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„Hans Wurst“ oder „Hans Faust“?

Von Dirk Herrmann

Vor 100 Jahren erschien der Roman Wiltfeber

Was erwartet man von der (inzwischen ausgestorbenen) Spezies des völkischen Dichters? Einen schwülstig-sentimentalen Heimatroman, gewürzt mit dem süßlichen Duft der Ackerscholle, durchtränkt mit dem Schweiße und Blute des Bauern, der tüchtig über jene daher schreitet: ein Hohelied auf Stamm und Landschaft und auf die tausendjährige Geschichte des Volkes, das sich erfolgreich gegen fremde Einflüsse wehrt. Als völkischer Dichter wird heute Hermann Burte bezeichnet, der genau vor einhundert Jahren – Anfang 1912 – seinen Roman Wiltfeber veröffentlichte, dem die eingangs erwähnten Gemeinplätze nur zu gern untergeschoben werden und der als „wüstes Pamphlet gegen die Moderne und gegen jede Form demokratischen Denkens“1 gilt. Heute sind Autor und Buch weitestgehend vergessen. Als in der NS-Zeit erfolgreicher Dichter wird er meist zur persona non grata erklärt und als „geistiger Vorreiter der nationalsozialistischen Bewegung“2, Antisemit und „Blut-und-Boden-Barde“3 abgestempelt.

Vor 100 Jahren war das anders. Der 33-jährige Burte begründete mit seinem 1912 erschienenen Buch, das in etlichen Blättern des In- und Auslands besprochen wurde, seinen frühen Ruhm. Der französische Nietzsche-Übersetzer Henri Albert zählte den deutschen Dichter zu den „besten seines Landes“4; für die Londoner Times war Burte „das Mundstück wirklicher Kräfte in der deutschen Welt von heute“5. Der Verfasser erhielt für sein Buch kurz darauf den „bedeutendsten Literaturpreis […], der im frühen 20. Jahrhundert im Bereich der deutschsprachigen Literatur geschaffen wurde“6, den Kleist-Preis. Walther Rathenau suchte bald darauf den Kontakt zu Burte; es war der Beginn einer Freundschaft. Gründe genug, sich 100 Jahre später mit dem Werk nochmals auseinanderzusetzen und allzu einseitige Vereinfachungen hintanzustellen.

Schon damals Heimatzerstörung

Der Roman erzählt die Geschichte des letzten Lebenstages von Martin Wiltfeber, eines jungen Mannes, der am Johannistag nach neun Jahren in der Fremde in seine Heimat am Rheinwinkel zurückkehrt. Der Romanheld – ein Dichter – begegnet in diesen 24 Stunden alten Bekannten und stößt auf vertraute Dinge. Aber er sieht sie mit anderen Augen. Wiltfeber preist nicht die Schönheit und Würde seiner Heimat, sondern stimmt einen immer weiter ausufernden Spott- und Hohngesang wider den Rheinwinkel und seine Bewohner an. Überall sieht er Verfall: im Kulturellen, im Künstlerischen, im Politischen und vor allem im Religiösen. Wiltfeber ist ein großer Verächter und Ankläger, ein schonungsloser Kritiker und Warner, ein Rebell und Bürgerschreck. Schon zu Beginn des Romans gesteht er sich ein: „Ich habe keine Heimat.“ Wiltfeber, der Entwurzelte, ist ihr entfremdet. Er ist ein einsamer faustischer Grübler und unverstandener Prophet, der mit seiner Botschaft bei seinen Landsleuten nur auf taube Ohren stößt. Der Roman des „völkischen Dichters“ Hermann Burte ist kein Heimatroman, er ist ein Anti-Heimatroman! Der Protagonist fügt sich seiner Heimat nicht ein, er fällt aus ihr heraus. Nur in seltenen Momenten kann er eine positive Beziehung zu ihr aufbauen. Auf gleicher Augenhöhe spricht er nur mit wenigen, welche jedoch gleichfalls Fremdkörper im Rheinwinkel darstellen. Aber sei es beim Anblick der neuen Gräber auf dem Friedhof oder des Dorfes, das „verstädtert“, sei es beim Besuch des evangelischen Gottesdienstes in der Kirche, sei es bei der Auseinandersetzung mit den Honoratioren des Heimatortes: überall weht ihn der Pesthauch einer in sich morschen und dem Untergang geweihten Welt an, die das Eigene, Gewachsene verschmäht und verramscht. Statt schöpferischer künstlerischer Leistung findet er Formalismus, Mammon und Kitsch, statt inniger Religiosität einen oberflächlichen fremden Glauben, er sucht Eigenverantwortung in der Gemeinschaft und findet eine blökende Schafherde, er sucht den Geist und findet bloße Bildung und leere Worthülsen. Am Ende bleibt die bittere Einsicht: „Und ich fand nichts, was der Verehrung würdig gewesen wäre! – Nur eines blieb mir lieb, das waren die heimlichen Helden, die geduldigen Mühseligen, die leidenden Sucher“ – nietzscheanische Menschen wie er, die in ihrer eigenen Flamme verbrennen und als Verkündiger zugrunde gehen.

