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Der Mythos Preußen

Von Achim Lang

Am 25. Februar 1947 erklärte der Alliierte Kontrollrat das Land Preußen für aufgelöst, da es seit jeher „Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland“ gewesen sei. Keine 250 Jahre umspannt damit die eigentliche Existenz Preußens, eine Epi­sode nur in der Weltgeschichte und auch in den über 1.100 Jahren deutscher Geschichte. Seine Bedeutung aber für diese deut­sche Geschichte war eine besondere, und zwar nicht nur in machtpolitischer, sondern auch in geistiger Hinsicht. Das rechtfer­tigt die Frage, was denn das Wesen des Preußischen ausmacht und welche Bedeutung es für das heutige Deutschland oder je­nes der Zukunft haben mag.

Der Vorwurf des Militarismus an Preußen liegt nahe, war doch die be­sondere Bedeutung des Militärischen stets ein Merkmal des Landes. Und doch klingt dieses Verdikt aus dem Mund der Sieger des Zweiten Weltkriegs etwas selt­sam, belegt doch die nüchterne Statistik, daß an allen zwischen 1701 und 1945 ge­führten Kriegen Frankreich mit 28 %, England mit 23 % und Rußland mit 21 %, aber Preußen (bzw. Deutschland) nur mit 8 % beteiligt gewesen sind.

Fortschrittlichkeit

Noch viel weniger freilich trifft der Vor­wurf der „Reaktion“ zu, wenn man dar­unter ein bewußtes Sich-Stellen gegen die Zeittendenz oder die allgemeine ge­sellschaftliche Entwicklung, ja den Ver­such eines Zurückdrehens des geschicht­lichen Rades versteht. Im Gegenteil kann Preußen für die meiste Zeit seiner Ge­schichte als geradezu besonders fort­schrittlich gelten. Schon die Staats- und Verwaltungsreformen unter dem Solda­tenkönig Friedrich Wilhelm I. und sei­nem Sohn Friedrich II. haben aus Preußen einen der modernsten und effi­zientesten Staaten seiner Zeit gemacht, auf dessen Vorbildwirkung sich sogar das Maria-Theresianische Reformwerk in weiten Teilen zurückführen läßt. Folg­te auch in der Spätzeit des „Alten Fritz“ und unter seinem Nachfolger eine Phase der Erstarrung, so konnte das von Napo­leon besiegte und gedemütigte Land rasch wieder Vorbildwirkung entfalten: Durch die weitreichenden Reformen, die unter dem Freiherrn vom Stein und dem Fürsten Hardenberg, den Militärs Scharnhorst und Gneisenau sowie dem Kulturpolitiker Wilhelm von Humboldt in Angriff genommen wurden. Noch un­sere heutigen Universitäten gehen im wesentlichen auf Humboldts Konzept zurück.
Mit der Schaffung eines deutschen Na­tionalstaates in den Einigungskriegen von 1866 und 1871 lag Preußen wieder voll im Trend der allgemeinen Entwick­lung des 19. Jahrhunderts: Fast zeitgleich wird die italienische Einheit verwirk­licht, 1878 werden Rumänien, Bulgarien, Montenegro und Serbien endgültig un­abhängig, 40 Jahre später folgt ihnen die Mehrzahl der kleinen Völker Ost-Mitteleuropas auf diesem Weg.
Preußen-Deutschland war auch der erste Staat der Welt, der – wie es dann europaweit nachgemacht wurde – zu Be­ginn der 1880er Jahre eine Kranken-, Un­falls- und Pensionsversicherung für die Arbeiterschaft einführte und damit die drückendste Not linderte.

Widerstand

Für „Reaktion“ stand das Preußentum in seiner Geschichte im wesentlichen nur einmal: am 20. Juli 1944. Mit Yorck und Moltke, Witzleben und Schulenburg, Schwerin und Stülpnagel, Dohna und Lehndorff waren fast alle klingenden Namen des Landes an der Verschwörung beteiligt, wie überhaupt mehr als die Hälfte der Männer des 20. Juli aus alt­preußischen Familien stammten.
Dies war kein Zufall: Der Nationalso­zialismus muß geistesgeschichtlich über­haupt als Kind des katholischen, süd­deutsch-österreichischen Raumes be­trachtet werden. Gerade traditionsbe­wußten Preußen galt Hitler als „Öster­reichs Rache für Königgrätz“, und dieser selbst hat während seiner zwölf Berliner Jahre nie die Zeit zu einem Besuch in Sanssouci gefunden (bezeichnenderwei­se wohl aber zu einem in Paris, eine reine Besichtigungstour, die in der Morgen­dämmerung durchgeführt wurde, um die Bevölkerung der besetzten Stadt nicht zu demütigen).

