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Der Terror der Entwurzelung

Von Benedikt Kaiser, M. A.

Die Ursache des Neofundamentalismus

„Identität“ ist zu einem Schlüsselbegriff aktueller Debatten im konservativen und rechten Bereich geworden. Nicht zuletzt die „identitäre Bewegung“ hat diesem Begriff, dessen politiktheoretischer Gebrauch bereits in den 1980er Jahren einsetzte, zu neuer Bedeutung verholfen. Allerdings ist zu bemerken, daß die „Verteidigung des Eigenen“ (Martin Lichtmesz) auch eine Kenntnis des Anderen voraussetzt. Das wesenhaft Andere, von manchen Identitären als „der“ Islam verstanden, ist kein monolithischer Block, und seine identitären „Marker“ zeigen sich ebenfalls bedroht: durch Entwurzelung und Vereinzelung, Entfremdung und Verunstaltung. Nicht „der“ Islam ist es, dessen religiöses System zu Terrorakten und gesellschaftlichen Konflikten führt. Vorausgehende Entwurzelung junger Menschen und deren folgende Radikalisierung über eine reine Lehre sind ein drängendes Problem in einer Welt der verschiedentlich angestrebten Vereinheitlichung.

Ein Versuch über Entwurzelung und Identität, über ideologische und militante Universalismen

Islamistische und fundamentalistische Ideologeme sind nicht nur im Mittleren und Nahen Osten virulent, sondern weltweit, und sie sind nicht erst seit dem 11. September 2001 Thema, sondern seit den sowjetischen Erfahrungen mit den Mudschaheddin in Afghanistan ab 1979. Für die Motivationen und Beweggründe der meist männlichen Kämpfer islamistischer und fundamentalistischer Gruppen gibt es unterschiedliche Theorien. Während beispielsweise für Gunnar Heinsohn im Zuge seiner „Youth-bulge“-Theorie der Überschuß an jungen, bildungsfernen und perspektivlosen Männern in der Bevölkerungszusammensetzung islamischer Völker der Erfolgsgarant für radikale Werber ist1 und für Udo Ulfkotte auch die Defensivträgheit und falsch verstandene Toleranz der westlichen Demokratien zum globalen Heiligen Krieg führt2, rät mit Olivier Roy ein zu wenig beachteter Denker zu einem differenzierteren Umgang mit den islamischen Herausforderungen. Der Pariser Islamwissenschaftler bemängelt eine begriffliche Verwirrung und Gleichsetzung von unterschiedlichen, mitunter entgegengesetzten Phänomenen, die in der Konsequenz einen falschen Umgang der westlichen Welt mit extremistischen Bewegungen hervorrufen. Roy zeigt, daß dies durch eine intensive Auseinandersetzung mit den Grundlagen der jeweiligen Organisationen und Persönlichkeiten vermieden werden kann. Konkret differenziert er zwei konkurrierende (heterogene) Hauptströmungen, die in Verlautbarungen und Medienberichten unserer Breitengrade bis heute unreflektiert vermengt werden. Es sind dies der stärker politisch ausgerichtete Islamismus und der rein religiös argumentierende Neofundamentalismus, die unterschiedliche Ideologiefragmente aufweisen, divergierende Zielsetzungen besitzen und sich in ihren realen Begegnungen zum Teil offen und militant gegenüberstehen. Roys Schlußfolgerung mit Blick auf terroristische Aktivitäten à la Al-Qaida und Umfeld ist, daß die von uns als islamistisch kolportierten Terroristen  keinen genuin islamistischen (nationalislamischen) Bewegungen entspringen, sondern  neofundamentalistischen (universalistischen) Strömungen, deren bekannteste Ausprägung heute der Salafismus ist.3 Folgt man dieser Unterteilung, erscheint es verwunderlich, daß der schiitische (islamistische) Iran, dessen Bestrebungen – wie immer man zu diesen stehen mag – sich auf den nationalen und direkt angrenzenden Raum konzentrieren, im Westen als Schurkenstaat gilt, während etwa mit dem sunnitisch-wahhabitischen (neofundamentalistischen) Saudi-Arabien, das global ideologisch verwandte Bewegungen fördert, paktiert wird.