Ein Zerrissener und Suchender

Wiltfeber verkörpert – nach außen – das Idealbild der Verbindung von Körperlichkeit und Geistigkeit. Er ist Turner und Künstler zugleich. Der Protagonist besticht sowohl durch seine Statur und seine Manneskraft (als Sieger eines Turnfestes oder Frauenschwarm etwa), aber auch durch seinen Intellekt und sein hohes Reflexionsvermögen (als scharfsinniger und geistreicher Beobachter und Kritiker). Wiltfeber verkörpert – nach innen – aber auch ein zerrissenes Ich: durchgeistigt, aber unfähig zur Tat, hin- und hergerissen zwischen Hochmut und Demut, Vitalität und Sentimentalität, Fortschritt und Tradition, hin- und hergerissen aber auch zwischen zwei Frauen: Madlee und Ursula, die „Todfeindinnen“. Beide verkörpern zwei verschiedene Frauentypen: die eine die mütterlich-bodenständige aus der Heimat, die andere die geistig-herrische aus dem Norden. Wiltfeber will beides, kann sich aber nur für eine entscheiden und stirbt in den Armen der letzteren. Burte schuf eine idealtypische literarische Gestalt der janusköpfigen Jahrhundertwende. Wie so viele Künstlernaturen jener Zeit zerbricht auch dieser „Held“ an der Unvereinbarkeit von Ideal und Wirklichkeit: am Ressentiment seiner Mitmenschen und an den Gegensätzen im eigenen Wesen. Er bezeichnet sich als „Hans Faust“, während ihn die Menge als „Hans Wurst“ verlacht. Wiltfeber ist „der ewige Deutsche“ – so steht es im Titel des Romans –, der „den ewigen Juden […] ablöst“. Und was könnte bezeichnender sein als der Umstand, daß die Mahnungen des Romans ausgerechnet zwei Jahre vor der europäischen Katastrophe, am Ausgang einer ganzen Epoche und kurz vor dem Beginn des deutschen Leidensweges ausgesprochen werden? Wiltfebers wirkmächtige Worte fallen in einer Zeit, da sich deutsches (Un-)Wesen in Kolonien, Kriegsschiffen und Kraftmeierei manifestiert, während eine junge Generation von Künstlern und Reformern dagegen rebelliert.
Wiltfeber ging es zuerst um die Gesundung des Einzelnen. Die Masse der Spießbürger verachtet er. Das Volk existiert nur als Idealvorstellung. Um eine gesamtgesellschaftlich-politische Lösung geht es ihm also nicht, denn „alles, was reichisch ist, ist dritten Ranges“ und „ein Greuel ist ihm der Überstaat“. Für das Hoch auf „deutsches Wesen, deutsches Volk, deutsches Vaterland und deutsche Turnerei“, das der Gauvorsitzende ausbringt, hat Wiltfeber nur ein Gähnen und ein verächtliches Lächeln übrig. Es sind Aspekte des Romans, die man zu bestimmten Zeiten gern verschwieg, während andere überbetont wurden. Apropos: Wiltfeber führt die Begriffe „Rasse“ und „Blut“ im Munde. Dies geschah zu einer Zeit, als jene Worte in allerlei Mündern geführt wurden, als Fragen zur Sozial- und Rassenhygiene populär waren und es ein absurder Gedanke war, einen, der Rasse sagte, als Rassisten zu geißeln.7 Blondheit ist für Wiltfeber weniger ein rassisches Merkmal, sondern vielmehr eine Metapher für geistiges Potential.
Die Auswertung von sechzehn zeitgenössischen Rezensionen8 zeigt, daß man dem Verfasser weder Antisemitismus noch Rassismus oder übersteigerten Nationalismus vorwarf – im Gegenteil: Burte sei „nicht zum Parteimenschen“ geworden, „weder zum Antisemiten noch zum einseitigen Gegenwartspropheten, sondern er steht über den Dingen vermöge seines Künstlertumes“9; der Roman unterstreiche ferner, „daß nicht durchaus die Juden die deutsche Sache hemmen“10, sondern die eigenen Landsleute! Als Burte den Roman veröffentlichte, war Hitler ein 22jähriger erfolgloser Kunstmaler im fernen Wien, und Wiltfeber sehnte sich wahrlich nicht nach jenem, der später aus ihm werden sollte.

