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Das Heldentum im Zeitalter seiner Unumsetzbarkeit

Von Nils Wegner

Die Frage zu stellen nach dem heutigen Stand des Heldentums ist müßig, wenn man nicht die völlig veränderten Rahmenumstände der Postmoderne berücksichtigt. Daß in der Gegenwart kein Platz mehr für die Heroenverehrung antiken Stils ist, erscheint selbstverständlich – spätestens mit der sogenannten Aufklärung wurde das einstmals unverbrüchlich Verhältnis zwischen weltlicher Macht und göttlicher Herrschaft erodiert. An klassischen Heroen, Bindegliedern zwischen Menschengeschlecht und Pantheon, als Bezugspunkten zur Legitimation von Autorität und Souveränität bestand fortan kein Bedarf mehr.
Der hernach auf den Plan getretene, säkularisierte Heldenbegriff fokussierte sich stattdessen auf die manifesten Attribute der klassisch-mythologischen „Vorbilder“: Kampfkraft und Edelmut. So erschließt sich leicht, weswegen ab dem 19. Jahrhundert beinahe ausschließlich Herrschern und Feldherren – oft posthum – das öffentlichkeitswirksame und propagandistisch nutzbare Attribut des „Helden“ angehangen wurde. Ähnlich einer politisch-theologischen Variante der weltlichen Nobilitierung erhob die „Heroisierung“ von Personen, diese in eine Art moralischen Adelsstand. Der Nimbus, der ihnen durch diesen Heldenstatus verliehen wurde, war der eines menschlichen Idealtypus, mithin eines „Übermenschen“, an dem die Zeitgenossen sich auf- und auszurichten vermochten. Der „Held“ der industrialisierten Moderne diente somit insbesondere zur Mobilisierung seiner „einfachen“ Mitmenschen (ohne dabei die Standesgrenzen zu überschreiten); seine säkulare Selbstapotheose hielt jedem freien Bürger vor Augen, daß auch er durch Opfermut gleichen Ruhm erwerben könnte.

Opfermut

„Opfermut“ ist ohnehin das Stichwort für die gewichtigste Veränderung des Heldentumsbegriffs: Mit der Sterblichwerdung der Heldengestalten kam dem Tod als konstitutivem Element eine Schlüsselrolle bei der Definition dessen zu, was von nun an als „heldenhaft“ gelten sollte. Ohne die gleichmütige Hinnahme des Todes für das „höhere Wohl“, oder zumindest seine bewußte Inkaufnahme, war ein Held nicht zu denken. Zu Zeiten, in denen nur Regenten und Schlachtenlenker für diesen Status infrage kamen, fiel die Rolle der sich auf dem Altar des Vaterlandes Opfernden den unterstellten Soldaten zu, die gleichsam namens- und gesichtslos blieben, aber in repräsentativer – wenngleich sehr unpersönlicher – Weise im Heldenmythos, der sich gegebenenfalls später um ihren Kommandanten ranken sollte, verewigt wurden. Diese ständische (oder, wie man heute wohl sagen würde, soziale) Stratifizierung des heldenhaften Opfermuts wurde erst mit der aufkommenden, modernen Massengesellschaft – zu der unweigerlich auch ein Massenheer gehörte – eingeebnet. Erst die Verheißung, daß jeder Kombattant potentiell zum Helden avancieren könne, legte das Fundament für die auch durch die aufkommenden Massenmedien ermöglichte, öffentliche Rezeption einer neuen Form der militärischen Kameradschaft: „Höchstes Soldatentum, indem nämlich einer für den anderen sich freiwillig zu opfern bereit ist, damit über sich das Ich hinausgebildet werden kann.“ (Eduard Koch)
Ebendiese Transzendenz wird unmittelbar und mächtig ausgedrückt beispielsweise im Gemälde „Heimkehr“ Hans Adolf Bühlers von 1936, auf dem der stark idealisierte, sterbende Jüngling seinen Kopf in den Schoß einer engelsgleichen Gestalt bettet, die – trotz fehlender Attribute wie Griffel und Schriftrolle – durchaus auch als Klio, die altgriechische Muse der Geschichtsschreibung und eben der Heldendichtung, interpretierbar ist. Es war insbesondere in der gesamteuropäischen Kriegsbegeisterung zu Beginn des dreißigjährigen Weltenbrands des 20. Jahrhunderts nur allzu verständlich, daß der Nimbus des „Helden“ gerade die Jugend kraft der sie auszeichnenden Unbedingtheit elektrisierte und anzog. Vor diesem Hintergrund erscheinen moderne Heldenmythen wie der des „Opfergangs bi Langemarck“ (unter welchen Umständen auch immer dieser nun genau stattgefunden haben mag) oder der des US-Soldaten Rodger Young, die ein – teilweise gar kollektiv – selbstvergessenes Vorgehen zugunsten einer antizipierten Verbesserung der Gesamtlage unter mindestens gleichmütiger Inkaufnahme des eigenen Opfers beinhalten, als eine Art metaphysischer Versuch, sich dem anthropomorphen Vaterland in die Arme zu werfen und mit ihm zu verschmelzen.
Die auratische Wirkung dieser „heldenhaften“ Grundhaltung war so enorm stark, daß noch 13 Jahre nach Kriegsende ein seinerzeit maßgeblicher Philosoph wie Oswald Spengler sie entsprechend würdigen und – ihrem Charakter entsprechend – als Vorbild heranziehen sollte: „Auf dem verlorenen Posten ausharren ohne Hoffnung, ohne Rettung, ist Pflicht. […] Das ist Größe, das heißt Rasse haben.  Dieses ehrliche Ende ist das einzige, das man dem Menschen nicht nehmen kann.“ Aus Spenglers kulturpessimistischer Sicht gesellt sich zum kriegerisch-transzendentalen Heldentum gleichzeitig der Faktor eines – vorausgesetzt, man erachtet das Leben für sinnlos eo ipso – immerhin mit einer Zielsetzung und einem Sinn verbundenen Todes; mithin der Gipfelpunkt, den ein menschliches Leben erreichen könne: Er stelle die einzige selbstbestimmte Entscheidung des selbstbewußten, „stolzen“ Einzelnen dar, die nicht käuflich und somit vermarktbar sei. Vor diesem geistigen Horizont erscheint in der heutigen Zeit beispielhaft auch der Bushido-basierte „seppuku“-Freitod eines Yukio Mishima nachvollziehbar, der sich nach dem vorhersehbaren Scheitern seines privaten Kleinstputsches in der Tradition der antiken Samurai selbst richtete und es so trotz offensichtlichen Mißlingens seines Vorhabens vollbrachte, dessen ungeachtet ein „heroisches“ Fanal zu setzen.