Islamismus versus Neofundamentalismus

Der Islamismus – Marke Iran oder Hisbollah (Libanon) – stellt sich nach Roy nicht nur als religiöse Erscheinung dar, sondern darüber hinaus als politische Ideologisierung des Islam nach dem Vorbild großer politischer Doktrinen des 20. Jahrhunderts wie Marxismus und Faschismus (nicht: Nationalsozialismus). Ernst Nolte spricht hier entsprechend vom Islamismus als dritter „Widerstandsbewegung“ gegen die (westliche) Moderne.4
Die religiöse Sphäre einer islamischen Gesellschaft in einem konkreten Staatsgebiet wollen Islamisten in der Regel unter die wechselseitige Aufsicht einer politischen Autorität stellen; die Institution ‚Staat‘ wird dabei nicht als „westliches Konstrukt“ angesehen, sondern als angemessene Art und Weise, die Herrschaft über eine Nation zu sichern. Maximalziel ist dabei die Schaffung einer Theokratie. Die Konzentration islamistischer Bestrebungen auf die Regierungsübernahme innerhalb einer staatlichen Ordnung gehe einher mit einer Nationalisierung der eigenen Weltanschauung, wie Olivier Roy unter Bezugnahme auf die mit dem Iran verbündete palästinensische Hamas und libanesische Hisbollah nachzuweisen versucht.5 Auch der Iran selbst mag als Beispiel für diese These gelten, wenn das Land zwischen 1980 und 1988 gegen den (ebenfalls muslimischen) Irak Krieg führt und ebendiesen schwerlich als religiöse Anstrengung, als Dschihad, verkleiden kann, wenn schiitische Perser auf schiitische Araber schießen, um die nationalstaatliche Zugehörigkeit weniger Quadratkilometer der Provinz Chuzestan zu klären.
Für Roy sind islamistische Bewegungen demgemäß im Wesen auch nationalistisch und erkennen, anders als Neofundamentalisten, Völker und regionale Besonderheiten an, beziehen sich sogar ausdrücklich auf solche, sind verwurzelt in der entsprechenden Landeskultur und daher prinzipiell koalitionsfähig mit nicht-islamischen Parteien und Gruppen, weil sie nicht nur religiöse Allüren aufweisen, sondern zugleich politische oder gesamtstaatliche Ansprüche stellen.6 Islamisten sind demzufolge auch ausdrücklich politisch, richten ihre Programme nach nationalen Gegebenheiten aus, verfolgen konkrete Wirtschafts- und Sozialprogramme und seien in religiöser Hinsicht zwar an einer strengen Gläubigkeit der Bevölkerung als Garantie für loyale, moralisch verläßliche Bürger interessiert, verfolgen aber keine Pläne einer konstanten Radikalisierung der Individuen, weil dies mit einer Gefahr der In-Frage-Stellung der Legitimität des eigenen irdischen Herrschaftsanspruch korrelieren würde. Gemäßigte wie radikale Islamisten strebten danach, Andersdenkende von der Demokratietauglichkeit des Islam zu überzeugen und gäben vor, der Islam als Staatsreligion garantiere qua Schura7 die beste Form eines demokratisch verfaßten Gemeinwesens. Neofundamentalisten hingegen lehnen bereits die bloße Akzeptanz des Prinzips der Staatlichkeit als Organisationshülle des Gemeinwesens und die Politisierung des Islams durch Islamisten als „unislamisch“ und häretisch ab; Recht und Ordnung können nur von Gott kommen. Alleiniges Ziel ist daher die globale Einführung des islamischen Rechtssystems: der Scharia.8
