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Was für uns zählt, hat keinen Preis!

Von Univ.-Dozent Dr. Friedrich Romig

„Satanische Verse“ wider die „reine“ Ökonomie des Mainstreams

Es gehört zu der bitteren Wahrheit des schleichenden Kulturverfalls, daß auch in der Wirtschaftswissenschaft Vorlesungen über die Entwicklungsgeschichte der Haupttheorien der Volkswirtschaftslehre kaum noch gehalten werden. An die Stelle der Dogmengeschichte ist die „reine“ Ökonomie getreten mit ihrem „ökonomischen Kalkül“ von Nutzen und Aufwand, Kosten und Ertrag, „plaesure and pain“ (W. St. Jevons). Mathematik, Ökonometrie, Modelltischlerei haben sich derart verselbständigt, daß der Verlust ihres Bezugs zur Realität nun schon von den Klagemauern der Massenmedien widerhallt. Als Musterbeispiel dürfen hier die Voraussagen der hochkarätigen Experten der „Troika“ (IWF, EZB, EU) über die Entwicklung von Griechenlands Wirtschaft angeführt werden, die, kaum veröffentlicht, gleich wieder revidiert werden mußten. Die Versuche, die Entwicklung des Bruttosozialprodukts auf zehntel Prozentpunkte genau vorauszusagen, ruft heute nur noch Kopfschütteln hervor.

Angesichts dieser Leerstelle, den der universitäre Lehrbetrieb offen läßt, darf es uns nicht wundern, daß das Buch eines jungen Ökonomen (Jg. 1972) sich zum Bestseller mausern konnte, welches die herkömmlich gelehrte und praktizierte „reine“ Theorie in Frage stellt oder, wenn wir noch deutlicher werden dürfen, als Humbug entlarvt. Wenn nämlich nach Auguste Comte „der Zweck aller Wissenschaften die Voraussage ist“, dann ist die Ökonomie keine Wissenschaft. „Die letzte Wirtschaftskrise hat erneut gezeigt, daß die Ökonomen die Zukunft einfach nicht vorhersagen können“. (S. 379). Der Autor, der sich nach dem Urteil vieler seiner Kollegen zu solchen Aussagen „erfrecht“, der Tscheche Tomáš Sedláček, ist kein meckernder „misfit“ (Ungustl), sondern Chefökonom der größten tschechischen Bank. Er ist Mitglied des Nationalen Wirtschaftsrates. Er hält Vorlesungen an der Prager Karls-Universität und wird laufend zu Gastvorlesungen an namhaften Universitäten in den USA, der Schweiz und sogar Österreich eingeladen. In Yale, Oxford, Cambridge oder London gilt er gar als Kanone („big gun“) und Popstar unter den Ökonomen. Während der Amtszeit von Vaclav Havel war er Berater des Präsidenten, und ihm hat er auch das Vorwort zu seinem Buch „Die Ökonomie von Gut und Böse“ zu verdanken.
In der deutschen Edition ist der Untertitel weggeblieben, der in der tschechischen Originalausgabe und auch in der englischen Übersetzung angeführt ist: „Die Frage nach dem Sinn und nach der Bedeutung des Wirtschaftens vom Gilgameschepos bis zur Finanzkrise“. Mit Fug und Recht darf Tomáš Sedláček behaupten, er habe mit diesem Buch eine „Kulturgeschichte der Ökonomie“ für gebrannte Kinder geschrieben, die mit der Krise von heute nicht fertig werden. Und daß er das auch noch auf kreative, einfallsreiche und humorvolle Weise getan hat, macht sein Buch zu einer ernsten, bedenkenswerten und zugleich amüsanten Lektüre.

Die falsche Auffassung der Ökonomie als Grund für die Krise

„Einer guten Theorie hält die Wirklichkeit nicht stand“, hat uns Hegel gelehrt. Leider gilt sein Satz auch für schlechte Theorien. In ihnen erkennt Tomáš Sedláček den eigentlichen Grund für unsere Misere. Unsere Wirtschaftsauffassung ist einfach falsch. Wir betrachten Wirtschaft nicht mehr als Teil unserer Kultur und Zivilisation, sondern glauben, wir könnten sie sich selbst überlassen, irgendeine mystische, geheimnisvolle „unsichtbare Hand“ sorge dafür, daß die Bäume des Eigennutzes in den Himmel des Gemeinwohls wachsen. Wir glauben, die Wirtschaft funktioniere wie ein Mechanismus, nach Regeln der Physik. Wie bei der Konstruktion eines Automotors ethische Vorschriften nichts zu suchen haben, so verhielte es sich auch mit dem „Wirtschaftsmotor“, der, wenn richtig konstruiert, nach den Mechanismen des Marktes abläuft. Ethische Normen oder „Werte“, so die Auffassung der meisten Ökonomen von Adam Smith bis zu den „Austrians“ (Mises, Hayek etc.), könnten den reibungslosen Ablauf nur stören. Doch, so die These von Sedláček, in jeder wirtschaftlichen Entscheidung, ob sie nun ein Manager trifft oder der Käufer einer Banane, ist Moral mit im Spiel.

Was ist eigentlich „wertvoll“ oder „gut“?

Wie konnte es dazu kommen, frägt sich Tomáš Sedláček, daß eine Wissenschaft, in der „Werte“ eine so große Rolle spielen, „Werte „außen vor läßt“, wie man heute neudeutsch sagt? Es ist für ihn geradezu „paradox, daß ein Gebiet (Anm.: gemeint ist die Ökonomie als Wissenschaft), das sich vorwiegend mit Werten beschäftigt, wertfrei sein will“. Er kann Milton Friedman nicht verstehen, für den die Ökonomie eine „positive Wissenschaft“ zu sein hat, „wertneutral“, „die Welt so beschreiben(d), wie sie ist, nicht wie sie sein sollte“ (S. 18. In der Folge die Angabe der Seitenzahl ohne „S.“).„Im wirklichen Leben“, wendet Tomáš Sedláček ein, „ist die Ökonomie keine positive Wissenschaft“, die meisten Wissenschafter versuchen sie nur dazu zu machen, um „lästigen Grundfragen – das heißt der Metaphysik – aus dem Wege zu gehen“ (19).
Ein schwerer, doch treffender Vorwurf! Indem wir die Grundfragen nicht mehr stellen, wissen wir auch nicht, ob das, was wir tun, verlangen, veranlassen, eigentlich „gut“ oder „böse“ ist. Ist hohes Wachstum des BIP gut oder sollten wir uns bescheiden mit dem, was wir bereits haben und die ständige Unzufriedenheit aufgeben (vgl. 400)? Sollen wir Konkurrenz anheizen oder ruinöse und halsabschneiderische Konkurrenz dämpfen? Müssen wir über Monopole und hohe Preise, wie Friedrich August von Hayek es vertritt, sub specie aeternitatis froh sein, weil sie den verschwenderischen Umgang mit nichterneuerbaren Rohstoffen hintanhalten, oder sollen wir die Rohstoffkonzerne zwingen, sie billig auf den Markt zu bringen, um unsere gegenwärtigen Lebenshaltungskosten zu Lasten der Versorgung künftiger Generationen zu senken? Dürfen wir (ethisch gesehen) alles machen, was wir (technisch) machen können, z. B. die Gene von Pflanzen manipulieren, Tiere oder gar Menschen klonen? Was ist eigentlich überhaupt der Zweck der Ökonomie? Wofür nehmen wir die ganzen Anstrengungen auf uns? Doch wohl nur, um ein gutes Leben zu führen. Doch was ist das, das „gute Leben“?