Haltung bewahren in totalem Relativismus

Natürlich läßt sich nicht leugnen, daß sich seitdem die Umstände fundamental gewandelt haben. Völlig undenkbar scheint heute jene unnachgiebige Stellung des Einzelnen in der und zur „Kampfwirklichkeit“, die Werner Best in seinem Beitrag „Der Krieg und das Recht“ (aus dem von Ernst Jünger herausgegebenen Sammelband „Krieg und Krieger“) 1930 erstmals als die „heroisch-realistische“ bezeichnet und damit die Konvergenz aus dem Wissen um die – relative – Sinnlosigkeit des eigenen Opfers und dem fatalistischen Verharren in einen kurzen Terminus von erheblicher Schlagkraft faßte. Nach den „Stahlbädern“ des dreißigjährigen Weltbürgerkriegs fehlt die Grundstimmung der existentiellen Bedrohung, die eine heroische Haltung erst möglich zu machen scheint; vielmehr bietet die allgemeine Saturiertheit, in der Kompromiß und Konfliktvermeidung als hohe Güter gelten, kaum mehr Nischen für eine trotzig-aufrechte Haltung. Schlimmer noch: Durch die fortschreitende Atomisierung der Gesellschaft und Zertrümmerung des klassischen Wertekanons ist jene kollektive „Volksseele“ völlig verlorengegangen, die unabdinglicher Resonanzboden für das Heldentum „alten“ Typs war. Der gegenwärtige Hedonismus hat das Gefühl für höhere Ziele, die eines Opfers wert sind, ertauben lassen. Mehr als jemals zuvor behält Nietzsches Zarathustra Recht, wenn er den jungen Menschen zuruft: „Es ist zu wenig Schicksal in euren Augen!“
In unserer medial formierten Gesellschaft von Massenindividuen kann der Einzelne keinen allgemeinen Ruhm mehr erwarten. Ein Einzelfall wie der des beim Versuch, eine Gruppe von Schülern vor dem Zugriff krimineller Gewalttäter zu schützen, ermordeten Dominik Brunner bestätigt dies nur – die große Anteilnahme der Bevölkerung erzwang eine mediale Berichterstattung über die Umstände seines Todes, nicht umgekehrt. Brunner hatte in einem schicksalhaften Augenblick, einem kairos, sowohl greifbar als auch transzendent das getan, was „getan werden mußte“: Verantwortung für Schwächere, mithin die Allgemeinheit übernommen, ohne auf sein eigenes Wohl zu achten. Dies ist der Schlüssel zu einem uns Zeitgenossen geziemenden „realistischen Heroismus“; Held ist der, der sich im totalen Relativismus und der Bindungslosigkeit unserer Zeit nicht treiben läßt, sondern eine Stellung bezieht und hält. Die Wortverwandtschaft zwischen „Held“, „Haltung“ und „halten“ ist ein geheimer Fingerzeig in diese Richtung. Sich selbst treu zu bleiben und sein über das eigene Ich hinausgehende Streben gegen alle Widerstände zu betreiben, das macht heutiges Heldentum aus. Unsere Gegenwart ruft nicht die, die „wissen und wägen“, sondern umso lauter jene, die „wollen und wagen“. Der Held unserer Tage realisiert auch um den Preis des Scheiterns das Dichterwort Ulrich von Huttens: „Selbsteigen leben, das heißt Ehre.“

 
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