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300 Jahre Jean-Jacques Rousseau

Von Benedikt Kaiser

Zur Rousseau-Kritik im politischen und katholischen Konservatismus

Am 28. Juni vor 300 Jahren wurde im calvinistisch geprägten Genf der spätere Politiktheoretiker, Philosoph, Pädagoge und begnadete Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) geboren. Rousseaus Biographie, so brüchig und aufschlußreich, besitzt für den Leser bis heute einen außerordentlichen Reiz. Person und Werk, Existenz und Idee sind nicht voneinander zu trennen. Diese Synthese hat zahlreiche Denker der europäischen Geistesgeschichte herausgefordert. Rousseaus Intimfeind Voltaire sowie die Enzyklopädisten um D’Alembert und Diderot waren seine kritischen Zeitgenossen, Robespierre und die Mitstreiter der Französischen Revolution verehrten ihn, Kant, Hölderlin und Marx lasen und rezipierten Rousseau, nicht nur die deutschen Idealisten verschlangen ihn, kurz: Rousseau wurde binnen 150 Jahre zum Klassiker der politischen Ideengeschichte.

Unauflösliche Widersprüche sind dem umfangreichen Werk des Denkers der volonté générale immanent. Diese Antagonismen forderten die Rezipienten heraus und ermöglichten ihnen, Rousseau für sich selbst zu beanspruchen, den eigenen Standpunkt bestätigende Stellen nachzuweisen und „ihren“ Rousseau zu kreieren: „Es gibt einen jakobinischen und einen konterrevolutionären, einen rechten und einen linken Rousseau.“1 (G.-K. Kaltenbrunner)
Doch nicht nur jede politische Richtung nahm und nimmt Rousseaus Schaffen aus dem ihr eigenen Blickwinkel wahr, sondern auch „[j]ede Generation entdeckt einen neuen Rousseau und findet in ihm das Beispiel dessen, was sie sein will oder was sie verabscheut.“2
In der politischen und religiösen Rechten – im Folgenden werden einige wenige ausgewählte Denker betrachtet – überwiegt dabei seit erster Generation der Rousseau-Lektüre die Abscheu, speziell bei den älteren Granden dieser Strömungen: Joseph de Maistre und Louis de Bonald.
Die geistigen Schöpfer der Gegenrevolution standen unter den abstoßenden Eindrücken der grande terreur der Jakobiner. Die Revolutionäre sahen Rousseau als ihren Wegbereiter zur Verwirklichung der egalitären Republik an, fanden im 1762 veröffentlichten Contrat social (Gesellschaftsvertrag), der nur ein Teil des ursprünglich geplanten Großwerkes Institutions politiques darstellt, ihre „Bibel“ und sorgten 1794 für die feierliche Leichenüberführung in das Panthéon. Zu dieser Zeit weilte de Maistre bereits im Schweizer Exil. Dort verfaßte der katholische Monarchist seine als Entgegnung zu Rousseaus politischem Hauptwerk konzipierte Streitschrift De la souveraineté du peuple3, in der er Rousseaus Prinzip der Volkssouveränität geißelte und der politisch-religiösen Reaktion ein geistiges Fundament von ausgesprochener Schärfe gab: de Maistre wurde zum gegenrevolutionär-monarchischen Anti-Rousseau (so wie Arnold Gehlen Jahrhunderte später der anthropologische Anti-Rousseau sein wird). Schon Rousseaus Ausgangspunkt – der von Natur aus gute homme de la nature wird durch den fortschreitenden Prozess der Vergesellschaftung zum homme de l’homme und böse – überwindet de Maistre in seiner theokratisch inspirierten Konzeption einer Monarchie. Vielmehr sei der Mensch, dem katholischen Glauben gemäß, durch die Erbsünde gezeichnet; die menschliche, hierarchisch zu gliedernde Ordnung könne infolgedessen nur durch den von Gott erwählten souverän regierenden Herrscher bestimmt werden. Rousseaus Weltbild war in diesem Kontext ein gotteslästerlicher Verstoß gegen die natürliche Ordnung.