Die Ökonomie und das gute Leben

Die Antwort geben uns nicht Graphiken, Tabellen, ökonomische Kalküle von Nutzen und Aufwand oder mathematische Modelle, mit denen unsere Lehrbücher vollgestopft sind. Wir finden die Antworten viel eher in unseren Annahmen, Vor-Urteilen, Überzeugungen, Ideologien, Welt-Anschauungen, philosophischen Erkenntnissen und zuletzt sogar in unseren religiösen Überzeugungen. Wirtschaft ist nämlich, so die triviale, doch wahre Aussage von Tomáš Sedláček, eine kulturelle Erscheinung, ein Produkt unserer Zivilisation.
Dem sollten Ökonomen Rechnung tragen, sie sollten die Grenzen ihres Fachs überschreiten, fordert er. Die Ökonomie kann nämlich nicht verstanden werden ohne „Einbettung“ in die Gesellschaft, also in ihre Gestaltung durch Religion, Philosophie, Wissenschaft, Kunst, Ethik, Moral, Recht, Politik, Machtverhältnisse, staatliche Strukturen, bildungsmäßige Voraussetzungen der Bevölkerung, Arbeitsauffassung, demographische Entwicklung, Stand der Technik, Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen.

Der Mensch, ein unnatürliches Wesen

Das war schon immer so. Im Gilgamesch-Epos wird vor mehr als viertausend Jahren das beschrieben, was wir heute „Stadtwirtschaftspolitik“ nennen. Der Held des Epos, Gilgamesch, will das Leben in der Stadt Uruk für die Bewohner sicherer und angenehmer gestalten. Um sie gegen die Bedrohung von außen zu schützen, umgibt er sie mit einer Mauer und zieht so eine Grenze gegen die drohende, unheimliche, von Dämonen und bösen Geistern beherrschte Umgebung, den undurchdringlichen „Wald“. Gilgamensch scheut den Wald nicht, er holzt ihn ab und zeigt uns Späteren, daß „die Natur existiert, um den Städten und Menschen Rohstoffe und Produktionsmittel zu liefern“ (40, auch im Original kursiv!). Hier werden wir Zeugen einer wichtigen geschichtlichen Veränderung: Die Menschen fühlen sich in einem unnatürlichen, künstlichen Konstrukt, in der von ihnen gebauten Stadt, wohl. Gilgamesch lehrte uns, uns als Geschöpfe zu begreifen, „für die es natürlich ist, unnatürlich zu sein“ (342). „Die Natur ist nicht mehr der Garten, … in den er (der Mensch) gesetzt wurde, um den er sich kümmern und in dem er wohnen sollte, sondern nur noch ein Reservoir natürlicher Ressourcen“ (41). Sie liefert Bauholz. Innerhalb der Stadtmauern können sich Reichtum und Wohlstand entwickeln, die Bewohner können sich spezialisieren, Handwerk und Handel blühen auf, durch Erziehung und Zivilisation wird der Mensch aus der Abhängigkeit von der Natur oder, wie Marx schrieb, „aus der Idiotie des Landlebens“ befreit, er gewinnt an „Menschsein“. Doch das hat seinen Preis: Je mehr Zivilisation desto abhängiger wird der Mensch von der Gesellschaft (vgl. 46). So wie Gilgamesch verhalten wir uns gegenüber der Natur: wir beuten sie nur noch aus. Und das auf Kosten künftiger Generationen.

Was uns die Juden lehren

Zu einem der interessantesten Kapitel des Buches gehört jenes über den Einfluß der Juden, welchen sie seit dem Alten Testament bis zum heutigen Tage auf unsere ökonomischen Auffassungen ausüben. „Die Juden“, so gleich der erste Satz des relevanten zweiten Kapitels, „haben bei der Entwicklung der heutigen europäisch-amerikanischen Kultur und ihrer Wirtschaftssysteme eine Schlüsselrolle gespielt – doch weder die führenden Fachbücher zu ökonomischen Ideen noch andere Wirtschaftstexte haben ihnen viel Platz eingeräumt“ (65). Dabei „können wir den Einfluß des jüdischen Denkens auf das gegenwärtige Stadium der freien Marktwirtschaft gar nicht überbewerten“ (121). Der Autor, so sei hier eingeschoben, verwendet die Bezeichnungen Jude, Hebräer oder Israeli synonym. Mit den führenden Köpfen, die wirtschaftsgeschichtliche Fragen diskutieren, ist er sich über die ausschlaggebende „Bedeutung des Beitrags des jüdischen Denkens und seiner Rolle bei der Entwicklung der modernen kapitalistischen Ökonomie“ einig. Die Juden sind es, die den Himmel auf die Erde holten: „Die hebräische Religion ist also stark mit dieser Welt verbunden, nicht mit irgendeiner abstrakten Welt“ (67). Die Juden bringen uns die Idee des Fortschritts, ihr Zeitverständnis ist linear, nicht, wie für Gilgamesch, zyklisch, Zeit hat für sie Anfang und Ende. Am Ende kommt der Messias, bringt allen Völkern das „gute Leben“, das Paradies auf Erden, Wohlstand und ewigen Frieden. Mit dem Kommunismus hat Marx diese religiöse Vorstellung in eine säkularisierte Form gebracht.

