtergleichstellung und die Familienauflösung die beiden natürlichen Barrieren gegen sexuellen Kindesmißbrauch, nämlich „traditionelle“ Geschlechterrolle und Inzest-Tabu austrickst, wird das Thema Kindesmißbrauch uns noch oft beschäftigen.
Wobei wir die Tücke des Wortes „Pädophilie“ (=Liebe zu einem Kind) beachten sollten: Die im wörtlichen Sinne sehr pädophile Liebe einer Mutter zu ihrem kleinen hilflosen „eigen Fleisch und Blut“ paßt ins emanzipatorische Menschenbild wie eine islamistische Familie auf die Loveparade. Dies läßt die Inbrunst verstehen, mit der Emanzipatoren die traditionelle Mutter-Kind-Beziehung durch zivilrechtlich bürokratisierte und jederzeit kündbare „Arbeit gegen Geld“-Beziehungen ersetzen wollen. Der „Kampf gegen Pädophilie“ könnte also spannend werden.

Chancengleichheit durch Gleichgeburt

Die Wichtigkeit von Gleichgeburt für das emanzipatorische Konzept wird verständlich, wenn man letzteres als Ehe zwischen Liberalismus und Sozialismus versteht: Ausgehend vom Primat persönlicher materieller Interessen läßt sich der Widerspruch zwischen liberalistischer Freiheit und sozialistischer Gleichheit durch die Kompromißstrategie „Selbstbestimmte Karriere auf der Basis gleicher Chancen“ überwinden. Anders als im Sozialismus ist nun nicht mehr generell Ungleichheit anrüchig, sondern nur noch fremdbestimmte Ungleichheit.
Verlierer dieser Ehe sind die schwachen Mitspieler des Dramas, denn „gleiche Gewinnchancen“ für alle bedeutet nicht „gleiche Gewinne“ für alle, sondern „selber schuld“ für alle Verlierer. Und „Schuld“ ist schmerzlicher als „Schicksal“. Gewinner dieser Ehe sind vor allem die Regisseure des Dramas, denn um Gerechtigkeit in ihrem Sinne zu gewährleisten, müssen sie nun nur noch die Entstehung von Chancen-Ungleichheit etwa infolge ungleicher Erziehung in ungleichen Familien verhindern.
Deswegen ist im emanzipatorischen Menschenbild viel Platz für individuelle Ungleichheiten, soweit diese als Ausdruck persönlicher Freiheit interpretierbar sind. Kollektive Ungleichheiten (so zwischen Geschlechtern, Völkern, Religionen) hingegen zeugen von Einflüssen außerhalb persönlicher Selbstbestimmung (z. B. Gene, Karma, göttliche Lenkung), weswegen solche Teufelchen im Chancengleichheitsparadies abgestritten oder abgeschafft werden müssen.
Daß hinsichtlich menschlicher Zukunftsfähigkeit gerade auch erbliche Ungleichheiten einem krisenfesten artenreichen Biotop entsprechen, Gleichheit von Geburt an hingegen der „Hochrisiko-Strategie“ (I. Eibl-Eibesfeldt) einer landwirtschaftlichen Monokultur, dies wollen Emanzipatoren nicht als Problem erkennen — zu sehr leben sie im Gefühl einer baldigen Endzeit der einen Menschheit in der einen Welt.