Über Nietzsche zum „Reinen Krist“

An Wiltfebers Wesen und Ethos sollte inzwischen überdeutlich geworden sein, daß Burtes Roman nicht nur von Nietzsches Schriften beeinflußt sein „dürfte […]“11, sondern daß er ohne den „Umwerter aller Werte“ undenkbar ist. Das Kernstück von Wiltfebers „Lehre“, seine religiöse Botschaft, stellt dies deutlich heraus. Der Protagonist predigt bei „den Stillen im Lande“ die Lehre vom „Reinen Kristen“. Der Weg zu diesem führt jedoch nur über den „Widerkristen“, d. i. Nietzsche, dessen Lebens- und Schaffensweg Wiltfeber seinen Zuhörern bildhaft vor Augen führt und dabei die Parallelen zum Leidensweg Jesu betont. „Wir wollen nicht den Weg am Blocke [d. i. Nietzsche, DH] vorbeigehen, sondern noch höher springen als er: Das ist der Weg und Sprung zum Reinen Kristen“, mahnt Wiltfeber. Dieser will also weder Ignorant der Botschaft Nietzsches vom Tod Gottes und seinem Übermenschen noch ihr bloßer Epigone sein, sondern Wegbereiter eines neuen Glaubens, der nur durch eine unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Verfasser des Zarathustra möglich sei.
Die Gestalt des „Reinen Krist“ geht zurück auf die Christus-Darstellung im Johannesevangelium und in der altsächsischen Heliand-Dichtung (von dort auch die Schreibung mit „K“). Gemeint ist ein germanisierter, von fremden – und mithin jüdischen – Einflüssen gereinigter, starker, sich selbst opfernder und heldischer Christus – kein Übermensch, sondern ein Gottmensch. Er bleibt eine vage Idealgestalt, und die religiöse Botschaft des Romans bleibt nebulös. Während Wiltfebers Kultur- und Religionskritik noch heute fesselt, hat sich sein Lösungsansatz – aus gegenwärtiger Sicht – als fatal erwiesen.
Folgerichtig ist es jedoch, wenn der Held am Ende beim Liebesakt in den Armen der adligen Ursula stirbt. Dieser Schluß wird mehrmals angekündigt und mit einem defätistischen Ausspruch des Helden besiegelt: „Genieß und stirb“. Aber selbst am Ende dieser Passion, an der ein Span vom Kreuze Jesu auf der Brust des Protagonisten verbrennt, siegt nicht die Tat, sondern Wiltfeber wird vom Blitz erschlagen.
Nietzsche hat dem Roman mit seinem Zarathustra aber auch anderes Rüst- und Handwerkszeug geliefert: Aufbau, Handlungsverlauf sowie einzelne Charaktere und Orte sind schlichtweg übernommen. Besonders deutlich wird der Einfluß in Sprache und Stil. Burte übernimmt nicht nur einzelne Wendungen wörtlich aus dem Zarathustra, sondern versucht ihn in Gestus und Duktus nachzuahmen. Aber das, was an Nietzsches später Prosa so fesselt: die Leichtigkeit und Bildhaftigkeit, das Tanzende und Singende – genau das vermißt man an Burtes Protagonisten und seiner Sprache nur zu sehr. Sein blinder Eifer, sein aufrührerischer Ton und seine harsche Kritik schießen oft über das Ziel hinaus; Wiltfeber lähmt früher oder später nicht nur seine fiktiven Zuhörer, sondern auch den realen Leser von heute. Darüber hinaus verwendet Burte eine nahezu fremdwortfreie und mit eigenwilligen Verdeutschungen und Dialektwörtern durchsetzte, kraftstrotzende Sprache, die den heutigen Rezipienten gleichfalls befremden mag, aber die Wirkung von Rede und Erzählung oft unterstreicht. Sein prophetisch-pathetischer Sprachgestus ist typisch für die Zeit des Frühexpressionismus. Ferner haben einige Romansentenzen aphoristischen Charakter, die sich nur allzu leicht aus dem Werkganzen herauslösen lassen und als isolierte Zitate den Blick auf den gesamten Roman verstellen. Abschließend sei bemerkt, daß Wiltfeber auch rhetorische und ironische Possen mit seinen Zuhörern treibt, die nicht für bare Münze genommen werden dürfen.