Reichtum ist keine Schande

Für Juden ist Reichtum keine Schande, ihre Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob, die Begründer des Judaismus, waren alle reich. Reichtum, auch wenn er nur der Befriedigung durch und durch irdischer Bedürfnisse diente, betrachteten die Hebräer als Ausdruck der Gnade Gottes. Sich an äußeren Gütern zu erfreuen und leibliche Bedürfnisse zu befriedigen, ist für Juden keine Sünde, ist doch auch die materielle Welt von einem guten Gott erschaffen. Askese und Armut gehören nicht zu den von Juden gepflegten Tugenden. „Die Religion des Alten Testaments agierte nicht als asketische Religion, sie untersagte irdische Freuden nicht. Ganz im Gegenteil“ (97). Die Helden der Juden sind keine Heiligen, sondern eher „Trickster“ (75) und manches Mal heroisch Leidende wie Ijob und Jesaja. Sie machten aus ihren Königen und Herrschern keine Götter, sondern wiesen ihnen ihre Fehlbarkeit nach und unterwarfen sie scharfer Kritik. Sie verließen sich lieber auf die Richter, die weniger Exekutivmacht hatten. Politik konnte hinterfragt werden, sie ist alles andere als unfehlbar. Heute wird Politik und Politikern kaum noch Vertrauen entgegengebracht oder Kompetenz zugetraut. Und was die Ablehnung von Askese für den Konsum bedeutet, braucht hier nicht besonders hervorgehoben zu werden, haben wir doch die Konsumankurbelei und das Güterwachstum zu einer säkularen Religion gemacht. Wir sind in die Wachstumsfalle hineingetappt und glauben, Güterfülle bedeute mehr Glück und Zufriedenheit. Wir merken gar nicht, wie teuer sie oft erkauft ist. Manchmal nämlich durch Schulden, die uns zu Sklaven machen.

Nur noch Arbeitstier?

Nicht weniger bedeutsam ist die Einstellung zur Arbeit. Anders als bei den Griechen, ist für Juden Arbeit ursprünglich nicht mit Erniedrigung verbunden. Arbeit im Paradies sollte Adam Spaß machen, ihm war die ganze Schöpfung zur Pflege anvertraut, er „herrschte über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, die Tiere, die sich auf dem Lande regen“, sie alle folgten ihm aufs „Wort“. Der Mensch sollte als Vollender der Schöpfung fungieren. Leider hat sich das mit dem Sündenfall geändert. Vertrieben aus dem Paradies, muß er nun „sein Brot im Schweiße seines Angesichts essen“. Arbeit wurde zum Fluch, der Mensch zum „Roboter“. Robotnik ist das slowakische Wort für „Arbeiter“.
Doch nach jüdischer Auffassung soll der Mensch nicht zum Arbeitstier werden, noch soll die Ökonomie die Gemeinschaft zerstören. Wie Gott bei seiner Schöpfungsarbeit, so sollte auch der Mensch am siebenten Tage ruhen, nachdenken und sich sammeln. Im 7. Jahr sollte der Boden ausruhen und nicht bebaut werden. Alle sieben Jahre sollten auch die Hebräer, die durch hohe Schulden in die Sklaverei gefallen waren, von ihren Herren aus der Sklaverei und in die Freiheit entlassen werden. Alle sieben mal sieben, also nach 49 Jahren sollten alle Schulden erlassen werden und das Land an die ursprünglichen Stammesfamilien zurückgegeben werden. Das Wachstum des BIP war also nicht das letzte Ziel aller wirtschaftlichen Aktivitäten, die „Sabattökonomie“ beschränkte es, sogar auf Grund strikter göttlicher Gebote. Gesetzliche Ruhetage, Bodenbrache, Forderungsverzicht, Restitution, ist das ökonomisch vernünftig? Sicher nicht. Ökonomen würden ja zwecks Optimierung am liebsten die Pausen in einer
Sinfonie streichen, spottet Vaclav Havel im Vorwort, Pausen „ sind ja schließlich zu nichts gut, sie halten nur den Lauf der Dinge auf, und die Mitglieder des Orchesters können doch nicht dafür bezahlt werden, daß sie nicht spielen…“ (10).

Glück läßt sich nicht messen

Für die Wirtschaftsauffassung der Griechen haben Poesie und Philosophie größte Bedeutung. Zur Arbeit sind wir Menschen nach Hesiod verdammt durch die Strafe, welche die Götter über den „krummgesinnten Prometheus“ verhängten, der ihnen das Feuer raubte. Tiere brauchen kein Feuer, wir brauchen es zum Leben. Manches Mal verbrennt es uns. So wie in Sodom und Gomorra, Hiroshima, Nagasaki, Fukushima, Tschernobyl. Pythagoras lehrte uns Zahlen („numbers“) zu schätzen, aber Zahlengläubigkeit kann man auch übertreiben. Das, worauf es im Leben ankommt, „Glück“, messen sie nicht. Was Glück ist, haben uns Sokrates, Platon und Aristoteles beizubringen versucht, nämlich ein fortwährendes Streben nach dem „Guten“ im persönlichen Leben wie in der Gesellschaft. Sie räumten jeden Zweifel aus über das, was denn das Gute sei, nämlich das göttergleiche, ewig Wahre, Schöne und Gerechte. Es sollte Menschsein und Ordnung im Staate bestimmen. Doch das Gute, so lehrten sie es uns, wird einem nicht geschenkt, zu erreichen ist es nur durch große Anstrengung, Führung und Erziehung zur Tugend. Weisheit, Gerechtigkeitssinn, Klugheit, Tapferkeit, Maßhalten und die überschießenden Triebe zähmen, das gelte es zu entwickeln und dazu müsse auch der Staat, die ganze Politik und selbst die Wirtschaft in die Pflicht genommen werden.

Es gibt kein gutes Leben im falschen

Den Griechen war bewußt, daß der Mensch, dieses „zoon politicón“, dieses auf die „polis“, die Gemeinschaft oder Gesellschaft angewiesene „Tier“, den gutgeführten Staat braucht, um ein gutes Leben führen zu können. Die Staatsführung sollte deshalb den „Weisen“ vorbehalten werden, denn „bevor nicht die Philosophen Könige werden oder die Könige Philosophen“ sei an ein Ende der ärgsten Übel im Staate nicht zu denken. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Wo Demagogen herrschen – Platon nennt sie „Volksverführer“ – ist mit dem guten Leben Schluß. Bald zweieinhalb Jahrtausende nach Platon und Aristoteles findet Theodor Adorno für die Einsicht dieser beiden griechischen Meisterdenker in die Notwendigkeit einer rechtgestalteten und -geführten „Polis“ (= Stadt, Gesellschaft, Gemeinschaft, Staat) die prägnante Formulierung: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Für manche Güter gibt es keinen Markt

Allergrößten Einfluß auf die Entwicklung der modernen Ökonomie hat das Christentum genommen. „Ohne das Christentum“, so die gewagte These von Tomáš Sedláček, „wären die heutigen westlichen Demokratien mit ihrer freien Marktwirtschaft kaum denkbar“ (170). Dem Christentum ist es gelungen, wesentliche Elemente des jüdischen und griechischen Denkens aufzunehmen, mit seinem Erlösungsglauben eine neue Dimension hinzuzufügen und so zur „ Entwicklung der europäisch-amerikanischen Zivilisation“ (170) wesentlich beizutragen. Zumindest lehrte es uns, den weltlichen Dingen nicht Priorität zuzuerkennen, denn hier auf Erden haben wir keine ewige Heimstätte. Zum Unterschied zum Judentum wird Armut gepriesen. Für das Heil der Seele gibt es keinen Markt, was für uns von wirklichem Wert ist – Freundschaft, Liebe, Selbstzufriedenheit – kann man nicht kaufen. Reichtum öffnet keine Tür zum Himmelreich, der Reiche kommt nicht durchs Nadelöhr.