Emanzipation und Religion

Bemerkenswert ist die archaische Nähe zwischen Vorstellung/Bild/Mythos „Gleichgeburt“ und Vorstellung/Bild/Mythos „Jungfrauengeburt“: So wie aus christlicher Sicht Gottes Sohn von der Heiligen Jungfrau geboren wurde, frei von Erbsünde und unberührt von niederem Geschlechtstrieb, so kommen aus emanzipatorischer Sicht wir Menschen frei von Erbunterschieden und unberührt von tierischen Instinkten als unbeschriebenes Blatt auf die Welt — als Blatt weiß wie ein Brautkleid. Und jeweils führt dies zur Erlösung, das eine Mal zur Erlösung von Verdammnis, das andere Mal zur Erlösung von Ungerechtigkeit.
Ist die zunehmend auch inquisitorisch auftretende Emanzipationsbewegung vielleicht nicht so sehr als weltliche Ideologie, sondern mehr als (Erlösungs-)Religion einzuordnen? Mit Glauben in dem Sinne, daß man, solange man sich zu ihm bekennt, auf der sicheren Seite steht? Auch wenn, zumindest hinter vorgehaltener Hand, über die richtige Interpretation der Glaubensinhalte diskutiert werden darf? Jedenfalls von Leuten, die über den Verdacht erhaben sind, aus einer Relativierung von Dogmen falsche Schlüsse abzuleiten? Oder aber unterscheiden Religion und emanzipatorische Ideologie sich grundsätzlich voneinander?
„Emanzipation“, ursprünglich das Freiwerden eines römischen Sklaven beschreibend, meint heute generell Befreiung von gesellschaftlichen Rollenzuweisungen, oft mit Befreiung von Wurzeln verwechselnd. Das heutige emanzipatorische Menschenbild läßt sich als den Eltern über den Kopf gewachsenes Kind der Aufklärung verstehen. Individuelle Selbstverwirklichung ist das Leitbild, der Sinn eines jeden Einzelnen wird im Einzelnen selbst gesucht und der Sinn einer Gemeinschaft in ihren erwünschten Wirkungen auf Individuen.
Religion hingegen setzt auf Einbindung des Menschen in größere Zusammenhänge, insbesondere die Gemeinschaft mit Gott. Der Sinn des Einzelnen wird auch außerhalb von Individuen gesucht und der Mensch eher als sich wandelnder Teil einer umfassenderen Ordnung verstanden, mit Bildern, wie Jenseits, Seelenwanderung, All-Einheit“, oder der häufigen Grabinschrift „Hier ruht in Gott“ oder der „Mutter Gottes“ mit ihrem Kind im Arm — einem auch heidnisch interpretierbaren Symbol ewigen Lebens.
Religion kann aus emanzipatorischer Sicht mit Rückgriff auf Kant als „selbstverschuldete Unmündigkeit“ aufgefaßt werden, Emanzipation aus religiöser Sicht als „Trennung von Gott“ (christlich), oder als „Ich-Sucht“ (buddhistisch). So trägt Emanzipation zum Verständnis von Religion bei, und Religion zum Verständnis von Emanzipation, jeweils durch Abgrenzung. Evolutionär gesehen läßt Emanzipation sich als Betonung des für unsere Art typischen Ich-Gefühls verstehen und Religion als „Rückbindung“ an unseren Ursprung und als „Notbremse“ gegen eine das Überleben der Generationenfolge gefährdende Dominanz dieses Ich-Gefühls.
Religion und Emanzipation blicken hinsichtlich des Menschenbildes in entgegengesetzte Richtungen. Heute liegt es nahe, Emanzipation und Religion zu beschreiben oder gar zu definieren als Gegenpole menschlichen Lebens. Menschen können gut im Spannungsfeld beider Pole leben, aber beide Pole zu mischen, gleicht einem Mischen von Feuer und Wasser. Emanzipatorischer Fortschrittsglaube, auch wenn er infolge mythisch anmutender Leitbilder oder verantwortungsethisch verstehbarem Tabu-Aufbau an Religion erinnert, ist deswegen nicht als (echte) Religion, sondern als Pseudo-Religion zu verstehen.

