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Volk, Nation, Staat

Von Dr. Eduard J. Huber

Was Frankreich von Deutschland unterscheidet

Mit diesem Beitrag beenden wir die kleine Serie über das Verhältnis von Frankreich und Deutschland, die der Autor in den letzten Nummern der NO verfaßt hat. Sie begann mit einem Beitrag über das Elsaß als Region zwischen diesen beiden Nationen im Heft NO I/13 und wurde in den Heften NO II/13 und NO III/13 mit Artikeln über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten deutscher und französischer Kunst, sowie den unterschiedlichen Freiheitsbegriff in beiden Ländern fortgesetzt.

Die Franzosen betrachten sich als Nation, die Deutschen als Volk, was keinesfalls dasselbe ist. Ein Volk ist eine natürliche Einheit, im Laufe einer langen Entwicklung herangewachsen, durch eine gemeinsame Sprache verbunden und durch ein gemeinsames Schicksal zusammengeschweißt. Eine Nation dagegen ist eine nicht gerade künstliche, aber doch „willkürliche“ Einheit, geschaffen durch die „volonté générale“ der Bevölkerung eines bestimmten Territoriums. Wann ein Volk entstanden ist, läßt sich nie aufs Jahr oder Jahrzehnt genau datieren; der Prozeß kann sogar Jahrhunderte dauern. Aber daß sich z. B. die amerikanische Nation zwischen 1776 und 1787 konstituiert hat, läßt sich behaupten. Von den Schweizern, die einmal zum deutschen Volk gehört haben, könnte man sagen, daß sie mit dem „Ewigen Bund“ von 1291 beginnen, eine neue Nation zu formen, deren Entwicklung sich dann bis zum Frieden von Basel (1499) hinzieht. Schneller und durch den religiösen Gegensatz deutlicher, haben sich die Niederlande von der habsburgischen Vorherrschaft und damit auch vom Reich gelöst: Der Union von Utrecht (1579) folgt bereits 1581 die Unabhängigkeitserklärung und 1584 die Verfassung der Generalstaaten.
Schwieriger ist es zu definieren, wann sich Frankreich als Nation bildet. Diese Entwicklung zieht sich vom hohen durch das ganze späte Mittelalter hindurch, aber in der frühen Neuzeit steht Frankreich als die erste Nation Europas wirklich glänzend da. Dann jedoch tut sich ein Riß auf zwischen der Monarchie und den privilegierten Ständen einerseits und dem Volk andererseits, der sich Ende des 18. Jahrhunderts so dramatisch verbreitert, daß die nationale Identität zerbricht und durch die Revolution in gewißer Weise neu geschaffen werden muß. Man darf also wohl folgern, daß sich die moderne französische Nation erst zwischen 1789 und 1804 gebildet habe.
Bei alledem bleibt immer noch die Frage: Hat es jemals ein in jeder Beziehung einiges und einheitliches französisches Volk gegeben? Es gab das Volk der Franken, gewiß, aber da war schon lange die galloromanische Vorbevölkerung, die sich zwar unter dem Zwang der politischen Verhältnisse den Franken anpassen mußte, aber daß sich Burgunder, Provençalen, Aquitanier oder Bretonen je als Franken gefühlt und betrachtet hätten, ist unwahrscheinlich. Im frühen und hohen Mittelalter gab es gewiß noch kein „französisches Volk“; erst im späten Mittelalter entwickelte sich allmählich jenes Gemeinschaftsgefühl, die Identifikation mit der „douce France“, erst seit Jeanne d’Arc scharten sich die Bewohner Frankreichs immer mehr um ihren König, bis im 17. Jahrhundert endlich die Formel „un roi, une foi, une loi“ Geltung beanspruchen konnte.