Anstatt Feinheiten islamischer Glaubensauslegungen zu diskutieren oder die Vereinbarkeit von Nation(alstaat) und Islam zu diskutieren9, gilt hervorzuheben: Der Neofundamentalismus nach Olivier Roy ist die den modernen Gegebenheiten der Globalisierung entsprechende Weiterentwicklung nachislamistischer Bestandsreste. Weil islamistisch begründete Herrschaft in sich durch weltliche Belange – ethnischer, stammesgeprägter oder gesellschaftlicher Natur – den Drang zur Säkularisierung trage, bleiben zwei künftige Alternativen für Anhänger islamistischer Ideologien: Einerseits der „türkische Weg“ des türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan, in dem „westliche“ Demokratieaspekte mit islamischen und nationalstaatlichen bis nationalistischen Traditionen vermengt werden, andererseits die Verwerfung des in religiös-radikaler Sicht wenig erfolgsversprechenden Weges der Staatskontrolle, hin zu einem rigiden Modell der Religion, die als strikte Anwendung der Scharia definiert wird. Im Fokus würde dabei keine tatsächliche Nation oder Gesellschaft mehr stehen, sondern das durch die Folgen der Globalisierung entwurzelte Individuum in den modernen Gesellschaften, das sich der Scharia von der Geburt bis zum Tod zu unterwerfen hat – wie in archaischen islamischen Bewegungen des Dschihadismus gefordert.10 Diese dschihadistische Strömung, die heute meist durch Salafisten dominiert wird, agiert zuallererst dort, wo das Handeln der Menschen nicht in national oder religiös homogenen Rahmenbedingungen verläuft, sondern „entterritorialisiert“ ist. Der Neofundamentalismus ist per definitionem „dekulturiert“ und universal ausgerichtet.11 Die Globalisierung wird von Predigern nicht – wie von vielen Islamisten – als Gefahr für Religion und Völker12 abgelehnt, sondern als Chance interpretiert, „verlorene“ Glaubensbrüder zum einzig wahren Islam zurückzuholen. Durch die Atomisierung (Vereinzelung) in multikulturellen Gesellschaften seien die Muslime von ihren nationalen und religiös-regionalen Traditionen teilweise oder gänzlich befreit, individualisiert könnten sie durch die reine, von historischen Überlieferungen der Stämme oder Völker (d. h. vom „Volksislam“) unverfälschte Lehre wiedergewonnen werden.13 Durch die (ökonomische) Globalisierung und daraus resultierende Migrationsströme profitiert dieser Neofundamentalismus daher als rekrutierende Heilslehre. Entwurzelte, weil ihrer traditionellen Bindungen beraubte Individuen können – nach Roy – durch neofundamentalistische Prediger neue Impulse erhalten, die ihnen das nicht zu unterschätzende Gefühl geben, der Atomisierung durch freiwillige Unterordnung in ein Kollektiv zu entgehen. Die Islamisierung der Menschen vollzieht sich dabei radikaler als in einem genuin islamischen Kulturkreis. Denn anders als beispielsweise in Syrien oder in Teilen Indiens, wo islamische Vorschriften mit landestypischen Traditionen verwachsen sind und der Islam „organisch“ gelebt wird, vollzieht sich die Re-Islamisierung einer muslimischen Minderheit (vor allem in Westeuropa) durch die Aufnahme der „reinen“, unverfälschten Lehre (durch Videos, Predigten, Fatwas), die dogmatisch aufgeladen und durch Haß auf die direkte Umgebung – Deutschland, Frankreich, Großbritannien usw. – geprägt ist.