Gerechtigkeit ist in der Welt nicht zu haben

Neunzehn von dreißig Gleichnisreden Jesu schneiden ökonomische Fragen in einer Weise an, die Ökonomen vor den Kopf stoßen. Die Arbeiter im Weinberg erhalten abseits jeder Form von Gerechtigkeit gleichen Lohn für ungleiche Leistungen. Die Verschwendung des Verlorenen Sohnes wird vom Vater dem Fleiß seines Bruders vorgezogen. Der barmherzige Samariter verzichtet auf Kompensation. Die wiedergefundene Drachme wird sogleich verfeiert. Die zwei Münzen, welche die arme Witwe in den Opferkasten wirft, sind mehr wert als die vielfach größere Spende des Wohlhabenden. Die überreiche Ernte einzulagern, wird als wenig sinnvoll bezeichnet. Sich um die Nahrung für den nächsten Tag zu sorgen, erscheint überflüssig, die Sperlinge, für die der Herr sorgt, tun es ja auch nicht (180).
Von überragender Bedeutung ist die Streichung von Schulden. Der Betende bittet den Herrn um die Vergebung seiner Schuld und verspricht auch seinen Schuldigern zu vergeben. Die Schuldner werden von Christus „losgekauft“, und das sogar unter Opferung des eigenen Lebens. Heute halten wir das Versprechen der Schuldvergebung ein, indem wir unsoliden Staaten und Banken ihre Schulden erlassen
und sie mit Unsummen loskaufen, die umso größer sind, je mehr sie versagt und je unökonomischer sie gehandelt haben. Den Gestrauchelten aufzuhelfen, gehört zum Liebesgebot. Unsere ganze moderne Gesellschaft, so Tomáš Sedláček, „kann ohne die ungerechte Vergebung von Schulden nicht funktionieren“ (174). Marktwirtschaft und Wettbewerbsregeln werden in der Krise ohne Hemmung außer Kraft gesetzt.

Glück ist ein Geschenk

Das Schenken und die „Gnadengabe“ gehören zum Christentum wie das Amen zum Gebet. Die Erlösung ist kostenlos, wir können sie uns nicht „verdienen“, weder durch gute Werke noch Taten (174 f). Für Menschen, die sich nahe stehen oder in einer Gemeinschaft zusammenleben, spielt Geld und Bezahlung gar keine oder höchstens eine sehr untergeordnete Rolle. „Freunde sind Menschen, die sich gegenseitig so viel schulden, dass sie vergessen, wie viel“ (178). Ihre Beziehung in Geld oder Preisen auszudrücken, gilt als „vulgär“. Der Vorwurf der „Profitgier“ wird als kränkend empfunden. Privateigentum ist kein absolutes Recht, „die Erde gehört allen gemeinsam“, die Ausübung von Besitzrechten steht unter dem Gemeinwohlvorbehalt (vgl. 193). In den frühchristlichen Gemeinschaften „nannte keiner von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam“ (195, unter Bezug auf die Apostelgeschichte 2, 44 – 4, 35). Tomáš Sedláček ist der Ansicht, daß die Kommunisten den Christen die Idee des Gemeineigentums verdanken, fügt allerdings hinzu, die Geschichte zeige, „daß die marxistische Vision vom Kommunismus keine funktionierende Alternative zum Kapitalismus bieten konnte“ (vgl. 195).

Den idealen Staat gibt es nicht

Mit der Verurteilung der irdischen Welt als „civitas diaboli“ durch Augustinus wurde uns für immer eingeprägt, daß es auf dieser Erde weder den idealen Staat geben, noch den Bürgern der „civitas terrena“ Gerechtigkeit zuteilwerden kann. Das Böse kann nicht ausgerottet werden, Unkraut und Weizen gedeihen nur gemeinsam. Das „laissez faire, laissez passé, le monde va de lui même“ der Liberalen findet nach Tomáš Sedláček hier einen seiner Ursprünge. Noch ältere hat er bei den Stoikern und Aristophanes entdeckt (vgl. 203).
Mehr Wirklichkeitssinn als von Augustinus erhielt das Christentum erst durch Thomas von Aquin (1225–1275) und der von ihm vorgenommenen „Taufe“ des Aristoteles. Statt Weltverneinung erfolgt jetzt Weltbejahung. „Gott ist in allen Dingen“ (Summa theologica, I, 8, Art. 1), alles was Dasein hat, ob lebendig oder nicht, ob materiell oder geistig, ob vollkommen oder armselig, ja, ob gut oder böse, ist „heilig“ (199), „denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut“ (200). Ontologisch gesehen, ist jedes Phänomen (Ding, Tatsache), wenn auch noch so unvollkommen und verzerrt, Ausdruck seines „Wesens“ (Noumenon), und dieses ist immer „gut“. „Es existiert kein Böses an (und für) sich“, es gibt kein Heil ohne Unheil, kein Licht ohne Dunkel, „selbst Satan, die Verkörperung des Bösen, spielt eine Doppelrolle: in seiner bösen Rolle hat er die Funktion zu etwas Gutem beizutragen“ (204), er ist „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ (205).

Kein Böses ohne das Gute: Gott pflügt mit dem Teufel

Hier wagt sich Tomáš Sedláček außerordentlich weit vor. Die größten Greueltaten wurden, wenn auch irrtümlich, in dem Bemühen begangen, irgendetwas Gutes zu bewirken (202). „Selbst die großen Übel (wie der Holocaust und die Hexenverbrennungen) werden unter dem Vorwand (rhetorisch, aber auch aus Überzeugung vieler heraus) begangen, daß hinter diesem Bösen ein größeres Gutes steht (die Nazis führten an, das deutsche Volk brauche einen größeren Lebensraum, die Inquisitoren, sie würden die Welt durch ihr Handeln vom Bösen befreien).“ Die Einfügungen in Klammer finden sich im Original!
Diese Passage hat Tomáš Sedláček den Vorwurf des Antisemitismus eingetragen, doch damit wird er wohl fertig werden. Seine zugespitzte Aussage entspricht nicht nur katholischer Lehre, sondern der Logik. „Es ist unmöglich, Böses zu tun, ohne daß es etwas Gutes gäbe, um dessentwillen man das Böse tut“ (201, unter Berufung auf Thomas v. A., Summa contra gentiles, III. Buch, Kapitel 4, 6–7).