Ganz anders das deutsche Selbstverständnis: Deutsch bedeutet „zum Volk gehören“. Das Wort „deutsch“, althochdeutsch „diutisk“, ist von „diot“ abgeleitet, das „Volk“ bedeutet. Deutsch ist von vorn herein, wer zum eigenen Volk gehört. Zwar verstanden sich im frühen Mittelalter auch die verschiedenen deutschen Stämme noch als Völker, aber sehr früh, d. h. schon seit Ludwig dem Deutschen, setzte sich „deutsch“ als Oberbegriff für „fränkisch“, „sächsisch“ usw. durch. Von da an bildeten Franken, Sachsen, Schwaben, Baiern usw. e i n Volk. Und diese Vorstellung hat sich im wesentlichen bis heute erhalten. Noch die Weimarer Verfassung beginnt mit den Worten: „Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem inneren und dem äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben.“ Da ist vom Volk und vom Reich die Rede, der Begriff Nation erscheint nicht. Ähnlich heißt es in der Präambel des Grundgesetzes von 1949: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren ... hat das deutsche Volk ... dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen.“ Hier ist zwar von nationaler und staatlicher Einheit die Rede, aber als handelndes Subjekt erscheint wiederum das deutsche Volk.
Für die Franzosen dagegen steht immer die Nation im Mittelpunkt des politischen Denkens, und die Nation verwirklicht sich in der Republik. In ihr hat die historische Vernunft ihre endgültige Form gefunden; darum ist auch die französische Soziologie (nach den Worten Emile Durkheims) „einem therapeutischen oder kompensatorischen Vorhaben verpflichtet, das die Absicht verfolgt, Tendenzen zu korrigieren, welche die Verwirklichung der Republik gefährden.“1 Dabei spielt es anscheinend keine Rolle, welche Republik es gerade ist, zur Zeit bekanntlich die fünfte. Aus deutscher Sicht pflegen die Franzosen einen „Staatskult der Polisreligion“, wie Ernst Wolfgang Bockenförde in seiner Schrift „Der säkularisierte Staat“ definiert hat.2 Dieser Staatskult ist streng laizistisch und läßt der Religion kaum einen Raum. Die Trennung von Kirche und Staat ist nahezu hermetisch.
Ganz anders in Deutschland: Da erhebt der Staat nicht nur Kirchensteuer für die beiden christlichen Konfessionen, sondern besoldet auch ihre Geistlichen, als wären sie Beamte, was sie dennoch nicht sind. In den Schulen wird Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach erteilt, und fast alle staatlichen Feiertage sind, mit Ausnahme des Tags der deutschen Einheit am 3. Oktober, kirchliche Feste: Weihnachten, Ostern und Pfingsten sogar mit je zwei Tagen. Es gibt hier also keine klare Trennung von Kirche und Staat, und diese wäre auch unhistorisch. Nicht einmal den Machthabern des Dritten Reiches ist es gelungen, eine solche Trennung strikt durchzuführen.
Vergleicht man den Pomp, mit dem sich die Französische Republik an jedem 14. Juli auf den Champs-Elysées selber feiert, mit den unspektakulären Veranstaltungen in Deutschland am 3. Oktober, die reihum in verschiedenen Landeshauptstädten, von Saarbrücken bis Dresden und von Lübeck bis München, stattfinden, dann erkennt man ohne weiteres, daß das Staatsverständnis hier und dort ein anderes ist. Viele Deutsche, vor allem im Freistaat Bayern, könnten sich auch ein Leben ohne die Bundesrepublik vorstellen, während es für Franzosen wohl ein absurder Gedanke wäre, ohne die glorreiche République Française zu leben.