Ein konservativer Revolutionär

Zweifelsohne haben auch andere wichtige Vordenker der Deutschen Bewegung auf den Dichter gewirkt: Chamberlain, Lagarde und Langbehn12, die nicht nur bei den Völkischen auf Resonanz stießen, sondern bei verschiedensten weltanschaulichen Richtungen, vor allem aber bei den um 1900 erstarkenden Lebensreformbewegungen. Zusammen mit Nietzsche wurden sie alle besonders in der Jugendbewegung als Wegbereiter verehrt. Die Wandervögel griffen vor und nach 1914/18 begierig nach Burtes Sucherroman, denn Wiltfeber rebellierte gegen den Geist der Väter. Gerade beim Wandervogel – wo das Volk das „große […] und idealistische […] Ziel“ war und wo vor dem Ersten Weltkrieg „in solcher Idee […] noch rechte und linke Elemente ungeschieden“13 waren – fiel Wiltfebers Rede auf fruchtbaren Grund. Burtes Werk war jedoch nicht nur ein „Sturmbuch der gärenden Jugend“14 jener Zeit, sondern es brachte die Ängste und Widersprüche einer ganzen Epoche zum Ausdruck. Burte, der genauso provozierte wie sein Anreger Nietzsche, ging es um eine grundlegende seelische und geistige Erneuerung seines Volkes, nicht um das blinde Festhalten am Ererbten, sondern um eine radikale Reformation aus dem Geiste der Tradition. Wiltfeber gehört zu jenen nach den „gültigen Bindungen“ Suchenden mit „strengerem, männlicherem Gehaben“, die die „Ganzheit des Lebens“ (Hofmannsthal) erstreben. Er war ein früher konservativer Revolutionär.
Burte wurde 1879 geboren – am Ende jenes Jahrzehnts, in dem nicht nur die Gebrüder Mann, Hesse, Hofmannsthal und Rilke das Licht der Welt erblickten, sondern auch etliche bedeutende und disparate „Dichter aus dem Umkreis der Konservativen Revolution“15 wie Erwin Guido Kolbenheyer, Hans Grimm, Börries von Münchhausen und Rudolf Borchardt. Sie alle betraten um 1900/10 das literarische Parkett und erlangten rasch – auf je sehr verschiedene Art und Weise – Bedeutung und Ansehen in der literarischen Öffentlichkeit. Während die einen heute zum Kanon der klassischen Moderne gehören, werden die anderen seit den 1970er Jahren weitestgehend aus den Literaturgeschichten verbannt. Ausschlaggebend dafür war und ist nicht die literarische Qualität ihres Schaffens oder die Relevanz innerhalb der Dichtung ihrer Zeit. In Verruf gerieten sie wegen ihrer kunst- und literaturtheoretischen Konzeptionen oder wegen politisch-weltanschaulichen Verlautbarungen vor allem in bezug auf den Nationalsozialismus oder wegen ihres kulturpolitischen Wirkens zwischen 1933 und 1945. Oft genügt auch der Hinweis darauf, daß sich die Bücher dieser Autoren in der NS-Zeit besonderer Beliebtheit erfreuten und daß sie für ihr Werk in dieser Zeit geehrt wurden. Ein nüchterner Blick auf das gesamte literarische Schaffen geht dabei völlig verloren. Im Einzelfall wird man erkennen, daß die Gescholtenen als Wahrer der Tradition zwar der Moderne kritisch gegenüber standen, aber daß es sich oft um Geläuterte handelte, die selbst den künstlerischen Moden ihrer Zeit für gewisse Zeit unterlagen. Man wird dem gesamten Leben und Werk dieser Dichter nicht gerecht, wenn man ein Sündenregister geistig-politischer Verfehlungen erstellt – auch wenn es diese wie im Fall Burte gegeben haben mag – oder wenn man lediglich diese zu entkräften versucht.

Ein Anhänger Hitlers?