Der Terror ist neofundamentalistisch

 Roy sieht in dieser Entwicklung zu entterritorialisierten re-islamisierten Individuen die größte sicherheitspolitische Gefahr, während Islamisten durch die Globalisierung selbst in ihrer Substanz bedroht seien und lediglich in einem konkreten Staatsgebiet zum Risikofaktor werden können. Islamistische Bewegungen benötigten demnach eine islamische Mehrheitsbevölkerung, achten und propagieren deren traditionelle Lebensweisen, streben nach autoritärer Staatskontrolle und politischer Legitimation und stehen durch diese Zugeständnisse an die irdische Welt als Konkurrenten, mehr noch, mitunter als direkte Feinde der Neofundamentalisten da. Dennoch werden beide Erscheinungen von westlichen Medien und Politikern nicht selten als identisch eingestuft. Der neofundamentalistische, meist sunnitische Groll gegen die schiitisch-alawitische Achse Teheran–Damaskus(–Beirut) zeigt nicht nur, daß es alte theologische, unüberwindbare Hürden zwischen den beiden größten muslimischen Glaubenslagern gibt, sondern hat auch zur Folge, daß in Europa schwerlich junge gewaltbereite Muslime gefunden werden können, die sich auf die schiitischen Khomeini und Ahmadinedschad berufen, dafür aber um so mehr Konvertiten und re-islamisierte Migranten, die sich ausdrücklich in salafistischer Art und Weise artikulieren.
Teile der neofundamentalistischen Szenen schätzen den internationalen Terrorismus hierbei als Methode, den Gegner durch gezielte Aktionen aufzuschrecken und zu bekämpfen; der Tod von Menschen, die dem Beobachter auf den ersten Blick als Glaubensgenossen erscheinen, wird hierbei umstandslos akzeptiert, da sie entweder „Abweichler“ der „einen, wahren Lehre“ sind (meist Schiiten, Alawiten, Alewiten usw.14), oder in ihrer Lebens- und Handlungsweise vermeintliche Kollaborateure westlicher Nationen darstellen. Dieser forcierte globale Terror der letzten 20 Jahre ist nach Roys Darlegungen seit Anfang der 1990er Jahre nahezu ausschließlich neofundamentalistischer Façon. Denn während Islamisten nach Anerkennung und Herrschaftslegitimität streben, „weltliche“ Dinge wie Staatsführung und Gesetzgebung beeinflussen wollen und dafür Verbündete sowie Anhänger auch außerhalb religiöser Radikalismen finden müssen, sind Neofundamentalisten demgegenüber nur auf das Jenseits hin orientiert und morden im sicherheitsgebenden Bewußtsein, Allahs „Avantgarde“ zu verkörpern. Roy weist diesbezüglich nach, daß die Kämpfer von Al Qaida und sympathisierenden Netzwerken fast ausschließlich aus den genannten „entterritorialisierten“, entwurzelten und bisweilen heimatlosen Menschen (oder Konvertiten) sunnitischen Glaubens bestehen, die ihre eventuellen Verbindungen in die Ursprungsländer ausdrücklich kappten und ein internationalistisches Netz bildeten, das für den Rest der Menschheit, auch für die Konkurrenz, insbesondere für schiitische Islamisten, nur Haß übrig hat.15
Für den global agierenden Neofundamentalismus (Wahhabismus, Salafismus) ist dementsprechend kennzeichnend, daß seine Träger von extremem Glauben an ihr Auserwähltsein beseelt sind, daß für sie sämtliche staatliche Institutionen, wie auch Völker und Stämme, „unislamische Konstrukte“ sind, die es aufzulösen gelte, daß schließlich die weltweite Gewaltanwendung ein erforderliches Mittel gegenüber all jenen ist, die nicht über den exklusiven Zugang zu Allah verfügen.
Festzuhalten ist aber auch: Der global agierende neofundamentalistische Salafismus ist das Gegenstück zum global agierenden Weltvereinheitlichungsstreben westlicher Hardliner. Protagonisten der heute „neokonservativen“, ehemals linksliberalen US-Intelligenz förderten die Verquickung einer Ideologie der „Transkulturalität“ mit jener des globalen, interventionistischen Liberalkapitalismus, deren Ziel die sukzessive Homogenisierung der Welt bedeutet, das „Verschwinden der Vielgestaltigkeit der Welt“ (Alain de Benoist) forciert und organisch gewachsene Identitäten – seien sie ethnisch, national, regional oder religiös begründet – auf dem Gabentisch des Globalismus opfern möchte. Dies im übrigen ganz wie der Salafismus, der, selbstverständlich aus anderen Motiven, ebenfalls die Vereinheitlichung der Welt bei Ausschaltung „trennender“ Verbindungen über Volk, Nation oder Staat sucht. Dessen Vertreter, in den letzten Jahren sogar in westdeutschen Ballungszentren, werben bekanntermaßen kämpferisch, sind dabei erfolgreich, bei Ausländern wie bei jungen Deutschen.