Der Vernunft eine Gasse, doch ohne Vorfahrt

Durch Thomas von Aquin wurden Vernunft und Logik gegenüber dem Glauben ihr Recht eingeräumt, eine Tat, die für die spätere, „wissenschaftlich“ geprägte Zivilisation und ihre Ökonomie ausschlaggebend wurde. Anders als für Martin Luther, für den die Vernunft „des Teufels Braut“ und eine „Metze“ ist (209), besteht der Aquinate darauf, daß natürliche Vernunft und rechter Glaube sich niemals widersprechen können, denn Gott, der ja selbst Geist ist und sich im Logos der Schöpfung offenbart, täuscht weder sich noch uns. Auflehnung gegen die Vernunft ist gleichbedeutend mit der Auflehnung gegen Gott. Der „Vernunft als Vertretung Gottes im Menschen“ kommt es zu, zu herrschen, nicht auf sie zu hören und entsprechend zu handeln, ist für Thomas „Sünde“ (210). Eine höhere Anerkennung kann der Vernunft nicht zuteilwerden, sie ist Ausgangspunkt für den „Rationalismus“, der in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft bald triumphieren sollte. Doch die Träume der entfesselten Vernunft „produce monstruos“, zeigt uns Goyas berühmtes Bild. Durch übertriebene Rationalisierung wurden Großbetriebe, Verwaltungen und Büros für viele Arbeitnehmer zu frustrierenden, „stählernen Gehäusen der Hörigkeit“ (Max Weber), die ihnen die Lebensfreude nahmen und sie zu Eskapisten machten.

Der Mensch, das gesellige Wesen, braucht Ordnung und Führung

Besondere Beachtung verdient das Hohelied der Gemeinschaft, mit dem Tomáš Sedláček, gestützt auf Thomas von Aquin, jede individualistische Gesellschaftsauffassung, wie sie heute in liberalen Kreisen gang und gäbe ist, in die Schranken weist. „Es ist aber die natürliche Bestimmung des Menschen, das für gemeinschaftliches und staatliches Leben erschaffene Geschöpf zu sein, das gesellig lebt“, weil es anders seinen Zweck nicht erreicht und auch nicht an den Kulturgütern teilnehmen kann, welche die Gesellschaft ihm bieten. „Wenn er (der Mensch) jedoch in einer Gesellschaft lebt und deren Vorteile nutzen will, muß er Teil der Ordnung sein, die es der Gesellschaft ermöglicht, ein gemeinsames Ziel anzustreben“ (212). Als Teil der Ordnung muß er sich der Führung der Gesellschaft, die auf das gemeinsame Wohl Bedacht nimmt, unterordnen, denn „wo kein Regent ist, zerstreut sich das Volk“ (209, unter Berufung auf Spr. 11, 14). Die Gesellschaft braucht also einen „Steuermann, der am Ruder steht“(209). Wenn jeder nur auf das bedacht ist, was ihm nützt, würde die Gesellschaft auseinandergeraten.

Was bleibt außer dem Zweifel?

Die auf die lutherische Verneinung der Autorität von Vernunft und Kirche folgenden politischen Wirren, der dreißigjährige Glaubenskrieg (1618–1648), ließen Zweifel an allem aufkommen, was bis dahin durch Offenbarung, Dogma, Sitte, Recht, Brauchtum oder breiten Konsens als gesicherte Wahrheit galt. Diesen Zweifel griff einer der schärfsten Denker jener Zeit auf, René Descartes (1596–1650). Er ließ nur eine einzige Gewißheit zu, daß er – wie auch jeder andere Mensch – es nämlich selbst ist, der da zweifelte und nach Erkenntnis des Wahren ringt: Cogito ergo sum. Das „Ich“ oder „Subjekt“, ausgesetzt einer Vielfalt von äußeren Eindrücken, Erfahrungen und Einflüssen unterschiedlichster Art und Stärke, wie konnte es da zu einer allen gemeinsamen und von allen anerkannten Wahrheit gelangen, einem Wissen, daß jedem zugänglich sein sollte? Mit der Stellung dieser Frage leitete Descartes das bis heute andauernde „wissenschaftliche Zeitalter“ ein. Ab nun setzte sich wissenschaftliches Denken zum Ziel, „eine Methode zur Untersuchung der Welt durchzudrücken, die keinen Zweifel zuließ und frei von jeder subjektiven, disputablen Dimension war“ (215). Das war nur möglich durch Beschränkung auf die „körperlichen“ Teile der Welt, die mit den Sinnen erfaßt, gezählt, gemessen und gewogen, deren Bewegungen im Raum beobachtet und zueinander in Beziehung gesetzt werden konnten. Wissenschaft war von nun an nur das, was beobachtet und durch Experiment bewiesen werden konnte. „Unsichtbaren Dingen“, von denen im Credo die Rede ist, oder „Werte“, die auf subjektiven Empfindungen und Urteilen beruhen, waren von da an keine Gegenstände der „science“ mehr. Die Gegenstände oder „Objekte“ der Wissenschaft, die physischen Körper, zerlegte die Atomistik in ihre kleinsten Teile, die Mechanistik erfasste ihr Zusammenwirken, die aufgefundenen Regelmäßigkeiten wurden als Naturgesetze formuliert und ausgedrückt in einer kulturunabhängigen, allen gemeinsamen Sprache: der Mathematik.

Das ökonomische Kalkül

Tomáš Sedláček sieht in dieser kartesianischen Beschränkung und Methode „den großen Durchbruch, besonders für Ökonomen“. Der kleinste Teil der Wirtschaft ist das Individuum, das nicht mehr teilbare „Atom“ der Gesellschaft, das, so gut es nur kann, seinen „Nutzen“ sucht, mithin der berühmte „homo oeconomicus“. Seine hedonistische (A-)Moral stammt von Epikur. Seine mathematische und mechanistische Seite verdankt er Descartes. Der homo oecomicus „ist ein mechanisches Konstrukt, das gemäß unfehlbaren mathematischen Prinzipien und durch reine Mechanik funktioniert“ (218). Das Individuum, „der Mensch wird nicht im Kontext der Gesellschaft definiert“ (226), er wird reduziert „auf ein mechanisch-mathematisches Kalkül“, auf „eine mathematische Gleichung: kalt, distanziert, für alle gleich, historisch und räumlich konstant“ (226), eine Rechenmaschine, für die es gleich ist, ob sie in China oder in der Schweiz ihre ökonomischen Kalküle von Nutzen und Aufwand, Ertrag und Kosten, Lust und Unlust, ausführt. „Das einheitliche, fundamentale und alles erklärende Prinzip, zu dem die Ökonomie bei nahezu jeder Gelegenheit neigt, ist verständlicherweise das Selbstinteresse“ (219), der Egoismus, die Selbstsucht. In allem sein Selbstinteresse zu verfolgen, gehört seit Descartes zum Prinzip der Wirtschaftstheorie des Mainstreams. Die herkömmliche Theorie besteht darauf, keine ethische Wissenschaft zu sein und daher zwischen Gut und Böse nicht zu unterscheiden. Moralische „Werturteile“ verbannt sie in die subjektive Sphäre.

