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Die Krönungskathedrale in Reims

Von Joachim Volkmann

Ein Bild der katholischen Monarchie

In einem Spielfilm, dessen Titel, Autoren und Darsteller ich an dieser Stelle sicher nicht verraten will, reist eine Marquise zur Zeit der Französischen Revolution parallel mit dem nach Varennes fliehenden König, ohne diesen jedoch je zu treffen. Sie führt ein ominöses Paket mit sich, welches sie dem König überbringen soll. Ganz am Ende des Films – der König ist bereits verraten und verhaftet – öffnet sie in einem Gasthof das Paket: Es enthält prächtige Kleidung, welche der König zur Fronleichnamsprozession hätte tragen sollen. Eine Schneiderpuppe wird damit bekleidet, und in der Schlußszene macht die Marquise einen Hofknicks vor der Schneiderpuppe, murmelt ergriffen „Majestät …“. Doch: der Autor des Filmes hat ganz genau begriffen, was er da subtil (subtiler, als ich es in der gebotenen Kürze schildern kann) verspottet. Trotz allem und ganz offenbar ist die Strahlkraft der Monarchie von Gottes Gnaden so stark und hell, daß selbst so schwache, verfallsschwangere Symbole wie prächtige Kleidung noch wirken können und deshalb verspottet werden sollen. Ganz entgegen der Absicht von Autor und Regisseur des Films verbleibt beim Zuschauer etwas von jener Autorität, die ganz natürlich Ehrfurcht einflößt und die jene kleine Marquise zum Hofknicks zwingt. Der Kaiser ist eben doch nicht nackt.

Wir wollen für eine grundsätzliche Überlegung innehalten: Unsere Vorfahren verfügten über einen so großen Reichtum an Symbolen, an Möglichkeiten bildhafter Erfassung und Darstellung komplizierter Zusammenhänge, daß wir darüber nur staunen – ja: gar neidisch werden können. Es ist uns in den letzten Jahrhunderten so vieles davon verlorengegangen und nicht (oder nur ganz oberflächlich und platt) ersetzt worden. Im Vergleich zu unseren Vorfahren sind wir arm geworden, sehr arm und eigentlich bedauernswert inmitten unseres materiellen Reichtums. Wir haben keine sprechende Bilderwelt mehr, die uns die grundlegenden, einfachen Wahrheiten erklärt und immer wieder vor Augen führt. Wir können uns aber ein ganz klein wenig in den Reichtum der Welt unserer Vorfahren hineinfühlen, wenn wir uns die geringe Mühe machen, uns um die Schlüssel zu bemühen, die den Reichtum erschließen.

Das schönste Kapitel französischer Politikgeschichte

Ein solcher Schlüssel ist die Kathedrale von Reims – seit und wegen des Franken Chlodwigs Taufe und Salbung (496) die Krönungskirche der französischen Könige. Reims und seine Kathedrale sind somit ein Ort größter historischer Bedeutung: Hätte sich Chlodwig nicht bekehrt, wäre die Geschichte des Abendlandes völlig anders verlaufen. Die Kathedrale sei das schönste Kapitel französischer Politikgeschichte, hat ein moderner französischer Historiker geschrieben. In reicher Fülle findet man hier Anspielungen auf Sinn und Bedeutung, Aufgabe und Begründung des legitimen Königtums, weil durch diese Symbole und Zeichen der Kronprinz, der Dauphin, auf seine Funktion deutlich hingewiesen wird, seine Unterweisung gewissermaßen unmittelbar vor und während der Krönung ihren abschließenden Höhepunkt erhält.
Sechs Tage lang reitet der Dauphin aus Paris von West nach Ost durch das alte merowingische Krongut: Dammartin, Villers-Cotterets, Soissons, Fismes und dann Reims. Auch die Stadt Reims durchquert er von West nach Ost, Christus, dem Licht, entgegen, so, wie man eine Kirche von West nach Ost durchschreitet: um dann am Ort der Krönung anzukommen, an der Kathedrale, die er (natürlich) dann wieder von West nach Ost durchqueren wird: zum Altar, zu Christus, zum Anfang aller Dinge.
Hoch über dem Eingang der Kathedrale hat er die Reihe der Könige des Alten Testaments gesehen: deren erster war Saul, im 11. Jahrhundert vor Christus. Etwas bis dahin in der bekannten Geschichte Unerhörtes war geschehen: Samuel, Israels letzter Richter, hatte dem Druck des Volkes nachgegeben und Saul zum König gesalbt – später salbte der Hohepriester Joad den König Joas, Sohn des Ochosias, krönte ihn und überreichte ihm die Königsurkunde. „Es lebe der König, ewig lebe der König!“ rief das Volk. Diese Krönung wurde das Vorbild für alle Krönungen in Israel und Europa, und in dieser Tradition fühlten sich die französischen Könige: sie setzten die Wurzel Jesse im Neuen Bund fort. Deshalb sieht man (wie der Dauphin vor seiner Krönung) nicht nur die Reihe der Könige des Alten Testaments, sondern auch – direkt angeschlossen – die Reihe der französischen Könige, der Vorfahren des Dauphins, in der Königsgalerie.
Im Namen Gottes salbte der Hohepriester die Könige des Alten Testaments, durch diese Salbung wurden sie Gottes Statthalter bei den Menschen. Ihre Person wurde unverletzlich, sie hatten die Macht, Recht zu sprechen, zu heilen, zeitliche Macht in all ihren Ausformungen. Im Gegenzug war der Herrscher verpflichtet, für die Sicherheit und das Wohlergehen seines Volkes zu sorgen. Von allem Anfang an hatte die Salbung der französischen Könige exakt die gleiche Bedeutung: dazu kommt noch das Königtum Christi, dessen irdisches Abbild der König ist. (Übrigens wird berichtet, daß die französischen Könige durch Handauflegen die Skrofulose [tuberkulöse Haut- u. Lymphknotenerkrankung] heilen konnten.)