Halb Mensch, halb schmutztriefender Faun

Werden einige Generationen und mehr als 100 Jahre übersprungen, hat sich die kritische, ja feindliche Sicht der intellektuellen Rechten in bezug auf Rousseau nicht geändert. Anläßlich der Feierlichkeiten des französischen Staates zu Ehren des 200. Geburtstags Rousseaus im Jahre 1912 hielt der nationalistische Schriftsteller Maurice Barrès eine Brandrede in der Assemblée Nationale. Auch die erst 14 Jahre zuvor im Zuge der Dreyfus-Affäre gegründete Action Française um den kapriziös antijudaistischen und germanophoben Charles Maurras begehrte auf: „Wahnsinn, Barbarei, Ignoranz, Eigenbrötlerei, Einsamkeit, Hochmut und Revolte, das ist es, was der mit biblischem Mark genährte Abenteurer unter dem Namen der Tugend auf die Altäre hob. […] Halb Mensch, halb schmutztriefender Faun, gefiel Rousseau gerade durch seinen primitiven Aufzug. […] Wie Voltaire, aufgeklärt durch den antisemitischen Geist des Abendlandes, sehr wohl bemerkt hatte, hatte Frankreich Lust bekommen, auf allen Vieren zu gehen und Heu zu fressen. Es ging, es fraß.“4 Diese von Haß genährten Zeilen veranschaulichen deutlich, wie Rousseau von den Köpfen der Neoroyalisten verstanden wurde: als Vater des Egalitarismus, als durch und durch unsympathisches Aushängeschild einer Revolte wider den Geist, als Prediger einer natürlichen Primitivität und des naiv-optimistischen Menschenbildes. Rousseau wurde als Wegbereiter ebenjener republikanisch-egalitärer Verhältnisse gelesen, die innenpolitisch das Feindbild für die französische Rechte dieser Tage bedeutete. Ihn so zu interpretieren, heißt aber unweigerlich auch, eine verengende Sicht auf diesen schwer zu fassenden Philosophen einzunehmen.
Gewiß finden sich besonders im Contrat social Vorstellungen, die es Maurras und seinen intellektuellen Weggefährten äußerst einfach machten, Rousseau zur Gänze zu verwerfen, also das zu finden, was sie verabscheuten. Ein Staat wird nach Rousseau etwa dann zum Staat, wenn er sich durch einen Gleichheit stiftenden Gesellschaftspakt konstituiert. In diesem Vertragsschluß überantworte sich das freie Individuum mit allen seinen ihm angeborenen Rechten der Gemeinschaft. Wenn sich jeder freiwillig mit den Anderen vereinigt, gehorcht er sich selbst, bleibt also frei. Ab dem Moment der Übereinkunft handeln die Personen nicht mehr als Einzelpersonen, sondern als eine „moralische Gesamtkörperschaft“5. Der Gemeinwille (volonté générale) findet sich nach Rousseau durch die versammelte Bürgerschaft der Republik und steht im Gegensatz zum bloßen Partikularwillen aller (volonté de tous). Während ersterer durch die Vernunft generiert wird, die nach Rousseau den Menschen innewohnt und, als innere Stimme wirkend, sie dazu bringen wird, das allgemeine Wohl zu erkennen und einzufordern, ist zweitgenannter lediglich die Summe der Privatinteressen aller Individuen.