Distanz zum Staat

Die Deutschen waren Deutsche zur Zeit des Heiligen Römischen Reiches wie zu der des Deutschen Bundes, zur Zeit des zweiten Reiches wie zur heutigen; ihr Selbstverständnis hängt nicht vom Staat ab, in dem sie leben. So haben sich die Österreicher trotz der Trennung von 1866 bis nach dem Zweiten Weltkrieg als Deutsche betrachtet, und mancher Südtiroler tut dies bis heute. Die Siebenbürger Sachsen, die 800 Jahre lang vom Reich getrennt lebten, blieben immer Deutsche. Damit vergleichbar wären allenfalls die Bewohner der Provinz Québec, die, obwohl Kanadier, doch auch Franzosen geblieben sind.
Jedenfalls ist die Bindung der Deutschen an ihren Staat vergleichsweise locker und löst sich meist schnell. „Die Deutschen sind das einzige Volk, dessen Auswanderer in kurzer Zeit in dem Volk, dem sie sich anschließen, aufgehen, von diesem aufgesogen werden. Sie sind in Amerika verschwunden und wäre es noch viel mehr, wären sie nicht zeitweise zurückgewiesen worden. Nur Folklore erhält sich, das Bier und gewisse Brauchtümer. Aber die Beziehung zur Herkunftsnation geht verloren, wie der Vergleich mit den Polen, den Italienern, den Spaniern zeigt. Nichts ist charakteristischer für die Deutschen: Ihre Prägungen liegen unterhalb des Nationalen.“3
Es stimmt wohl nicht ganz, was Henning Ritter da ausführt, denn im Süden Chiles, in S. Catharina und Rio Grande do Sul in Brasilien, in Namibia, ja selbst in Wisconsin in den USA haben sich ziemlich lange deutsche Kolonien mit deutscher Sprache erhalten, bis sie infolge der Weltkriege weitgehend ausgelöscht worden sind. Aber der Idee, daß die Prägungen der Deutschen „unterhalb des Nationalen“ liegen, ist dennoch zuzustimmen.
Am 19. Oktober 1815 schrieb Caroline von Humboldt ihrem Mann Wilhelm: „Das ist eine trostlose Idee, daß es kein Deutschland gäbe; freilich gestehe ich, daß es in gewissem Sinn noch immer ein unsichtbares Reich ist. Aber wer hat nicht in dieser Zeit an das Unsichtbare glauben gelernt, das über dem Sichtbaren waltet.“4 Hier kommt die romantische Idee von einem unsichtbaren Reich zu Ausdruck, das weiterbesteht, auch wenn es das Reich in der Geschichte nicht mehr gibt. Diese Idee hatte im 19. Jahrhundert in Deutschland viele Freunde und die waren von den Ereignissen von 1870/71 nicht gerade begeistert. „Das unsichtbare Reich hat sich nach der Bismarckschen Reichsgründung in ein geheimes verwandelt: das geheime Deutschland des George-Kreises.“5 In seinen Merksprüchen 1900/1901 notiert George unter dem Stichwort „Preußentum“: „Wenn wir von den schädlichen einflüssen des Preußentums reden so weiß jeder verständige daß wir uns gegen keine person – nicht einmal gegen einen volksstamm richten sondern gegen ein allerdings sehr wirksames aber aller kunst und kultur feindliches system.“6
Stefan George hat hier ein Thema aufgegriffen, das Nietzsche bereits 1873 in seinen „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ bearbeitet hatte, wo es heißt: „Die öffentliche Meinung in Deutschland scheint es fast zu verbieten, von den schlimmen und gefährlichen Folgen des Krieges, zumal eines siegreich beendeten Krieges zu reden: umso williger werden aber diejenigen Schriftsteller angehört, welche keine wichtigere Meinung als jene öffentliche kennen und deshalb wetteifernd beflissen sind, den Krieg zu preisen und den mächtigen Phänomenen seiner Einwirkung auf Sittlichkeit, Kultur und Kunst jubelnd nachzugehen. Trotzdem sei es gesagt: ein großer Sieg ist eine große Gefahr. Die menschliche Natur erträgt ihn schwerer als eine Niederlage; ja es scheint selbst leichter zu sein, einen solchen Sieg zu erringen, als ihn so zu ertragen, daß daraus keine schwere Niederlage entsteht. Von allen schlimmen Folgen aber, die der letzte mit Frankreich geführte Krieg hinter sich dreinzieht, ist vielleicht die schlimmste ein weitverbreiteter, ja allgemeiner Irrtum: der Irrtum der öffentlichen Meinung und aller öffentlich Meinenden, daß auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe und deshalb jetzt mit den Kränzen geschmückt werden müsse, die so außerordentlichen Begebnissen und Erfolgen gemäß seien. Dieser Wahn ist höchst verderblich: nicht etwa, weil er ein Wahn ist – denn es gibt die heilsamsten und segensreichsten Irrtümer –, sondern weil er imstande ist, unseren Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des <deutschen Reiches>.“ 7
Wie bei George das preußische System der Kultur widerstreitet, so bei Nietzsche das zweite Reich dem deutschen Geist. Es sieht ganz danach aus, als hätten in Deutschland seitdem Politik und Geist nie mehr zueinandergefunden, ein für Franzosen nahezu undenkbarer Zustand; denn niemals in der französischen Geschichte haben sich geistiges und politisches Leben so weit voneinander entfernt, daß sie sich aus den Augen verloren hätten. Zumindest seit der Gründung von Académie und Comédie française haben französische Dichter einen Anteil am gesellschaftlichen Leben der Nation, wie ihn deutsche Dichter nie erlangt haben.