Der Alemanne Hermann Burte, der auch Maler war, begann als ausgesprochener Formkünstler („Gehalt und Form, die beiden / Sind lebend nie zu scheiden“) – als Verfasser von großangelegten, durchkomponierten und an Shakespeare geschulten Sonettzyklen etwa, die er einer unerreichbar geliebten adligen Engländerin und einer flämischen Pianistin widmete. Den beiden zentralen Frauengestalten im Wiltfeber, Madlee und Ursula, widmet er später auch zwei Gedichtbände. Mit einem davon wird er in seiner Heimat in den 20er Jahren als Mundartdichter weithin bekannt und in einem Atemzug mit Johann Peter Hebel genannt. Der Vitalismus und die Sprachgewalt des Wiltfeber tauchen auch in der Lyrik wieder auf. In den 30er und 40er Jahren hat er Voltaires Gedichte und andere französische Lyrik übersetzt. In Frankreich wie in England verbrachte er – wie Wiltfeber – etliche Jahre seiner Reifezeit. In seiner grenznahen badischen Heimat wirkte Burte als Kultur- und Literaturvermittler zwischen Deutschland, der Schweiz und Frankreich.
In Burtes heutigem „Sündenregister“ steht ein Gedicht mit dem Titel „Der Führer“. Es wurde 1931, in einer Zeit, als der Dichter Mitglied und Anhänger der DNVP war, erstmals veröffentlicht.16 Acht Jahre später wurde es in einer Anthologie, die „Gedichte für Adolf Hitler“ enthielt, erneut abgedruckt.17 Dort stehen die Verse des Alemannen recht isoliert da. Das lyrische Ich wahrt eine gewisse Distanz zum angesprochenen Führer, der nicht näher benannt wird; die oftmals pathetisch-exaltierte Ausdrucksweise der anderen Autoren finden wir hier nicht; Burtes Führer „redet in gelinder Weise“. Es könnte ein Gedicht auf jeden „Führer“ sein, vielleicht ja auch auf den Vorsitzenden der Deutschnationalen, Hugenberg, aber gewiß nicht auf Hitler. Denn ein Jahr nach der Erstveröffentlichung des Gedichtes griff Burte diesen öffentlich an und mußte sich daraufhin von der örtlichen SA und vom Völkischen Beobachter schikanieren lassen.18
Aus einem Brief Edgar Julius Jungs an Burte geht hervor, daß der einflußreiche Jungkonservative den Alemannen noch drei Monate nach der „Machtergreifung“ zu jenen „geistigen Kräfte[n] im Land“ zählte, die „in geschlossener Abwehr dessen, was aus der deutschen Revolution zu werden droht, zusammenstehen“19. Anläßlich der Bücherverbrennungen im Mai 1933 äußerte sich der Dichter bestürzt und prophezeite dem „Tausendjährigen Reich“ ein frühzeitiges Ende. In den darauffolgenden Jahren setzte ein Umdenken bei Burte ein.20 1936 wurde er Parteimitglied. Bald darauf ließ er sich auch vor den kulturpolitischen Karren von Partei und Staat und „Führer“ spannen. Der Wiltfeber, der bei den Konservativen und Altvölkischen im Kaiserreich auf Ablehnung oder Unverständnis stieß, und einige Dramen des Dichters, die z. T. umgeschrieben wurden, erlebten eine Renaissance.

Die Dramen ‚Simson‘ und ‚Katte‘

Weite Kreise zogen vor allem die Bühnenwerke des Dichters. Ein direkter Weg vom Wiltfeber führt zum Simson, einer Bühnenbearbeitung des alttestamentarischen Stoffes, die 1917 veröffentlicht wurde. Auch dieser Held ist ein Leidender und Zerrissener; auch er steht zwischen zwei Frauen. Während Wiltfeber scheitert, wird Simson, der beide Frauen abweist, „im Leiden geläutert […] und erlöst durch grenzenlose Demut vor dem Ewigen“21. Er erkennt, daß nur in der Gemeinschaft des Volkes ein Leben in Gott möglich ist, denn: „Wer ohne Volk, ist ohne Gott“. Dieser Erkenntnis beugt sich Simson durch seinen Opfertod. Von hier führt ein weit(er)er Weg zum lyrischen Spätwerk des Dichters, in dem nicht mehr „Stolz und Herrentum“ der frühen Werke walten, sondern „Demut und Nichtigkeit“ vor dem Göttlichen.22
„Unheilbar ist erkranktes Königtum“ – das ist der Kernsatz eines der ersten Dramen Burtes aus dem Jahr 1907. In seinem erfolgreichsten Stück, dem Preußendrama Katte (1914), wird der Dichter zum Bewunderer des preußischen Staatswesens, dem sich der Einzelne unterordnet und beugt, wenn ein starker und fähiger Herrscher regiert. Man erkannte die Zeitkritik des Stückes, und Wilhelm II. unterband die Würdigung des Dichters mit dem Schillerpreis.
Allen positivistischen und individualistischen Tendenzen seiner Zeit zum Trotz hat sich Hermann Burte als Künstler jenen überindividuellen Kräften und ordnenden Mächten zugewandt, die den Menschen wieder in ein Ganzes stellen und die die verlorengegangenen Bindungen zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft sowie der göttlichen Weltordnung versuchen wiederherzustellen.
Es lohnt sich also, künftig etwas genauer hinzuschauen, wenn von völkischen Dichtern oder von anderen Stigmatisierten dieser Zunft und ihren Werken die Rede ist. Der völkische Reformer ist weder ein hölzernes Eisen, noch muß er ein verschrobener Esoteriker sein, an dem die gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüche der Moderne spurlos vorübergegangen sind. Fraglich wird jene Sichtweise des Historikers, die alle „rechten“ Geisteshaltungen ex post verstehen und richten will. Und vielleicht fällt es dem einen oder anderen Leser wie Schuppen von den Augen, daß manche Fragen und Probleme, die vor 100 Jahren aufgeworfen wurden, bis heute an Aktualität nichts eingebüßt haben.