Verlust des Ortes als Quelle des Fundamentalismus

Doch die ad-hoc-Annahme neokonservativer Islamkritiker, nur weil extreme Gruppen mancherorts Zulauf verzeichnen, sei „der“ Islam eine Bedrohung, wachse „der“ Islam weltweit am schnellsten, geht dennoch fehl. Der christlich fundierte „Pfingstglaube“ verzeichnet global schließlich mehr Zulauf (gefolgt von der Sekte der Mormonen). In Afrika konkurrieren Katholiken mit expandierenden charismatischen Evangelikalen. In der Türkei verzeichnen protestantische Gruppen – nicht ohne gefährliche Rückwirkungen – erste Erfolge.
Daher muß das Phänomen allgemeiner gefaßt werden: Was wächst, sind einfach gehaltene Erweckungsreligionen, leichtverständliche Schwarz-Weiß-Glaubenssysteme, die ihre Schäfchen an den Rändern der Gesellschaft einsammeln, wo – jedenfalls in Westeuropa – wiederum quantitativ beachtliche Immigrantengruppen anzutreffen sind. Erneut mit Olivier Roy gesprochen, vollzieht sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Übergang von traditionellen Erscheinungen des Religiösen (Katholizismus, Anglikanismus, traditionelle islamische Rechtsschulen usw.) zu fundamentalistischen und „charismatischen“ Formen (Pfingstlertum, Salafismus usw.). Ein Indiz hierfür ist, daß die bewährte und traditionelle Kirche im Christentum sich z. B. in der Krise sieht – nicht aber christliche Formen neuerer Religionsausübung, die weltweit konstant Zuwachs verzeichnen.
Da die bisherige kulturell-religiöse Selbstverständlichkeit eines vor Ort verwurzelten Glaubens „dekonstruiert“, überwunden wurde, erfolgt durch religiöse Gruppen neueren Ursprungs eine Zurschaustellung einer „reinen“ Lehre ohne vermittelnde, gewachsene Traditionen, ohne symbolische Orte. Salafistische Extreme zerstören Heiligtümer verschiedenster Religionen und lehnen die Verehrung von Räumen und Orten grundsätzlich ab, das gilt sogar für die Grabstätte des Propheten Mohammed. Im Christentum nehmen – ohne beide Seiten gleichzusetzen – Pfingstler oder radikale Evangelikale diese Position ein, wenn sie die Haltung vertreten, daß ein heiliger Ort unwichtig sei: der Heilige Geist gehe überall um und benötige keine Kultstätten. Pilgerfahrten lehnen dementsprechend beide Seiten in ihrer jeweiligen Religion ab.16 Der „Verlust des Ortes“ (Volker Mohr) hat sich hier offenbar durchgesetzt.
Dieser neue Fundamentalismus, der nichts außer bedingungslose Hingabe an seinen Glauben anerkennt, reines Erleben – gleich an welchem Ort – vor theologisches Wissen und gewachsene religiöse Traditionen stellt, ist, wie bereits angedeutet, ein Resultat der Globalisierung, und als solcher ist moderner Fundamentalismus die zeitangepaßte Form des Religiösen, „weil er seine eigene Dekulturation [d. i. die Entkleidung aus dem bisherigen kulturellen Kontext, B. K.] akzeptiert und daraus seinen Anspruch auf Universalität ableitet“.17 Er ist weiters Produkt der Globalisierung, weil erst die Globalisierung dem Neofundamentalismus jenen entwurzelten Typus Mensch verschafft, den er zur Rekrutierung benötigt. Dieser Typus ist das vereinzelte (und sinnsuchende) Individuum. Wurden (kollektive) Konversionen einst durch langwierige Eroberungen oder neue Herrscherdynastien begünstigt, verläuft der moderne Religionswechsel (individuell) mit Hilfe von Wireless LAN.18 Diesem Umstand kommt die – ebenfalls durch Globalisierung genährte – Entkopplung von Kultur und Religion entgegen. Das traditionelle Band ist hier zerschnitten.19 Der reüssierende Individualismus hat diese individualistischen Konversionsentscheidungen zur Folge, die Religion wird stellenweise ein Produkt, das konsumiert und „verbraucht“, hernach neu gesucht werden kann. Die Rolle der Religion als Integrationsfundament einer örtlich gebundenen Gemeinschaftsidentität ist vielerorts passé. Dies betrifft ganz konkret auch die katholische Kirche, deren religiöser Heilsanspruch ja nicht als Streben nach (kultureller) Vereinheitlichung der Welt mißzuverstehen ist. Im nachrevolutionären Frankreich nutzte der Klerus die verschiedenen Regionalsprachen zunächst aus politischen Gründen demonstrativ und hielt eigenständige Lokalkulturen so am Leben; in Polen, Kroatien, Irland oder Quebec entstand eine noch bis heute fortwährende Verbundenheit zwischen jeweiliger Nationalkultur und katholischer Kirche.20 Diese katholische Verbundenheit, die sich auch in religiös bedeutsamen, konkreten Stätten äußert, steht der Auffassung der skizzierten ortlosen Religionspraxis entgegen.