Keine „Einbürgerung“ der Dichter

Die diesbezüglichen Unterschiede hat Robert Minder, der in Deutschland bekannteste Germanist der Sorbonne, in seinem unübertroffenen Essay „Deutsche und französische Literatur – inneres Reich und Einbürgerung des Dichters“ überzeugend und klar herausgearbeitet. Dieser Essay beginnt mit den programmatischen Sätzen: „Der Grad der Einbürgerung des Dichters in die Nation ist sehr verschieden diesseits und jenseits des Rheins. Ein Werturteil ist mit dieser Feststellung nicht verbunden, doch dürfte die besondere Problematik der beiden Literaturen in ihrem Licht schärfer zutage treten.“8 Und wenig später heißt es: „... in Deutschland ist der Dichter, der Künstler in erster Linie Bürger einer anderen Welt; in Frankreich ist er in weit größerem Ausmaß ‚citoyen‘, eingebürgert. Das Phänomen der Einbürgerung ist schon sehr früh nachweisbar in der französischen Geistesgeschichte, im Mittelalter, in der Renaissance. Aber die eigentlichen, auch heute noch tragenden Fundamente wurden gelegt unter Richelieu und Ludwig XIV.“9
In Deutschland verlief die Entwicklung gerade in entgegengesetzte Richtung: „Es ist eine tragische Paradoxie, daß an der Nicht-Einbürgerung des deutschen Dichters der größte preußische König, Friedrich II., mit die größte Schuld trägt. Eine größere als Joseph II., dessen Wiener Reformbestrebungen durch die besondere römisch-habsburgische Konstellation von vornherein unüberwindliche Schranken gesetzt waren. Potsdam aber hätte ohne weiteres das deutsche Gegenstück zu Versailles werden können und müssen. Man stelle sich vor, welche Katastrophe es für die französische Literatur gewesen wäre, wenn Ludwig XIV. Racine, Lafontaine, Boileau, Molière abgewiesen, nur spanische Dichter um sich versammelt, Spanisch als einzige Hochsprache anerkannt hätte! Friedrich hat bei Roßbach gesiegt, aber die literarische Schlacht für Deutschland verloren, verspielt und verscherzt die unerhörte Gunst des Schicksals, zur selben Zeit gelebt zu haben wie die größten deutschen Dichter und Denker seit Jahrhunderten.“10
Diese deutsche Schizophrenie, wenn man so sagen darf, das Auseinanderdriften von äußerem und innerem Reich, datiert also nicht erst von 1871, sondern bahnt sich schon seit dem 18. Jahrhundert an. „Alle deutschen Dichter, Denker, Künstler der großen Zeit – oder fast alle – leben im Gedächtnis weiter auf dem gleichen sozialen und metaphysischen Hintergrund – im hegenden Umkreis niederer Stuben unmittelbar zum Volk hin, zur Natur, zu Gott – von Klopstock bis Lessing, Haydn bis Kant, Jean Paul bis Mörike. Und die Größten: Bach allein in seiner Kirche; Beethoven eingemauert in seine Taubheit, Mozart, Schiller nachts in einer Grube beigesetzt. Goethe selbst im engen Weimar: 6000 Einwohner, und der Hirt treibt morgens und abends die Schafherden der Bürger durchs Tor...“11
Das sind keine Äußerlichkeiten, wie man vielleicht meinen könnte; darüber läßt sich philosophieren, wie Robert Minder es tut: „Vom Volk zu Gott: bis heute hat der Begriff ‚Gemeinschaft‘ in deutscher Sprache eine sakrale Würde beibehalten. ‚Gemeinschaft‘ – das scheint von vornherein in Tiefen der Spekulation zu führen, zu den Müttern hinabzusteigen, wo ‚Gesellschaft‘ nur an der Oberfläche der Soziologie bleibt. In Frankreich ist es umgekehrt: das Wort ‚communauté‘ hat etwas Zerfließendes, irritierend Unbestimmtes an sich: welche ‚communauté‘ ist denn gemeint? Eine soziale, eine religiöse, eine ‚communauté des esprits‘? ‚Bürger‘ wiederum erscheint als ein zu flacher, zu enger Begriff: man kann nicht den ‚bourgeois‘ und den ‚citoyen‘ gleichzeitig darin unterbringen – und um welchen von beiden geht es?“12