Die volonté générale

Jede politische Autorität besitzt nach Rousseau ihre Quelle also im Individuum, in der freien Subjektivität. Die volonté générale geht vom „kollektiven Ich“ aus, das sich im Zusammenwirken des Willens der nach Allgemeinwohl strebenden Individuen konstituiert. Die (unteilbare!) Souveränität fällt mit jenem Akt zusammen, in dem das freie Bewußtsein das Wohl der Allgemeinheit verlangt. Bedroht ist das kollektive Ich durch jene partikulare Willensäußerungen, durch divergierende Meinungen, die sich etwa in Parteien oder egoistischen Individuen offenbaren, daher müsse dafür gesorgt werden, „daß im Staat keine Teilgesellschaften entstehen.“6 Der Verstand indes kann durchaus irren, wie Rousseau eingesteht, ebenso wie es für ihn möglich ist, daß man das allgemeine Wohl möchte, es aber nicht sieht. Zu diesem Zweck gibt es den legitimen Gesetzgeber, den législateur, der das Schicksal des Volkes in der Hand hält und den Verstand repräsentiert, der einer volonté zu Hilfe kommt, die das Gute will, ohne es bewußt zu erkennen, der mithin als Erzieher wirkt. Bedenklich überdies, daß die Totalität der Rousseauschen Utopie greifbar wird, wenn er nüchtern feststellt, daß vom unzerstörbaren Gemeinwohl abweichende Meinungen zum Ausschluß – Verbannung oder Todesstrafe – der betreffenden Person aus der Gesellschaft zu führen hat.7 Diese hier nur skizzierte Kernauffassung Rousseaus im Gesellschaftsvertrag, die durch die französischen Revolutionäre leicht nutzbar gemacht werden konnte (Jakobiner als „Erzieher“, Ausschluß des Heterogenen, also der Royalisten, Katholiken, etc.), darf aber den Blick nicht darauf verstellen, daß Rousseau bei entsprechenden Passagen nicht an Frankreich gedacht hat. Das macht die Vorstellungen nicht minder gefährlich, aber offenbart einen erheblichen Qualitätsunterschied. Vor Augen war ihm eine moderne Polis von der Größe Genfs. Große Staaten – zumal Frankreich – sind für Rousseau unmöglich gut zu regieren. Als Voraussetzung für eine Demokratie benötigt man einen „sehr kleinen Staat“8 um die Bürger vollständig versammeln zu können, Einfachheit der Sitten, weitestgehende gesellschaftliche und soziale Gleichheit und vor allem die unbedingte Einhaltung der qua Urkontrakt selbst auferlegten Gesetze. Daß dies für Staaten von der Größe Frankreichs nicht in Betracht kommt, ist dabei evident. Es darf nicht vergessen werden, daß der Contrat social eine utopische Idealvorstellung ist, kein revolutionäres Aktionsprogramm, als das es durch die Jakobiner gelesen wurde. Rousseau wußte um die Schwierigkeit seiner direktdemokratischen Republik. „Gäbe es ein Volk von Göttern, würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung eignet sich nicht für Menschen.“9 Die Existenz eines Legislators im Gedankenexperiment Rousseaus, als Instanz zur Überwachung der Gesetzesbefolgung, zeugt ungeachtet seines optimistischen Menschenbildes zumindest von einem Funken Mißtrauen gegenüber der Gattung Mensch, die, nach Rousseau, für das zeitgenössische Übel nicht schuldig zu sprechen war. Er haßte die herrschenden Zustände seiner Zeit in Frankreich, er klagte die dekadente Lebensweise der unsittlichen Reichen an, er schleuderte seine Anklagen gegen Müßiggang und Tugendlosigkeit. Dies wären aber alles Folgen der Geschichte, des Verfalls, der Gesellschaftsprozesse und nicht auf den Menschen per se zurückzuführen. Die Rousseausche Kritik der Zustände ist nach dem Genfer Rousseau-Kenner Jean Starobinski daher denkgerecht von dem Ich, dem Individuum, auf die höhere Ebene, die Gesellschaft, transferiert worden.10