Uns bedrohen vor allem die Architekten der totalen Entwurzelung

Daß die Erosion altehrwürdiger, bewährter Religionsauffassungen und abendländischer Kultur ungehemmt fortschreitet, ist jedoch für Europa in erster Linie kein Problem des Anderen, sondern beruht zuallererst auf der eigenen Unzulänglichkeit infolge eines gestörten Identitätsbewußtseins; Frank Lisson nennt dies in seiner beachtlichen Analyse die „Verachtung des Eigenen“21. Dieser pathologische Selbsthaß läßt kein ganzheitliches Verständnis für Kulturen und Religionen zu, weil es keine authentische Begegnung geben kann, wenn einer der Beteiligten die Bedeutung der eigenen Identitätsmarker verleugnet. Diese Selbstverleugnung ist nur die Spiegelung eines übersteigerten Sendungsbewußtseins.
Selbstüberschätzung wiederum ist jedoch kein adäquates Gegenmittel zur Selbstverleugnung deutschen (oder europäischen) Formates. Denn die erste Frontlinie verläuft nicht, wie der überzeugte Westler Samuel Huntington prophezeite, zwischen den Kulturblöcken. Die Demarkationslinie trennt jene, deren Anliegen die Bewahrung der globalen Vielfalt im Zeichen lokaler, regionaler, nationaler oder religiös-kultureller Identitäten bedeutet – die also in allen Kulturen das Besondere und Individuelle schätzen –, von jenen Extremen, die an einer grauen Welteinheitszivilisation unter der Führung des globalen Kapitalismus oder einer neofundamentalistischen Strömung wie dem Salafismus arbeiten, und die damit, bewußt oder unbewußt, an der Erosion zahlreicher Gesellschaften mitwirken, die Menschen gegeneinander aufbringen und die wahrhafte Völkerverständigung mit dem scheinheiligen (oder naiven) Ruf nach Völkerbegegnung auf lange Sicht torpedieren. Das Problem ist daher vielmehr die expansive Verbreitung von als universell gültig erachteten politischen Prinzipien zugunsten einer nivellierenden „Monokultur“ als die Koexistenz unterschiedlicher Kulturen und Religionen im Zeichen tatsächlicher „Multikultur“. Der tonangebende Universalismus, der globale liberale Kapitalismus, hat gegenwärtig die besseren Karten in der Weltpolitik als sein wachsender Konkurrent, die neofundamentalistische Deutung des islamischen Glaubens, mit dem gleichwohl punktuell koaliert wird, wenn es gegen andere, schwächere, doch gemeinsam stigmatisierte Schurken geht (Iran, Assad-Syrien). Es sind und bleiben keine fremden Identitäten, die uns substantiell bedrohen, sondern die – wie auch immer gearteten – Architekten einer Welthomogenität und der totalen Entwurzelung.
Daß der Drang nach Entwurzelung jedoch nicht einseitig „dem“ Westen zugeschoben werden darf, und daß er in der fundamentalistischen Realität neue Dimensionen erreicht, sollte nicht geleugnet werden und wird durch ein mutmaßlich austauschbares Beispiel belegt. In Niger, einem afrikanischen Staat, der an das kriegsgeplagte Mali angrenzt, leben Tuaregs, Angehörige eines Nomadenvolkes. Auch sie haben Angst vor den radikal-salafistischen Universalisten im Nachbarland. Im Deutschlandradio Kultur beschreibt ein Nomade deren Konzeption als bedrohliches und identitätsnegierendes ‚Lösche aus, was Du bist!