Anmerkungen

1  Hans Sarkowicz/Alf Mentzer: Schriftsteller im Nationalsozialismus. Ein Lexikon. Berlin 2011. S. 186.
2  Kathrin Peters: H. B. – der Alemanne. In: Rolf Düsterberg (Hg.): Dichter für das „Dritte Reich“. Bielefeld 2009, S. 36.
3  o. Verf.: Brutale Romantik. In: Der Spiegel, Nr. 21. v. 22. Mai 1989.
4  Henri Albert: Wiltfeber, der ewige Deutsche. In: Mercure de France v. 16. August 1912.
5  o. Verf.: Wiltfeber, der ewige Deutsche. In: The Times v. 30. Oktober 1912.
6  Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. München 2004, S. 112.
7  Günter Hartung betont, daß „B.s Volk und Rassebegriff […] noch nicht der ontologische der Nazis [sei], eher derjenige Chamberlains, der zwischen biologischem Determinismus und religiösem Idealismus zu vermitteln sucht.“ (G. H.: Deutschfaschistische Literatur und Ästhetik. Ges. Studien. Leipzig 2001, S. 51.
8  Vgl. www.noth.net/hermann-burte/wiltfeber/wiltfeber-besprechungen.htm [aufgerufen am 2. Juni 2012]
9  H.[anns] M.[artin] E.[lster]: Ein deutsches Buch. In: Tägliche Rundschau v. 2. August 1912.
10  H. Diers in: Nordwestdeutsche Morgenzeitung v. 24. November 1912; Burtes Ressentiment gegenüber dem Judentum ist rein religiös motiviert, nicht sozialdarwinistisch (vgl. Hartung [s. Anm. 8]), S. 51.
11  Peters (s. Anm. 2), S. 24.
12  Burte wurde analog zu Langbehn später der „Wiltfeber-Deutsche“ genannt.
13  Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist. 2. Aufl. München 1991, S. 121.
14  Eugen Kalkschmidt: Wiltfeber. Die Geschichte eines Heimatsuchers. In: Frankfurter Zeitung v. 5. April 1912.
15  Vgl. die entsprechende Rubrik bei Armin Mohler/Karlheinz Weißmann: Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch. 6., völlig überarb. u. erw. Aufl. Graz 2005.
16  H. B.: Der Führer. In: Der Markgräfler 8 (1931) Nr. 5 v. 15. März 1931.
17  H. B.: Der Führer. In: Dem Führer. Gedichte für Adolf Hitler. Hg. v. K. H. Bühner. Stuttgart/Berlin [1939], S. 14.
18  Vgl. Peters (Anm. 2), S. 33 f.
19  Brief v. 25. April 1933. Zit. nach www.noth.net/hermann-burte/deutschnationaler.htm [aufgerufen am 02. 06. 2012]
20  Mögliche Quellen hierzu sind noch zu erschließen. Burtes Name findet sich auch nicht unter dem berüchtigten Treuegelöbnis von 88 Schriftstellern für Hitler vom Oktober 1933.
21  Karl Berger: H. B.s Wesen und Werk. In: Die schöne Literatur 30 (1929), S. 97–110 (hier S. 106).
22  Walter Franke: H. B. zum 75. Geburtstag. In: Badische Heimat 34 (1954) H. 1., S. 1–4.

 
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