Die Verwandlung von Amoral in Moral

Der Zynismus dieses Systems findet eine kaum überbietbare Darstellung in der berühmten „Bienenfabel“ des Bernhard von Mandeville, durch welche private Unmoral und Laster („private vices“) als Beitrag zum Gemeinwohl („public benefits“) gefeiert werden. Als sie 1723 in zweiter Auflage erschien, rief sie eine riesige Kontroverse hervor, denn alle Gutmenschen und Moralprediger der damaligen Zeit sahen sich der Heuchelei angeprangert und überführt. „Mandeville begründete die Auffassung, daß der materielle Wohlstand umso größer ist, je mehr Laster es gibt. Das ursprünglich universelle Konzept des Zusammenhangs zwischen Ethik und Ökonomie, dem wir schon im Alten Testament begegnen, wird auf den Kopf gestellt“ (230). Er „war derjenige, der das Konzept in das westliche Mainstream-Denken einführte, daß moralische Laster des Einzelnen dem Ganzen wirtschaftlichen Wohlstand bringen können“ (231). Er, „nicht Smith, muß als erster moderner Ökonom gelten“ (231). Seine These: „Es gibt keinen Handel ohne Betrug, keine Obrigkeit ohne Bestechung und Korruption“ (232), sie sind Bedingung für eine florierende Gesellschaft. Wenn der Luxus zusammen mit den oberen, lasterhaften Gesellschaftsschichten schwindet, haben die „kleinen Leute – Bauern, Diener und Dienstmädchen, Schuhmacher und Schneider – unter der gesunkenen Nachfrage zu leiden“(233).

„Stolz, Luxus und Betrügerei
Muß sein, damit das Volk gedeih …
Mit Tugend bloß kommt man nicht weit;
Wer wünscht, daß eine goldene Zeit
Zurückkehrt, sollte nicht vergessen:
Man mußte damals Eicheln essen“

Mit der Pflege der Kardinaltugenden wird kein Suppentopf gefüllt und kein Rock genäht (vgl. 235). Auf welches Wirtschaftssystem haben wir uns da eigentlich eingelassen? Wagen wir es, diese Frage überhaupt noch zu stellen?

Durch die unsichtbare Hand wird aus Gier Fortschritt

Die Wandlung oder Transsubstantiation von Selbstinteresse in Gesamtinteresse, Eigennutz in Gemeinnutz, Eigenwohl in Gemeinwohl geschieht, so unser neuer Glaube, durch eine mystische, geheimnisvolle, „unsichtbaren Hand“ („invisible Hand“), deren wunderbares Wirken Mandeville einige Jahre vor Adam Smith wiederentdeckt hat. Und auch dem Markt ordnet er hohe Bedeutung zu. „Nach Ansicht von Mandeville sind die Märkte nicht nur Koordinatoren der menschlichen Interaktionen, sondern (sie) können auch persönliche Laster in öffentliche Vorteile verwandeln“ (239). Selbst Gier, dargebracht auf dem Altar des Marktes, wird zum „Heilsgut“ oder „Sakrament“: Gier ist „notwendige Bedingung für den Fortschritt einer Gesellschaft“ (238). „Mandeville war eindeutig ein Befürworter des hedonistischen Programms“, ja „er ging sogar noch weiter als die Hedonisten: Unsere Nachfrage muß immer weiter wachsen, denn das ist … der einzige Weg zum Fortschritt. In dieser Hinsicht ist die moderne Ökonomie aus seinem Denken erwachsen“ (238). Nie mehr sollten wir zufrieden sein mit dem, was wir haben, denn das würde Stillstand bedeuten. Der „Bliss Point“ (Sättigungspunkt) wird umso schneller höhergeschraubt, je mehr wir uns ihm nähern. Massen arbeiten in Jobs, „die sie hassen, nur damit sie kaufen können, was sie gar nicht wirklich brauchen“ (299). Ist Ziel der Wirtschaft mehr Wirtschaft? Wie kann mehr Wirtschaft ökonomisch sein? Hängt Ökonomie nicht mit dem richtigen Haushalten zusammen, dem Kräfte Sparen, dem „Optimieren“? „Wenn die Ökonomie ihr Ziel verliert, bleibt uns nur noch eines – ein Wachstum, das nichts kennt als sich selbst, da es kein Ziel als Maßstab hat“ (301).Ist Ziellosigkeit unser Ziel? „Die ganze Produktion scheint eine Leere zu füllen, die sie selbst erzeugt“ (303).

Der schizophrene Adam Smith

Joseph Schumpeter, der in seinem Leben der größte Don Juan, der größte Herrenreiter und der größte Nationalökonom werden wollte (und bedauerte, die beiden ersten Ziele nicht erreicht zu haben), hatte für einen Hagestolz wie Adam Smith, der nie mit einer anderen Frau als seiner Mutter verkehrte und die Schönheiten und Leidenschaften des Lebens nur aus Literatur kannte, nichts übrig. Er sprach ihm auch als Nationalökonom jede Originalität ab, „denn keine einzige analytische Idee oder Methode und kein analytisches Prinzip“ hätte er neu hervorgebracht (263). Er war sich darin mit Friedrich August von Hayek einig, der sich weigerte, in Adam Smith einen großen Ökonomen zu sehen (ebenda). Tomáš Sedláček – und mit dieser Ansicht ist er keineswegs allein – hält ihn gar für schizophren (vgl. 253), lehnt Smith doch in seinem Buch über die Theory of Moral Sentiments Selbstsucht und Eigeninteresse als verwerflich ab, während er sie in den Wealth of Nations als „die einzige, offenbar ausreichende Verbindung zwischen den Menschen“ ansieht und zur Notwendigkeit von Sympathie, gegenseitigem Wohlwollen und moralischen Gefühlen als Kitt der Gesellschaft „kein einziges Wort sagt“ (252). Für Sedláček kann Smith als Moralphilosoph gelten, „nicht als Ökonom“. Zum „Vater der klassischen Nationalökonomie“ wurde Smith nur bei Freunden der kartesianischen Engführung dieser Wissenschaft, welche bis heute in der Nutzenmaximierung des Egoisten ihr einigendes und einziges Prinzip sehen.