‘.22 Ein anderer knüpft daran an: „Was immer Du im Leben machst, ist ganz egal, wenn Du nur das Bewusstsein für Deine Wurzeln bewahrst. Wenn Du nicht vergisst, wo Du herkommst. Dann kannst Du ein noch so modernes Leben führen, aber Du wirst Dein Gesicht nie verlieren. Deine Identität bewahren, Deine Kultur, Deine Tradition und alles, was damit zusammenhängt.“23 Diese leidenschaftlichen Worte – von bundesdeutschen Journalisten nur bewundert, wenn sie Nicht-Europäer äußern – werden um so verständlicher, wenn sich vor Augen gehalten wird, daß die aus aller Welt zusammengewürfelten Fundamentalisten in Mali den Tuareg selbst das Tragen landes- oder stammestypischer Gewänder verboten hatten, da diese als Ausdruck partikularistischer (heißt hier: unislamischer) Traditionen wahrgenommen werden. Die mittlerweile von französischen Truppen weitgehend vertriebenen Extremisten in Mali sind indes die ideologischen Nachfahren jener, mit denen in Afghanistan einst gegen die Sowjetunion gekämpft wurde, es sind heute jene, mit denen in Libyen gegen Gaddafi losgezogen wurde, als dem Westen der exzentrische – aber noch weitgehend säkular orientierte – Diktator zuwider wurde. Die erstarkenden Salafisten in Tunesien und Ägypten ihrerseits sind indes jene, mit denen zuvor gegen die diktatorischen – aber weitgehend säkular orientierten – Ben Ali und Mubarak gekämpft wurde. Und es sind überdies jene, die im heutigen Bürgerkriegssyrien gegen den bisweilen diktatorisch regierenden – aber säkular orientierten – Assad gestützt werden.
Es hat den Anschein, daß zwei nicht miteinander vereinbare, der alleinigen Wahrheit selbstsichere und binär denkende Universalismen die unübersichtliche Weltkarte von widerspenstigen Regierungen und Gruppierungen säubern. Zurückbleiben werden weitere failed states wie der Irak, wo die traditionelle konfessionelle Kluft durch extremistische (neofundamentalistische) Söldner aus dem weltweiten Ausland potenziert wird, was erst durch die Intervention westlicher Truppen gegen das Baath-Regime ermöglicht wurde. In Libyen und Ägypten droht bereits ähnliches; an religiösen Burgfrieden in einem Syrien ohne das säkulare Regime ist ohnehin nicht zu denken. Die zahlreichen Kriegsschauplätze als Betätigungsfelder radikalisierter Entwurzelter werden in den kommenden Jahren daher nicht ausgehen. Im Gegenteil.
Es gilt daher zunächst bewußt zu machen, daß fundamentalistischer Terror und global voranschreitende Entwurzelung als Erscheinungen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts nicht voneinander getrennt betrachtet werden können. Sie gehen miteinander einher und begünstigen sich wechselseitig. Der „Markt der Religionen“ vor dem Hintergrund einer durchrationalisierten und zur Vereinheitlichung strebenden Welt gebiert Extreme und die verschiedenartig auftretende „heilige Einfalt“ (Roy). Das Gegenbild hieße nicht die globale Abkehr von Religionen im Zeichen eines postidentitären Weltbürgerstrebens oder gar die Propagierung Huntingtons „Kampf der Kulturen“, sondern kulturell-religiöse Verwurzelung und gegenseitige „identitäre“ Anerkennung und Achtung.
Dies setzt zwangsläufig ein gesundes Eigenbewußtsein voraus. Denn ohne dies ist weder die gebotene Verteidigung des Eigenen noch die fruchtbare Kenntnis des Anderen zu denken.