Revolutionsfurcht

Eine Revolution als rettender Ausweg kam Rousseau indes nicht in den Sinn. Iring Fetscher hat dies anschaulich herausgearbeitet und ins Gedächtnis gerufen. Der sozialdemokratische Marxismus-Experte verwies nicht nur anhand der Rousseauschen Verfassungsvorschläge für Korsika (1764) und Polen (1770) auf die strukturelle Revolutionsfeindlichkeit des angeblichen Revolutionärs. Auch Rousseau selbst äußerte sich vernichtend über den Gedanken eines tatsächlichen Umsturzes, als er ausschloß, daß ein korrumpiertes Volk – das war das französische zu jener Zeit für Rousseau zweifellos – zur Tugend zurückkehre, wenn es Eitelkeit und Luxusstreben verinnerlicht habe. Dann „gibt [es] kein Mittel mehr – es sei denn irgendeine große Revolution, die fast ebensosehr zu befürchten wäre wie das Übel, das sie zu heilen vermöchte, und die daher weder herbeigewünscht noch vorausgesagt werden darf.“ Und bezüglich Frankreich wird Rousseau noch konkreter, wenn er die Gefahr betont, „[…] die entstünde, wenn einmal die Massen, die die französische Monarchie bilden, in Bewegung gerieten! Wer könnte den Erdrutsch aufhalten oder die Wirkungen voraussehen, die es haben kann? Und wenn auch alle Vorteile des neuen Planes unbestreitbar wären, welcher vernünftige Mensch würde es wagen, alte Gebräuche abzuschaffen und alte Maximen zu ändern, um einem Staat, der im Verlauf von dreizehn Jahrhunderten entstanden ist, eine neue Form zu geben?“11 Solche Zaghaftigkeit, wenn es um die Abschaffung des rigoros abgelehnten Status quo geht, wird von einem totalitär-republikanischen Denker wie Rousseau nicht erwartet. Hans-Dietrich Sander hat diese scheinbare Dichotomie Radikalität-Revolutionsfurcht verständlich gemacht, als er unterstrich, daß die Radikalität Rousseaus eben keine politisch-umstürzlerische war: „Rousseaus Radikalität war philosophisch.“12 Diese Entlastung ließ der große katholische Denker Erik R. v. Kuehnelt-Leddihn nicht gelten. Der leidenschaftliche Verteidiger der Freiheit wurde nicht müde, vor totalitären Tendenzen zu warnen und ebenjene in der Ideengeschichte Europas aufzudecken. Nicht zufällig nannte er sein imposantes Hauptwerk Freiheit oder Gleichheit?, wohlwissend, daß Rousseau diese beide Werte für unauflöslich miteinander verbunden erklärte, indem er nicht nur Freiheit und Gleichheit postulierte, sondern vielmehr Freiheit durch Gleichheit. Rousseau ist für Kuehnelt-Leddihn, Jacob Burckhardt zitierend, daher einer der Väter des großen Unheils.13 Und die Vorstellung von Freiheit, die Rousseau im Gesellschaftsvertrag darlegte, ist selbstredend nicht die Freiheit, die sich der österreichische Philosoph ersann. Rousseaus paradoxer Zwang zur Freiheit bei Ausscheidung des Abweichenden wird von Kuehnelt-Leddihn verworfen, da dies weniger Freiheit bedeute als vielmehr Gleichschaltung, Nivellierung, Totalität. Diesen Elementen einer Volksdiktatur, in der das Individuum in der grauen, einförmigen Masse aufginge, stellt er das Postulat der größtmöglichen Freiheit des Einzelnen entgegen, das, der christlichen Tradition folgend, in einer auf den katholischen Werten basierenden Ständeordnung zu verwirklichen sei.14 Kuehnelt-Leddihn geht jedoch weiter und verneint die Theorie der Volkssouveränität grundsätzlich. Egalitäre Demokratie, die alle Autorität von einem Volk und nicht, wie die klassische katholische Theologie, von Gott ableitet, „ist ein Stück Anthropolatrie und menschlicher Titanismus, wie sie der Ersten Aufklärung und der Französischen Revolution entspringen.“15 Gleiches gilt für die antichristlichen und chiliastisch-totalitären Zivilreligionen der braunen und roten Jakobiner, Nationalsozialismus und Bolschewismus.