Die Entleerung des Nutzenbegriffs macht die meisten Lehrbücher zur Makulatur

Diesen Freunden wirft Tomáš Sedláček vor, den Nutzenbegriff derart von jedem Inhalt entleert zu haben, dass er jede Bedeutung verlor. Gary S. Becker bekam 1992 seinen Nobelpreis für die absurde These, daß alle menschlichen Entscheidungen, seien es wichtige wie die Ehe, oder auch nebensächliche, wie der Kauf einer Kinokarte, durch den ökonomischen Ansatz abgedeckt werden. Wie alle Ökonomen des Mainstreams brachte er damit die Ansicht zum Ausdruck, „daß jeder – ganz egal was er macht – seinen Nutzen maximiert“ (279). Doch was bedeutet das Wort „Nutzen“? „In der Flut der ganzen mathematischen Definitionen, haben unsere ‚strengen‘ Lehrbücher aber leider vergessen, zu definieren, was der Begriff ‚Nutzen‘ eigentlich bedeutet“. Das geschah ganz mit Absicht, denn wenn ihre Verfasser „eine Definition des Nutzens liefern würden, würden die Studenten schnell das Interesse an ihren Büchern verlieren“ (280). Sie wären bloß noch Makulatur. Die Jahre, die sie Studenten zwingen, sich mit Tausenden von Optimierungsrechnungen zu befassen, täuschen darüber hinweg, daß ihr Erkenntnisgewinn auf tautologischen Leerformeln beruht, nach dem Muster „TautoUtlity, MaxU“ (279). Ob der homo oeconomicus untätig herumsitzt, mit seinen Kindern plaudert, schläft oder arbeitet, er kann gar nicht anders als in allem, was er macht, seinen Nutzen zu maximieren. Damit tappen die Ökonomen in die poppersche Falle der Unüberprüfbarkeit ihrer Modelle: Wenn es für den homo oeconomicus ausgeschlossen ist, seinen Nutzen nicht zu maximieren, sind Theorie und Modelle, die sein Verhalten erklären wollen, „de facto sinnlos“ (283), sie können nicht „falsifiziert“ werden. Heute macht sich sogar der Nobelpreisträger Paul A. Samuelson – nach Sedláček der „orchestrator of the orchestration“ des uniformen Mainstream-Denkens ganzer Generationen von Studenten aller Kontinente – über den tautologischen Inhalt des „Gesetzes von Angebot und Nachfrage“ lustig: Warum ist der Preis von Schweinefleisch so hoch? Weil der Preis für Futtermais so hoch ist. Und warum ist Preis für Futtermais so hoch? Weil der Preis von Schweinefleisch so hoch ist!

Ökonomie ist keine wertfreie und empirische, sondern eine normative Sozialwissenschaft

„Blasphemische Gedanken“ überschreibt Tomáš Sedláček den zweiten und letzten Teil seines Buches.
Blasphemisch sind die geäußerten Gedanken, weil sie allen wesentlichen Annahmen und Methoden der herkömmlichen Wirtschaftstheorie und ihren prominentesten Vertretern widersprechen. Wir fassen hier seine wichtigsten Aussagen zusammen:
Für Tomáš Sedláček ist die Ökonomie keine empirische Wissenschaft. Es gibt in ihr keine „Gesetzmäßigkeiten“, die sich aus Erfahrungen, Beobachtungen oder Zeitreihen ableiten ließen. Mit ökonometrischen Methoden lassen sich keine Kausalverhältnisse feststellen, z. B. läßt sich die Inflation nicht immer durch die Geldmenge erklären. „Die Benutzung ökonometrischer Modelle für die Projektion der wahrscheinlichen Ergebnisse verschiedener politischer Entscheidungen … gilt weithin als nicht zu rechtfertigen oder sogar als Hauptursache der Probleme, die in letzter Zeit aufgetreten sind“ (366, unter Berufung auf Jeffrey Sachs, Christopher Sims und Stephen Goldfeld: Policy Analysis with Econometric Models, Cambridge 1997, S. 107).
 „Mathematik ist eine reine Tautologie.“ (363). „Numerische Einheiten … tragen ihre Existenz in sich, beziehen sich auf nichts, verweisen auf nichts, repräsentieren nichts, stehen für nichts, zeigen nichts an und bedeuten nichts außer sich selbst“ (361). Mathematik hat zur äußeren Welt von sich aus keine Verbindung, die entsteht erst in unserem Kopf. Mathematik benutzen wir als Sprache zur sehr eingeschränkten Beschreibung der Welt. Wir können die Sonne als Kreis beschreiben, doch sie ist für uns weit mehr. So ist es auch mit mathematischen Modellen. Sie bilden die Realität, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt ab. Ihre Ergebnisse sind nur logische Ableitungen aus getroffenen Annahmen. Ändern sich die Annahmen – und die ändern sich im Zeitverlauf immer – dann auch die Ergebnisse. Mathematische Modelle eignen sich daher auch nicht für Prognosen. Kein mathematisches Modell konnte vor dem Zusammenbruch von Märkten schützen (356).
Die Ökonomie ist keine wertfreie, positivistische Wissenschaft. Sie trifft Aussagen über das, was „ist“ (Analyse), was sein „soll“ (angestrebter Zustand, Ziel) und über die Wege (Maßnahmen, Politik), wie das „Soll“ erreicht werden kann. Urteile über „wirtschaftlich“ und „unwirtschaftlich“, „produktiv“ oder „unproduktiv“, „effizient“ oder „ineffizient““, „exzellent“ oder „dürftig“, „gut oder böse/schlecht“, sind grundsätzlich normativ oder „value loaded“ (Nobelpreisträger Gunnar Myrdal), sie orientieren sich an „Vollkommenheitszuständen“.
Der kartesianische Ansatz der herkömmlichen Ökonomie ist nicht zu halten. Das isolierte, an allem zweifelnde „Ich“ existiert nicht. Die individualistische Gesellschaftsauffassung, derzufolge die Gesellschaft nur eine Summe von Individuen ist, entspricht nicht der Realität. Der Mensch ist von seiner Natur her ein Gemeinschaftswesen, er wurde „geschaffen als Mann und Frau“ (Gen 1, 27), er existiert nur als „geselliges Wesen“, als animal culturalis et socialis. Er ist kein „Individuum“, sondern „Person“, in welcher der Geist der Gemeinschaft „tönt“, durchklingt und Ausdruck findet.
Die einzelne Person handelt daher immer nur als „Gemeinschaftswesen“, als „Organ“ einer Gemeinschaft, in deren Auftrag und für diese. Auch das Individuum, der einzelne Mensch, ist kein homo oeconomicus, der selbstsüchtig seinen Nutzen abwägt, sondern er ist eine Person, die ihre Aufgaben und Pflichten gegenüber der Gemeinschaft mehr oder minder gut erfüllt und dafür von dieser entsprechend geachtet und gesellschaftsüblich (z.B. Beamtengehaltsschema, Kollektivvertrag, im Familienverband häufig auch nichtmonetär!) belohnt wird.
Wie die einzelne Person, so steht auch die ganze Wirtschaft im Dienst des Gemeinwohls, des bonum commune. Wirtschaftlich primär ist darum nicht das Wohl des Einzelnen, sondern des „Ganzen“. Das „Ganze“, die Gemeinschaft, hat den Vorrang vor den Teilen, den „Angehörigen“, den „Mitgliedern“. Ihre Aktivitäten und Besitztümer stehen unter Gemeinwohlvorbehalt. Den Nachweis für diesen Vorrang bringt Tomáš Sedláček im kulturgeschichtlichen Teil seines Buches (Gilgamesch, Judentum, Griechentum, Christentum).
In den Bereich der Wirtschaft fällt die Bereitstellung der äußeren Mittel, welche für die Erreichung der von der Gemeinschaft oder „Gesellschaft“ vorgegebenen Ziele notwendig sind. Obwohl betroffen, entscheidet über diese Ziele nicht das einzelne Individuum, es nimmt höchstens Teil an diesen Entscheidungen und beeinflusst sie als mitbestimmendes Glied der Gemeinschaft. Alle wesentlichen, wirtschaftlich relevanten Entscheidungen werden nicht nach Nutzenkalkülen getroffen, sondern „politisch“ nach den Zielen oder Bedürfnissen der jeweiligen Gemeinschaft (der Nutzen von „to put a man on the moon“ ist keine Rechengröße!). Entschieden wird von den Repräsentanten der Gemeinschaft darüber, welcher Aufwand oder welche Kosten vertretbar erscheinen, und welche nicht. Politische Entscheidungen werden gefällt im politischen „Prozess“. „Die“ Wirtschaft kann in diesem Prozess nur ihren Sachverstand einbringen, der sich auf die Bereitstellung der Mittel bezieht.
Mit Paul Feyerabend warnt Tomáš Sedláček vor den „Irrwegen der Vernunft“. Der Versuch, die Realität an falsche Denkansätze und Modelle anzupassen und zu vergewaltigen, ist nicht nur für die Wirtschaft von Nachteil, er kann ganze Kulturen und Völker „abschaffen“. Beide fordern auf, die Spanischen Stiefel auszuziehen, die uns an Grenzüberschreitungen hemmen und wieder mehr auf unsere innere Stimme zu hören, welche neue Wege weist: „Farewell to reason“, „anything goes.“ (vgl. 396).