Wille zum Staat

Schon ein flüchtiger Blick in die Ge­schichte hat also vom Verdikt der Alliier­ten nicht viel übriggelassen. Wichtiger ist allerdings die Frage, was denn nun wirk­lich das Wesen Preußens, den Geist, das Ethos dieses Staates ausgemacht hat. Denn, und das allein ist schon eine faszi­nierende Feststellung, was „preußisch“ ist, gilt als definierbar, und zwar weit präzise als das bei anderen wichtigen deutschen Staaten, wie Sachsen, Bayern oder Hannover, der Fall ist. Ein bestimm­ter Kanon staatsbezogener Tugenden, wie Pflichtbewußtsein, Bescheidenheit, Respekt vor der Obrigkeit, Disziplin und Gehorsam etc., macht das „preußische Wesen“ aus, während andere deutsche Stämme nur mit Eigenschaften wie „schweigsam“ oder „leichtlebig“, „spar­sam“ oder „bodenständig und eigensin­nig“ charakterisierbar sind.
Preußen ist also das Urbild des Staates in der deutschen Geschichte. Preußen ist der Wille zum Staat.
Jahrhundertelang waren die branden- burgischen Kurfürsten aus dem Hause Hohenzollern, das wie die Habsburger aus dem schwäbischen Raume stammt, nicht mehr und nicht weniger als deut­sche Reichsfürsten und in keiner Hin­sicht herausragend. Während der Refor­mationszeit zählten sie, erst spät Mit­te/Ende der 1530er Jahre protestantisch geworden, zum gemäßigten Lager, oft vermittelnd, oft sogar an der Seite des Kaisers stehend. Kein Vergleich etwa mit den sächsischen Herzögen, denen man damals weit eher Zutrauen durfte, in ei­nem protestantischen Deutschland die Führungsrolle einzunehmen.
Das ändert sich erst nach dem Dreißigjährigen Krieg. Friedrich Wil­helm, dem Großen Kurfürsten, gelingt es, das darniederliegende Land durch Schaffung eines stehenden Heeres, Zen­tralisation der Verwaltung und eine er­folgreiche Schaukelpolitik zwischen den konkurrierenden Großmächten Frank­reich, Schweden und Polen zu einem re­gionalen Faktor zu machen. Hinzu trat das Schicksal in Gestalt einer bedeutsa­men Erbschaft: Ausgerechnet zur Zeit Luthers war ein Hohenzoller Hochmei­ster des Deutschen Ordens, und dieser trat schon 1522, lange vor den branden- burger Kurfürsten, zum neuen Glauben über, um das Ordensland in ein persönli­ches Herzogtum unter polnischer Ober­hoheit zu verwandeln. Doch diese Linie starb 1618 aus, und Brandenburg trat in die Erbschaft ein, konnte sie halten, ja sie 1657 sogar aus dem Verband der polni­schen Krone zur eigenen Souveränität lösen.
In nur kurzer Zeit haben die Hohen- zollern dann erstaunlich viele bedeuten­de Könige hervorgebracht, die mehr als die Herrscher anderer deutscher Länder ihr Amt als Dienst an Volk und Staat auf­faßten, in je individuell verschiedener Weise freilich. Auf den Großen Kurfür­sten folgte Friedrich III., der zugleich der erste preußische König werden sollte. Ganz und gar Barockmensch, findet sich an ihm noch nichts „typisch Preußi­sches“, und doch ist das abwertende Ur­teil etwa seines Enkels, des Großen Friedrich, zu hart gegriffen: sein Streben nach der Königskrone war durchaus nicht nur Resultat persönlicher Eitelkeit, sondern gespeist aus der Erkenntnis, daß dieser Schritt eben nur zum damaligen historischen Zeitpunkt – während des Spanischen Erbfolgekrieges – aussichts­reich und dann lange nicht mehr mög­lich sein würde. Ja, in Verhandlungen mit dem Kaiser war er sogar bereit, auf das Führen des Königstitels für 30 Jahre zu verzichten, womit die Standeser­höhung für ihn selbst wohl keine Bedeu­tung mehr gehabt hätte und nur noch seinen Nachkommen, der Dynastie zu­gute gekommen wäre.
Mit seinem Sohn, dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I., beginnt dann so recht die preußische Geschichte, er war auch der erste echte Preuße im heutigen Verständnis. Aus christlich-pietistischer Glaubensüberzeugung heraus verstand er sein Amt als Dienst an Gott, dem er Rechenschaft schuldig war, und emp­fand sich als verantwortlich für das Wohl und Weh seiner Bürger; der preußische Tugendkatalog geht im wesentlichen auf diesen Herrscher zurück.
Sein Sohn Friedrich II. sah sich als „er­ster Diener des Staates“, säkularisierte also die Dienstauffassung gemäß den aus der aufklärerischen Philosophie stammenden Ideen von Gesellschafts­vertrag und Naturrecht. Die Persönlich­keit dieses Königs, seine militärischen Siege und seine unerschütterliche Hal­tung in bitteren Niederlagen, genauso aber auch seine unermüdliche Arbeit an einer Verbesserung der Lebensbedin­gungen in seinem Land und sein Streben nach einer Verwaltung, die jedem, auch dem einfachsten Bürger, sein Recht zu­kommen läßt, haben dann den preußi­schen Tugenden jenen Glanz verliehen, der ihre deutschlandweite Ausstrah­lungskraft bis in unsere Zeit hinein be­gründet.
Friedrich Wilhelm IV., der „Romanti­ker auf dem Königsthron“, verstand sei­ne Aufgabe wiederum ganz aus einem tiefen Glauben und der mittelalterlichen Lehre des Gottesgnadentums heraus. Dies hat ihn, der sich stets als Vater sei­ner Untertanen verstand, auch zu einer zutiefst reichischen und habsburg­freundlichen Haltung geführt, noch 1848 erklärte er offen seine Bereitschaft, „mit Freuden... das silberne Waschbecken dem Kaiser bei seiner Krönung halten“ zu wollen.
Beeindruckend an der preußischen Geschichte ist der systematische Aufbau des Landes, der, beim Großen Kurfür­sten beginnend, über Jahrhunderte un­ternommen wurde und aus einem in je­der Hinsicht kargen und bevölkerungs­armen Gebiet einen blühenden und mächtigen Staat gemacht hat. Dieser Aufbauwille und die Tatsache, daß er über Generationen durchgehalten wur­de, sind das, was die Hohenzollern von anderen deutschen Reichsfürsten unter­schied und zugleich die Verbundenheit mit dem eigenen Land, während etwa
die Wittelsbacher mehrfach versuchten, Bayern gegen ein belgisches Königtum einfach einzutauschen oder den Wetti­nern zwar kurzzeitig der Sprung auf den polnischen Königsthron glückte, aber dabei die Kräfte des heimischen Sachsen nur erschöpft und nicht erweitert wur­den.