Vernichtung des Heterogenen

Ein weiterer Aspekt der Rousseauschen Utopie der direkten Demokratie, eine Zivilreligion, ist nicht nur Kuehnelt-Leddihns katholischer Weltsicht diametral entgegen stehend. Im Gesellschaftsvertrag verwirft Rousseau die christliche Religion sogar als solche. Weil er aber durchaus einschätzen kann, daß Menschen ein religiöses Bedürfnis aufweisen, fordert er eine bürgerliche Ersatzreligion als Zusammengehörigkeit stiftendes Korsett, ein „ziviles Glaubensbekenntnis“, das teilen muß, wer ein guter Bürger sein möchte. Die Dogmen der Zivilreligion sollten einfach verständlich und wenige an der Zahl sein. Wer dies nicht anerkennt, soll mit der Verbannung gestraft werden.16 Diese wiederholte Androhung der Exklusion des Abweichenden taucht auch bei Carl Schmitt auf; häufig wird der wirkmächtige katholische Staats- und Völkerrechtler, Politik- und Sozialwissenschaftler und präzise Analysator der Internationalen Beziehungen auf eine entsprechende Passage verkürzt, in der es nahezu rousseauistisch hieß, daß die Homogenität eine conditio sine qua non für eine funktionierende Demokratie sei, bei der notfalls die „Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen“17 obligat ist. Rousseaus Wirken war für Schmitt allerdings kein primäres Forschungsfeld, vielmehr konzentrierte sich Schmitt auf Rousseaus kontraktualistischen Antipoden Thomas Hobbes. Das heißt im Umkehrschluß aber nicht, daß eine Rezeption Rousseaus nicht stattfand.

Rousseau und Schmitt

Für Schmitts Politische Theologie etwa bot sich der Genfer Philosoph als prädestiniertes Beispiel an, da die „Politisierung theologischer Begriffe“18 durch Rousseau augenfällig ist. Aber auch den Gesellschaftsvertrag unterzieht Schmitt einer wißbegierigen Analyse und bestätigt, daß die von Rousseau postulierte Selbstherrschaft des Volkes als unveräußerlichem Recht der späteren Rechtfertigung einer Diktatur diente und die Formel für den „Despotismus der Freiheit“19 liefert. Eine Scheidung der beiden Vorstellungen von identitärer Demokratie ist daher nötig, denn sie ist offenbar nicht kongruent. Die Rousseausche Identität kommt in einem Akt der Zivilisierung durch Übereinstimmung des Individuums mit dem Gemeinwohl zustande, die volonté générale verlangt – nach gemeinsamer Willensbildung durch Vertragsschluß – Gehorsam gegenüber dem politischen Körper des Souveräns. Der Wille des Volkes regiert, der nicht einfach Mehrheitswille, sondern vernunftgetragenes Streben nach dem Allgemeinwohl meint. Die Einheit, die Rousseau konzipiert, kann nicht ohne übereinstimmenden Beschluß, d. h. ohne normative Grundlage, existieren. In diesen Entscheidungsfindungsprozeß sind alle Menschen einbezogen, der Wille zur Einheit durch die Versammlung der atomisierten Individuen ist notwendig. Bei Schmitt wird die normative Genese vernachlässigt; die Entität Gemeinschaft ist vorhanden, sie muß sich nicht erst konstituieren. Der im Gegensatz zu Rousseau von Skepsis gegenüber dem Menschen geprägte Schmitt verwirft den staatsrechtlichen Ansatz, der den Einzelmenschen zum Ausgangspunkt erhebt. Bei Schmitt ist der Staat keine abstrakte Konstruktion von Individuen, er ist als solches Träger einer überpersönlichen Dignität.20 Die antipluralistische Stoßrichtung, die Rousseau und Schmitt gemein haben21, wird infolgedessen durch unterschiedliche Prämissen verursacht, hat aber gleichermaßen zur Folge, daß das Gemeinwesen vor Beeinflussung oder Beschlagnahme durch nichtstaatliche Willensträger (Rousseau: egoistischer Partikularwille, Schmitt: wirtschaftlich-soziale Lobbys) geschützt werden soll. In diesem Punkt treffen bei Rousseau Antipluralismus und Demokratie, Rechte des Individuums und unteilbare Macht aufeinander.