Ein Plädoyer für „wildes Denken“

Mainstream-Ökonomen werden sich damit abfinden müssen, dass sie von Fachkollegen herausgefordert werden, welche mit Tolkiens „Herr der Ringe“ oder dem Film „Matrix“ die Ökonomie neu interpretieren.
Solche Fachkollegen warnen vor einem Volk wie die „Orks“, dessen Angehörige wie verrückt daran arbeiten, das Bruttoinlandsprodukt zu steigern, und dunklen Mächten als willige Vollstrecker dienen. Die Vertreter dieser neuen Generation von Fachkollegen halten es lieber mit den Elben, jenen Zauberwesen, die in ihren Träumen, Geschichten und Mythen leben und vieles, was sie an Wertvollem besitzen, aus der Vergangenheit schöpfen. Sie schätzen immaterielle Güter höher als materielle und wissen, daß geistiges Kapital der wichtigste Produktionsfaktor ist, um, wie Tomáš Sedláček meint, „alles nach oben zu ziehen“.
Er und seine Freunde sympathisieren mit den „Auserwählten“ im Film, die Widerstand gegen die „Matrix“ leisten, die die Menschen durch eine hochkomplexe Computersimulation in einer virtuellen Welt gefangen- hält, welche Realität suggeriert und von den Gefangenen als „Energielieferanten“ auch noch erhalten wird. Sie loben den Hacker „Neo“ – heute Assange, Manning, Snowden – der das System knacken will, jedoch verfolgt und vom Agenten des Systems, (Adam?) Smith, erschossen wird. Im Film wird der Tote durch den Kuß seiner Komplizin und Freundin „Trinity“ wieder auferweckt. Er fängt dann an, ein paar Menschen aus der „Matrix“ zu befreien, um dann bald nach Art des Superman in den Lüften zu entschwinden. Die biblische Geschichte wird so den Kindern von heute nahegebracht, freut sich Tomáš Sedláček, und auch darüber, daß die Zahl seiner Hörer in der Welt von Tag zu Tag wächst.
Vielleicht hängt mit dem Durchbruch, den er durch sein Buch erzielt hat, zusammen, daß nun auch „The Other Austrians“ (T. Ehs, 2011), sehr zum Missfallen der Linken und Liberalen, neues Interesse erwecken. Diese „anderen Österreicher“ – schon 1953 hat F. A. Graf von Westphalen für die Kongressbibliothek der USA einige von ihnen gewürdigt – haben nie aufgehört eine „ganzheitliche“ oder christlich-naturrechtliche Nationalökonomie zu vertreten, welche größten Wert auf die „Einbettung“ von Mikro- und Markroökonomie in Kultur, Politik und Soziales gelegt hat. Erinnert sei hier nur an Johannes Messner, Anton Orel, Leopold Kohr, Ferdinand Graf von Degenfeld-Schonburg, Othmar Spann, Walter Heinrich, Wilhelm Andreae, Ferdinand A. Graf von Westphalen, Anton Tautscher, Fritz Ottel, Erich Hruschka, Erich Loitlsberger, Joseph Kolbinger, Michael Hofmann, Hans Bach, J. H. Pichler, Anton Schöpf, Adolf H. Malinsky, Geiserich E. Tichy, Ernest Kulhavy, Walter Sertl u. v. a. Obwohl nach 1945 zu einer „unerwünschten Forschungsrichtung“ zählend, haben sie sich nicht davon abhalten lassen, sich vielfach mit äußerster Schärfe gegen die individualistisch-liberale Gesellschaftsauffassung, die naturwissenschaftlichen Methoden in den Sozialwissenschaften und die neoklassischen Theoreme zu wenden. Im Unterschied zu Tomáš Sedláček, haben sie ihr eigenes „wildes Denken“, mit dem sie zahlreiche Durchbrüche schafften, durch Ringen um System in geordnete Bahnen gezwungen. Ihre unzähligen Schüler danken es ihnen noch heute.


 

 
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