Kolonistenland

Preußen ist ein junges Land, sowohl die Mark Brandenburg als auch das zu „Ostpreußen“ gewordene Deutsch-Ordensland. Im 12. Jh. von Angehörigen verschiedener deutscher Stämme langsam besiedelt das eine, erst im 13. Jh. das andere, sind sowohl die „Märker“ als auch die Ostpreußen weit jünger als die westdeutschen Stämme, die im wesentlichen aus der Völkerwanderungszeit hervorgegangen oder wie die Friesen und (Nieder-)Sachsen gar noch älter sind.
Die Preußen sind auch, genau wie die Österreicher, Deutsche mit verhältnismäßig starken slawischen Wurzeln. Vor allem die adeligen Familiennamen wie Zitzewitz und Itzenplitz sowie die bis in unsere Zeit von märkischen Adelskreisen gepflegten Vornamen wie Dubslav legen davon Zeugnis ab, aber auch Flurnamen wie Potsdam, das von sorbisch postamb = „unter den Eichen“ kommt. Auf diese slawischen Blutsbeimischungen hat denn auch etwa Arthur Moeller van den Bruck einige preußische Eigenschaften wie Anspruchslosigkeit und Dienstbereitschaft zurückgeführt.
Die preußischen Tugenden sind letztlich die typischen Tugenden eines Kolonistenlandes: Arbeitsfleiß, Bescheidenheit, Strebsamkeit, Disziplin. Das Schwarz-Weiß der preußischen Farben geht auf den Deutschen Orden zurück, der im Auftrag von Papst und Kaiser, gerufen von polnischen Herzögen, das Land der heidnischen Pruzzen christianisierte und einer Einwanderung aus dem Reich öffnete. Aber auch schon die Mark Brandenburg war durch das Schwarz-Weiß der Zisterzienser geprägt worden, deren Bedeutung für den Aufbau der jungen Provinz kaum überschätzt werden kann. Askese, Gehorsam, persönliche Armut und eine strenge Dienstauffassung standen damit schon an der Wiege Preußens, aber auch die Strenge der Organisation, die Nüchternheit der Planungen und die klare Umsetzung der Aufgaben, wie sie im Mittelalter eben nur bei den Ordensgemeinschaften zu finden waren.
Kein Wunder, daß dann ein Imanuel Kant aus diesem Boden erwuchs und die Moralität der Handlungen, ja den reinen, kategorischen Pflichtbegriff als solchen in den Mittelpunkt seiner Philosophie stellte. Von dieser Ebene der rein zwischenmenschlichen Moralität in die Sphäre der Gesellschaft, der Sittlichkeit und des Staates gehoben, wurde die Kantsche Philosophie dann von Hegel, der, obzwar gebürtiger Schwabe, dennoch als der preußische Philosoph par excellence gelten kann: seine Überzeugung von der Wirklichkeit des Vernünftigen und der Vernünftigkeit des Wirklichen könnte preußischer nicht sein.