Der wahre Rousseau

Rousseau ist nicht nur aus diesem Grund in seinem gesamten Werk nicht auf einen unumstößlichen Nenner zu bringen; eine parteiliche Verabsolutierung einzelner Ideen, seien sie noch so drängend, ginge fehl. Der Philosoph Robert Spaemann hat diese Pluralität der potentiellen Rousseau-Rezeption auf den Punkt gebracht, als er akzentuierte, daß „Rousseau zum Vater aller modernen Modernismen und Antimodernismen geworden [ist]: der Revolution und der Restauration, des liberalen Rechtsstaates und der populistischen Diktatur, der antiautoritären Pädagogik und des Totalitarismus, des romantischen Christentums und der strukturalistischen Ethnologie. Aller Streit um den ‚wahren Rousseau‘ ist vergeblich. Für jede rousseauistische Verirrung gibt es auch eine rousseauistische Kritik.“22 Zu einem nahezu gleichlautenden Fazit kam Claude-Lévi Strauss.
Wem derlei mannigfaltige Interpretationsmöglichkeiten des Guten zu viel sind, wem der Staatsphilosoph Rousseau begreiflicherweise nicht als „Theoretiker des organischen Staates“ (Edgar J. Jung23) erscheint, sondern etwa – mit Joseph de Maistre – als „geistiger Brandstifter“ der Französischen Revolution oder – mit Jacob Talmon und Ernst Fraenkel – als Ursprung der „totalitären Demokratie“24 und nationalsozialistischer wie bolschewistischer Raserei, wie Hans Freyer, dem sei gleichwohl empfohlen, sich anläßlich des 300. Geburtstags Rousseaus die autobiographischen Schriften des Genfer Philosophen (fern jeden politischen „Rousseauismus“) gelassen zu Gemüte zu führen. Wer die Bekenntnisse oder die Träumereien eines einsamen Spaziergängers aufgreift, wird unbeeindruckt von jedweder Antipathie unweigerlich in den Bann der einzigartigen Sprachvirtuosität gezogen und erlebt in Rousseau einen Menschen, dessen Verfolgungswahn durch wirkliche Verfolgung Bestätigung erfuhr, der als Denker der willenshomogenen Gesellschaft als widerspenstiger Ausgeschlossener lebte und den die verordnete Einsamkeit und Isolation schließlich zu diesen Glanzlichtern der europäischen Literatur stimulierte.