Deutsche Begriffe:  „Gemeinschaft“ und „Reich“

Die Unterschiede zwischen den beiden politischen Kulturen gehen demnach so tief, daß selbst französische und deutsche Begriffe nicht einfach als Synonyme gelesen werden dürfen: „Communauté“ ist nicht dasselbe wie „Gemeinschaft“, „citoyen“ nicht dasselbe wie „Bürger“. Offensichtlich aber ist, daß die Franzosen ihr Augenmerk auf die Gesellschaft, die Deutschen auf die Gemeinschaft richten (bis hin zu Hitlers „Volksgemeinschaft“), daß den Franzosen die Nation, den Deutschen das Volk wichtig ist, den einen die Republik als adäquate Staatsform erscheint, den andern (jedenfalls bis vor kurzem) das Reich.
Nun ist der Begriff „Reich“, der noch im 19. Jahrhundert einen geradezu mythischen Klang hatte, durch den Wahnsinn des „Dritten Reiches“ freilich so sehr in Mißkredit geraten, daß die jüngeren Generationen davon rein gar nichts mehr halten. Aber welchen Ersatz haben sie dafür gefunden? Nicht einmal mehr den Stolz aufs Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit, denn das ist auch schon lange passé, und so schwenken sie nun ihre schwarz-rot-goldenen Fahnen fast nur noch zu Ehren der Fußballnationalmannschaft. Was für ein Abstieg ins Nirwana der Geschichtslosigkeit! Da man aber nun doch nicht völlig ohne Vergangenheit sein kann, reden sie (wie ihre Lehrer und Politiker) von „unserer Vergangenheit“ und meinen damit das „Dritte Reich“, ohne zu ahnen, daß dieser falsche Begriff eine Erfindung der Nazipropaganda ist, der keineswegs die Ablösung des Bismarck-Reiches meinte, sondern jenes endzeitliche Reich, das schon der Häretiker Montanus aus Kleinasien im 2. Jahrhundert gepredigt hatte.
So abgeschnitten von der ganzen realen Geschichte, hängen die Deutschen nun förmlich in der Luft und wissen nicht, wer sie sind. Eine solche Verrücktheit muß jedem vernünftigen Menschen, vor allem aber einem rational denkenden Franzosen unheimlich sein, und daher rührt ohne Zweifel das immer wieder einmal aufbrechende Mißtrauen gegen die Deutschen und ihr kaum verständliches Verhalten. Nur so läßt sich auch erklären, daß eine französische Zeitschrift (Commentaire Nr. 129/2010) eine ganze Ausgabe der Frage widmet: „Ist Deutschland ein normales Land?“ Pierre Hassner meint dazu, Deutschland sei seit der Wiedervereinigung deutscher und pazifistischer geworden, Jacques Dewitte diagnostiziert dagegen eine neue Identitätskrise und empfiehlt einen Rückgriff auf das preußische Erbe. „Mit den großen Preußen könne Deutschland universalistisch sein und sich am Beispiel der Polen und der Ungarn orientieren, für die es zwischen Nation und Europa keine Konflikte gebe, <denn ihr nationaler Geist ist europäisch>. Nicht den Bruch mit der Geschichte, sondern die Besinnung auf das, <was die Vergangenheit an Großem hervorgebracht hat>, rät Dewitte den Deutschen: <Seid deutsch und lasst Europa davon profitieren>.“13
Das ist leichter gesagt als getan, denn wer den Deutschen rät, deutsch zu sein, setzt sich bei diesen Verrückten sogleich dem Verdacht aus, er sei ein „Fascho“, ein Neonazi. Einem Franzosen sieht man es vielleicht nach, wenn er einen solchen Rat erteilt; als Deutscher dürfte man nicht so reden. Was in aller Welt selbstverständlich ist – daß Franzosen französisch, Engländer englisch, Amerikaner amerikanisch denken und fühlen – , das ist in Deutschland nahezu unmöglich geworden. Und darunter leidet nicht nur ihr Verhältnis zu sich selbst, sondern auch zu allen andern Nationen.

Anmerkungen

1 Ingeborg Harms: Mitleidende aller Länder, vereinigt euch (FAZ vom 28. Mai 2010)
2 Ernst-Wolfgang Bockenförde: Je öffentlicher die Religion, desto weltlicher der Staat (FAZ vom 13. Sept. 2010)
3 Henning Ritter: Das Rheintal ist die Höhle der Deutschen (FAZ vom 28. Aug. 2010)
4 Zit. von Henning Ritter a. a. O.
5 Henning Ritter a. a. O.
6 Deutsche über die Deutschen, hsg. von Heinz Ludwig Arnold, München 1972, S. 280
7 Daselbst S. 268
8 Robert Minder: Kultur und Literatur in Deutschland und Frankreich. Fünf Essays, Frankfurt a. M. 1962, S. 5
9 Daselbst S. 9
10 Daselbst S. 15
11 Daselbst S. 8
12 daselbst S. 9
13 Jürg Altweg: Wie normal sind wir? (FAZ vom 2. Juni 2010)

 
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