Der irdische König und die Königin des Himmels

Wie die Mehrzahl aller bedeutenden nordfranzösischen Kathedralen, so ist auch die von Reims eine Liebfrauenkathedrale. Über dem Hauptportal der Krönungskathedrale ist die Krönung Mariens durch ihren Sohn dargestellt, die Krönung der Königin des Himmels, der Pforte des Heils. Wenn der zukünftige König nach einer kurzen Begrüßung durch den Erzbischof die Kathedrale durchschritt, tat er das auf einer bemerkenswerten Linie: er ging immer mehr dem Licht entgegen, dies jedoch auf mehrfach symbolhaftem Weg. Die Kathedrale ist nämlich exakt auf den Punkt ausgerichtet, an dem am Morgen des 15. August, des Festes Mariä Himmelfahrt, die Sonne aufgeht (übrigens gilt das auch für alle anderen erhaltenen Kirchen von Reims, was aus Reims eine bemerkenswerte Marienstadt macht). Und über der Darstellung der Himmelfahrt Mariens sieht man, hoch auf dem Südportal, einen Schützen, eine Darstellung des Sternbildes. Dieses Sternbild erreicht am Abend des 15. August seine höchste Stellung am Himmel!
Anfang November, zur Zeit des traditionellen Totengedenkens, schauen die steinernen Könige auf der Galerie direkt unter den Türmen genau zur untergehenden Sonne: der Tod als Tor zur Auferstehung. So hat der künftige König einen ganz theologischen Weg zurückgelegt: vom Tod zum Leben, von der Auferstehung zur Erlösung, zum Licht, zu Christus. Mehr noch: Die Krönungsstadt ist mit der Hauptstadt des Königreiches durch ein weiteres Zeichen verbunden: Notre Dame in Paris ist so ausgerichtet, daß die Sonne am Abend des 15. August in der West-Verlängerung der Achse des Chors untergeht.

Der Glaube ist Grundlage von Krönung und Herrschaft

Um alles dieses weiß der Dauphin. In der Nacht vor seiner Salbung (die Könige erlangten das Königsheil durch die Salbung, nicht– wie im Reich – durch die Krönung) hat der König um Mitternacht gebeichtet. Die Absolution allerdings bekommt er erst am nächsten Tag, kurz vor der Kommunion, und noch in der Nacht bittet er Gott in einem schlichten Gebet um Erleuchtung und Weisheit, damit er sein Volk gut und gerecht werde regieren können.
Das Palais du Tau liegt direkt an der Kathedrale. Dieser Palast hat, dem Namen entsprechend, die Form des Antoniuskreuzes, der crux commissa, und soll daran erinnern, daß auch das Königtum einen Opfercharakter haben soll. Hier hat der künftige König die Nacht verbracht. Der Dauphin stellt sich tief schlafend, stellt so den Zustand der gefallenen und erlösungsbedürftigen Menschheit dar, und er wird symbolisch aus diesem lethargischen Schlaf geweckt, aufgerichtet und nach einem unveränderlichen Ritual durch zwei Bischöfe aus den vornehmsten Familien des Königreiches bekleidet. „Wen sucht ihr?“ wird auf das Klopfen eines weiteren Bischofs gefragt, und dieser antwortet zweimal: „Den König.“ Beim dritten Klopfen antwortet er (z. B.): „Ludwig, den Gott uns zum König bestimmt hat!“
Gleichzeitig ziehen die Adeligen und Geistlichen in die Kathedrale ein. Vier weißgekleidete Reiter, Grand-Seigneurs des Königreiches, sprengen zur Abtei Saint-Remi und holen die Heilige Ampulle mit dem Salböl, die der Abt von Saint Remi unter einem Baldachin, der das Himmelsgewölbe darstellt, in feierlichem Zug zur Kathedrale geleitet. Es ist acht Uhr, und die Zeremonie wird sechs bis acht Stunden dauern (die kürzeste dauerte vier Stunden). Und jede der Handlungen, jede noch so gering erscheinende Verrichtung hat tiefen Symbolcharakter, vollendet gewissermaßen die Erziehung zum Herrscher, die der Dauphin sein ganzes bisheriges Leben lang durch die besten Lehrer genossen hat.
Die ganze Zeremonie zeigt den Charakter des Königtums: Als Zeichen des vollendeten Rittertums erhält der König auch das Reichsschwert, welches dann der Konnetabel während der weiteren Zeremonie hochhält: Achse des Reiches, der ganzen Welt. Der König demütigt sich vor Gott, bevor er über die Menschen erhoben wird: er wirft sich vor dem Altar auf die Erde, erniedrigt sich, um erhöht zu werden. Die Erde Frankreichs, mit der er somit eine innige Verbindung eingeht, erhält durch ihn, durch das Königsheil, Gottes Segen. In der Allerheiligenlitanei wird die Hilfe des Himmels herabbeschworen. Und indem Gott den König segnet, segnet er das Land.
Der König wird gesalbt: Auf Grund dieser Salbung mit dem himmlischen Öl, gemischt mit Chrisam, erhält er einen sakralen Charakter, wird er „außerordentlicher Bischof“, évêque du dehors, genannt. Das dabei gesprochene Gebet ist Programm des christlichen, katholischen Königtums.
Durch den Ring vermählte sich dann der König mit dem Königreich, durch den Arm des Gesetzes erhielt er die Macht, Recht zu sprechen, durch das Szepter Regierungs- und Gesetzgebungsgewalt. Die Krone verbindet Königtum und Priestertum durch viele Symbole. Ein christliches, katholisches Königtum von Gottes Gnaden. Der König zeigt dem Volk den Weg zum ewigen Heil und ist dafür durchaus auch verantwortlich.
„Es lebe Christus, der König von Frankreich – und der König, der Statthalter Christi!“ rief das Volk am Ende der Krönung, wenn die Lustbarkeiten begannen.