Anmerkungen

1  Kaltenbrunner, Gerd-Klaus: Europa. Seine geistigen Quellen in Porträts aus zwei Jahrtausenden, Bd. 1, 2. Aufl., Sigmaringendorf 1987, S. 122.
2  Starobinski, Jean: Rousseau. Eine Welt von Widerständen, Frankfurt/M. 2003, S. 403.
3  Dt.: Maistre, Joseph de: Von der Souveränität. Ein Anti-Gesellschaftsvertrag, Berlin 2002.
4  Zit. n. Spaemann, Robert: Natürliche Existenz und politische Existenz, in: Rousseau – Mensch oder Bürger. Das Dilemma der Moderne, Stuttgart 2008, S. 19–46, hier: S. 19 f.
5  Rousseau, Jean-Jacques: Der Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, Wiesbaden 2008, S. 29.
6  Ebd., S. 50.
7  Ebd., S. 58. Immerhin räumt Rousseau ein, daß Todesstrafen ein Zeichen der Schwäche sind. „Man darf niemanden töten, auch nicht zur Abschreckung – es sei denn, der Betreffende läßt sich nicht ohne Gefahr erhalten.“ S. 59.
8  Ebd., S. 111.
9  Ebd., S. 113. Oder, S. 179.: „Leider aber ist die wahre Demokratie, wie schon gesagt, ein Ding der Unmöglichkeit.“
10  Daß der Mensch im état de la nature (der freilich auch für Rousseau nie wirklich existierte, sondern als eine Abstraktion aller sozialen Bindungen und Prozesse fungierte, als Schablone für den Menschen, wie er gewesen sein könnte, bevor die Vergesellschaftung einsetzte) gut sei, ist für Rousseau ein Faktum.
Erst durch die Reflexion des Menschen und das Verlassen des Naturzustandes beginnt die Verfallsgeschichte. Das Individuum ist dabei beides: Urheber des Unglücks wie Opfer der äußeren Umstände.
Weil aber das Leid ohne das bewußte Zutun des Menschen hervorgebracht wurde und der entscheidende Anstoß von außen, von einer sich konstituierenden Ordnung erfolgt, ist der Mensch an sich unschuldig. Vgl. Starobinski, Jean: Rousseaus Anklage der Gesellschaft, Konstanz 1977, S. 16 f.
11  Beide Rousseau-Zitate bei Iring Fetscher: Herrschaft und Emanzipation. Zur Philosophie des Bürgertums, München 1976, S. 142.
12  Sander, Hans-Dietrich: Rezension zu Rousseaus Schriften, in: Criticón, Nr. 55, Sept./Okt. 1979, S. 255.
13  Kuehnelt-Leddihn, Erik Ritter von: Freiheit oder Gleichheit? Die Schicksalsfrage des Abendlandes, Salzburg 1953, S. 74.
14  Vgl. ebd., S. 412.
15  Kuehnelt-Leddihn, E. R. v.: Demokratie – Eine Analyse, Graz 1996, S. 60. K.-L. irrte allerdings, als er annahm, daß Rousseaus Programm die Rückkehr des Menschen zur Natur sei; Rousseau stellte selbst apodiktisch fest: „Die menschliche Natur schreitet nie zurück!“ Rousseau leugnet ja den Fortschritt nicht, sondern bestreitet lediglich, daß die Menschen durch ihn zufriedener und sittlicher geworden sind.
16  Rousseau, Gesellschaftsvertrag, a. a. O., S. 221. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Rousseaus Stellung zur Religion kann aus naheliegenden Gründen nicht Gegenstand dieses Textes sein. Die Zivilreligion ist im Contrat social jedenfalls nur rudimentär entfaltet. Grundsätzlich glaubte er aber, anders als seine materialistischen und atheistischen Zeitgenossen, an einen Schöpfer, von dem alles ausging. Gleichzeitig sah er die „Priester-Kirche“ als Verfallserscheinung, als religion mixte. Das Prinzip der Repräsentation lehnte Rousseau nicht nur in der politischen Theorie der unmittelbaren Demokratie ab, sondern auch im Zugang zu Gott. Zu Rousseaus eigenwilligem Deismus, vgl. insb. das 4. Buch des Erziehungsromans Emile, das Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars.
17  Schmitt, Carl: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 9. Aufl., Berlin 2010, S. 14.
18  Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 9. Aufl., Berlin 2009, S. 51.
19  Schmitt, Carl: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, 3. Aufl., Berlin 1964, S. 123.
20  Waldstein, Thor von: Der Beutewert des Staates. Carl Schmitt und der Pluralismus, Graz 2008, S. 154 f.
21  Zur weiteren Beschäftigung Schmitts mit Rousseau: Dem wahren Johann Jakob Rousseau – zum 28. Juni 1962, in: Züricher Weltwoche, Nr. 26, S. 1.
22  Spaemann, Robert: Einleitung, in: Rousseau, a. a. O., S. 9–18, hier: S. 17.
23  Jung deutete in seiner Herrschaft der Minderwertigen die nur metaphysisch zu begreifende volonté générale (in eigenwilliger Interpretation!) als höchstes staatliches Ideal. Darauf aufbauend, sei Demokratie vollendeter Konservatismus. Diese organische Demokratie scheidet Jung strikt vom „mechanischen Mehrheitssystem“.
24  Vgl. Talmon, Jacob: Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln 1961. Talmon faßt Rousseaus Konzeption der volonté générale als Wegbereiterin der modernen Diktatur auf. Revolutionäre Heilserwartungen eines „politischen Messianismus“ führen, so Talmon, unweigerlich von der Verheißung einer erlösenden Zukunft zu einem totalitären Regime.

 
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