Zeugung und Überzeugung

Ein altes Bonmot sagt: „Christ wird man durch Zeugung, Atheist durch Überzeugung“ — was, wie neuere soziologische Forschungen bestätigen, tendenziell richtig ist.
So korreliert die Häufigkeit des Betens deutlich mit dem Kindersegen. Trotzdem sterben die Atheisten nicht aus, eher scheinen, jedenfalls bei uns, die Frommen weniger zu werden. Bleibt die Frage: Spricht dieses Bonmot eher für (nichtreligiösen) Atheismus oder eher für (christliche oder auch andere) Religion?
Erfunden wurde dieser Satz wohl als Hinweis auf einen höheren Wahrheitsgehalt des Atheismus gegenüber Religion. Schließlich wissen wir aus Alltagserfahrung, daß Überzeugung und Wahrheit oft nahe beieinander liegen — denken wir z. B. an die Frage, ob das Äußere oder das Innere einer Nuß bekömmlichere Nahrung darstellt. Bei solchen Alltagserfahrungen entscheidet der Erfolg, welche Überzeugung sich als Wahrheit herausstellt. Man könnte definieren: Wahrheiten nennen wir jene Überzeugungen, die den Ernstfall überleben. Aber gilt dies auch für eventuelle Wahrheitsdifferenzen zwischen religiösen und nicht-religiösen Vorstellungen?
Jedenfalls läßt sich hinsichtlich der Nachhaltigkeit aus diesem Bonmot zwanglos ableiten: Religion kann langfristig auch ohne Atheismus (über-)leben, umgekehrt gilt dies eher nicht. Versteht man, entsprechend „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“, Körper, Seele und Geist als Mittel zum Leben, dann liegt es nahe, Überzeugungen, entsprechend ihrer Tauglichkeit für das Überleben auch der Generationenfolge, als „Wahrheit“ bzw. „Irrtum“ einzuordnen. Demnach wäre Religion eher „wahr“ als Atheismus.
Aber vielleicht haben dennoch emanzipatorische Atheisten zumindest gedanklich mehr recht als religiöse Gottgläubige? „Ich denke, also bin ich“ — ist dies nicht gewisser als „Gott existiert?“ Leider nein: Denken existiert, gewiß. Aber wieso soll ausgerechnet ein „Ich“ es sein, wer oder was da denkt? Und nicht ein Zeit- oder Weltgeist oder Gott oder „nur“ ein Aufflackern von Ganglienzell-Netzen? Nein, solche Ich-Beweise sind trügerisch wie mittelalterliche Gottesbeweise.
Gagarin fand bei seiner Weltraumreise keinen Gott, und daß es zwar Menschen gebe, Völker aber „Konstrukte“ seien, mag plausibel klingen. Allerdings finden Neurophysiologen bei ihrer Hirnforschung auch kein Ich, sondern versuchen zu klären, wie unsere „Ich-Konstruktion“ funktioniert. Physik sucht, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, glaubt aber derzeit eher an das Ganze als an Teile, hält nicht Elementarteilchen, sondern eher ein Uni- oder Multiversum für ein „Ding an sich“. Es scheint so zu sein: Menschen, die eine Meinung ihr eigen nennen, glauben — manche mehr an z. B. isolierbare Individuen, andere mehr an z. B. übergeordnete Ganzheiten. Manche mehr an „Ich“, andere mehr an „Gott“.
Also, liebe (streng-)gläubige, für Euren Gott und Eure Familie lebende Christen: Nicht nur Euer Gott gibt euch recht, sondern auch z. B. Charles Darwin. Aber wenn Ihr das nicht hören wollt, vergeßt es wieder. Hauptsache, Ihr laßt euch nicht gleichschalten. Ihr seid gesunde Körner Ehrlichkeit in der verlogenen, auf globale Monokultur hinauslaufenden Suppe „Multikulturelle Gesellschaft“. Und nennt man Eure Gemeinschaft „Sekte“, dann denkt: „Ja, wir sind eine Sekte, denn wir gehen unseren eigenen Weg. Und das ist auch gut so.“
Und ein Wort an Euch, ihr lieber an gleiche Geburt als an höhere Mächte glaubende, für Eure und Eurer Mitmenschen Selbstverwirklichung kämpfende Emanzipatoren: Paßt auf, daß es Euch nicht gelingt, den religiösen Sumpf, der auch Euren Nachwuchs gebiert, trocken zu legen. Es wäre schade auch um Euch, und ein Stück weit auch um Euer ja nicht völlig falsches Gedankengut.

 
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