Anmerkungen

1 Heinsohn, Gunnar: Söhne und Weltmacht. Terror im Aufstieg und Fall der Nationen, Zürich 2003. Heinsohn vernachlässigt indessen die Analyse der tatsächlichen sozio-kulturellen Zusammensetzung fundamentalistischer Zellen in nichtmuslimischen Ländern. Deren Aktivisten kommen nicht selten aus bildungsaffinen Milieus und hätten kraft ihrer individuellen Leistungsfähigkeit mitunter deutliche Karrierechancen im Westen. Vgl. hierzu auch: Mekhennet, Souad (Hrsg.): Die Kinder des Dschihad. Die neue Generation des islamistischen Terrors in Europa, München 2006.
2 Ulfkotte, Udo: Propheten des Terrors. Das geheime Netzwerk der Islamisten, München 2001; ders.: Der Krieg in unseren Städten. Wie radikale Islamisten Deutschland unterwandern, Frankfurt/Main 2003 u. v. m.
3 Vgl. Roy, Olivier: Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung, 2. Aufl., München 2006, S. 285 f.
4 Nolte, Ernst: Die dritte radikale Widerstandsbewegung: der Islamismus, Berlin 2009. Noltes Arbeit ist allerdings stark von seinem Lebensthema (Nationalsozialismus/Bolschewismus) geprägt und differenziert nicht zwischen Islamismus, Neofundamentalismus o. ä.
5 Vgl. Roy, Olivier: Der islamische Weg nach Westen, a. a. O., S. 74 f. – Zumindest Hamas hat sich mittlerweile von Iran abgewandt und orientiert sich statt dessen an den arabisch-sunnitischen Golfstaaten.
6 Roy verweist auf die libanesische Hisbollah, die von der libanesischen Nation spricht und für diesen Zweck (bis heute) mit christlichen libanesischen Nationalen koaliert; ein Umstand, der bei den ausschließlich religiös argumentierenden Neofundamentalisten auf Ablehnung stößt.
7 Wörtlich: Beratung. Die Verwirklichung der im Koran als Regierungsprinzip verankerten Schura bedeutet die Einrichtung von beratenden Ausschüssen oder Körperschaften, mittels derer jedes Individuum mit den Herrschenden kommunizieren könne.
8 Vgl. Roy, Olivier: Der islamische Weg nach Westen, a. a. O., S. 179.
9 Dies leistete Dominik Schwarzenberger ausführlich und diskussionsanregend in seinem Aufsatz Islam und Nationalismus. Ein Widerspruch?, in: Neue Ordnung, 4/09, S. 19–23.
10 Vgl. Roy, Olivier: Der falsche Krieg. Islamisten, Terroristen und die Irrtümer des Westens, München 2007, S. 68.
11 Vgl. ebd., S. 69.
12 Völker sind für Neofundamentalisten westliche Einbildungen und somit künstlicher, unislamischer Natur. Selbst regionale Sitten, Bräuche und gar Tänze werden als dezidiert westlich, als Verrat an Allah wahrgenommen. Die Taliban und ihre Verbündeten in Afghanistan sind das praktische Beispiel für Neofundamentalismus als Herrschaftsbegründung.
13 Vgl. Roy, Olivier: Der islamische Weg nach Westen, a. a. O., S. 48 f.
14 Man denke nur an die beinah täglich vermeldeten Attentate auf Schiiten im Irak, die durch radikalisierte Neofundamentalisten begangen werden.
15 Zum neuen Terror der Neofundamentalisten und seiner Urheber: Vgl. Roy, Olivier: Der islamische Weg nach Westen, a. a. O., S. 285–320. Dessenungeachtet gibt es in einigen Ländern unwiderleglich auch islamistische Angriffe und für einen Israeli ist es individuell beispielsweise unwesentlich, ob ihm ein Anschlag aufgrund einer neofundamentalistischen Heilslehre galt oder ob dieser aufgrund (national-)islamistischer Motivationen vollzogen wurde.
16 Vgl. Roy, Olivier Roy: Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen, S. 244.
17 Vgl. ebd., S. 24.
18 Der Schritt ist überdies umkehrbar: Es ist keine Seltenheit, daß ein Konvertit erneut konvertiert – zu einer neuen Religion oder zurück zu einer Form seiner alten. Selbst die Religionszugehörigkeit ist mittlerweile fluide. Vgl. hierzu auch ebd., S. 296 ff.
19 Vgl. ebd., S. 37.
20 Vgl. ebd., S. 147.
21 Lisson, Frank: Die Verachtung des Eigenen. Ursachen und Verlauf des kulturellen Selbsthasses in Europa, Schnellroda 2011.
22 Zit. n. Rühl, Bettina: Die Angst in Niger vor der Krise in Mali, www.dradio.de/dkultur/sendungen/weltzeit/1995134/. Sendung v. 30. 01. 2013.
23 Zit. n. ebd.

 

 
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