Das Herz des Königreichs

Meist wurden die Herzen der verstorbenen Könige vom Körper getrennt aufbewahrt, waren sie doch gewissermaßen das Herz des Königreiches. Und der neue König sandte das oft prächtige Leichentuch seines Vorgängers nach Aachen, nach Aix-la-Chapelle, an den Dom Karls des Großen, als dessen Nachfolger er sich betrachtete. Man kann dort, „De par le Roy“, von des Königs eigener Hand geschrieben, noch heute die dazugehörige Nachricht Ludwigs XVI. über den Tod seines Vorgängers betrachten.
Nun wollen wir nicht so tun, als sei all dies auch immer in Fülle präsent gewesen: natürlich hat es schlechte Könige gegeben, die ihre Sendung nicht erfüllt haben, die Laster und Dekadenz eindringen ließen. Natürlich war es so, daß der christliche, katholische Charakter des Königtums sich verdunkelte in dem Maße, wie sein äußeres Erscheinungsbild glanzvoller und prächtiger wurde – das gilt übrigens auch für das Reich. Es scheint, daß Prunk, Pomp und Glanz in dem Maße zunehmen, wie die eigentliche Idee schwindet.

Wie es endet?

Schon vor der Krönung Ludwigs XVI. (1774) wurde in vor-revolutionären Kreisen gefragt, ob denn eine solche lächerliche Zeremonie „heutzutage“ überhaupt noch einen Sinn habe, außerdem sei sie sehr teuer. Ludwig XVI. stirbt am 21. Januar 1792 auf der Guillotine, und ein Soldat der Revolution zerschmettert die heilige Ampulle mit dem himmlischen Öl zu Füßen der Statue Heinrichs IV., „damit nie wieder ein König in Frankreich sei“ – die Reste werden aber aufgesammelt und aufbewahrt; der letzte gesalbte König Frankreichs ist Karl X., der 1830 vor der liberalen Revolution fliehen muß, weil er seine Salbung ernstgenommen und seine Pflicht zu erfüllen versucht hatte. Im Schloß von Chambord kann man noch heute die Kutschen des Zuges sehen, der 1871 den Grafen von Chambord als zukünftigen König Heinrich V. nach dem Willen des Volkes nach Paris gebracht hätte: wenn er die Fahne der Revolution, die blau-weiß-rote Trikolore, als Fahne Frankreichs anerkannt hätte. Konnte er das? Das christlich-katholische Königtum verbinden mit den Farben der Revolution, die genau jenes Königtum genau deshalb zerschlagen hatte, wofür die Kathedrale von Reims ein steinernes Zeugnis ist? Reims ist viel mehr als ein Versammlungsraum der Gemeinde: die Kathedrale ist ein grandioses Zeugnis einer, wie man heute viel zu kurz sagen würde, „politischen Idee“, steingewordene Idee, steingewordenes Programm, das heute kaum bekannt, meist verzerrt ist.
Daß in dieser Kirche gegen Ende der 70er Jahre ein Rock„konzert“ mit allen dazugehörigen Begleiterscheinungen (Rauschgiftkonsum, Beschmutzung durch Fäkalien, orgiastische Vorkommnisse) geschehen konnte – die Kirche konnte vor dem sonntäglichen Gottesdienst nur notdürftig gereinigt werden –, das sagt alles über unsere Zeit. Reiche Symbolik, Bilder, sinnreiche Zeremonien, ernsthafte Herrscher- und Untertanenpflichten gegen den Rausch einer neuen, ach ja: einer schönen neuen Welt: wer möchte da tauschen?

 
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