Gemeinschaftssinn

Preußen konnte nur Preußen werden, weil es den Herrschern gelang, die gesellschaftliche Elite – den Adel – auf das gemeinschaftliche Ideal des Dienstes am Staat einzuschwören. Und wie so oft in der Geschichte war es gerade die große Herausforderung, die die große Lösung bewirkte. Als die Hohenzollern 1417 mit Brandenburg belehnt wurden, war der einheimische Adel verwildert und an Unabhängigkeit gewöhnt. Er wußte genau, daß er Jahrhunderte länger als die neuen Markgrafen im Lande saß, und das ließ er diese auch reichlich spüren. Mehr als ein Jahrhundert sollte es dauern, bis das letzte wilde Raubrittergeschlecht gezähmt war und Frieden im Lande einkehrte. Zu einer ähnlichen Fronde kam es dann auch nach dem Erbfall Ostpreußens, doch war diese dank des harten Durchgreifens des Großen Kurfürsten nur von kurzer Dauer. In Ritterakademien und durch den Offiziersdienst wurden die Söhne dieses widerständigen Adels dann nach und nach zu treuen Dienern des Königs und überzeugten Trägern einer preußischen Gesinnung erzogen. Auch dies, die starke Verpflichtung des Adels auf den Staat, fehlt in anderen deutschen Territorien.
Preußen entfaltete nicht zuletzt dadurch eine starke Anziehungskraft über seine Grenzen hinaus, die viele bedeutende Männer in den Dienst seiner Könige treten ließ – so war von den Reformern, die nach der Niederlage gegen Napoleon bei Jena und Auerstedt (1806) darangingen, das neue Preußen zu bauen, nur einer – Humboldt – ein Preuße von Geburt, während Scharnhorst und Hardenberg Hannoveraner waren, Stein ein Franke und Gneisenau gar aus einer österreichischen Familie stammte.

Pietismus

Wesentlich zur Herausbildung des Preußentums war auch die Religion. Hier ist als erstaunlich anzumerken, daß das Herrscherhaus trotz seiner calvinischen Konfession keine puritanischstrengen Persönlichkeiten hervorgebracht hat. Stark von religiöser Überzeugung geprägt erschienen eigentlich nur zwei preußische Könige: Friedrich Wilhelm I. und Friedrich Wilhelm IV. War letzterer ein von der Wiederherstellung der christlichen Einheit träumender Romantiker (mit einem Katholiken als zeitweise engstem persönlichen Freund und Ratgeber: Josef Maria von Radowitz), war der Soldatenkönig ganz und gar pietistisch geprägt. Eben dieser Pietismus ist als eine der wesentlichen Quellen des Preußentums auszumachen, ist er doch – sich damit der katholischen Position stark nähernd – der Überzeugung, daß die Gnade Gottes doch das menschliche Zutun fordert: Gehorsam gegen die Obrigkeit, Selbstzucht, Fleiß, Ordnung, Sauberkeit und Pünktlichkeit würden zur „Heiligung des Alltags“ führen, womit erst die Gnade Gottes gewiß werde.

Toleranz

Preußentum bedeutete nicht einseitige Bindung, sondern muß als Synthese zwischen Bindung und Freiheit betrachtet werden. Toleranz ist somit ein wesentlich preußischer Begriff. Schon 1613 war der damalige brandenburgische Kurfürst Johann Sigismund vom lutherischen zum reformierten evangelischen Glauben konvertiert, ohne dabei von seinen Untertanen denselben Schritt des Glaubenswechsels zu verlangen. Damit verstieß er aber schon gegen den Augsburger Religionsfrieden von 1555, der den Untertanen vorschrieb, die gleiche Konfession wie ihre jeweilige Obrigkeit zu haben. Mehr noch: Johann Sigismund verzichtete auch nicht auf die Ausübung seiner landesherrlichen Kirchenhoheit bzw. seiner oberbischöflichen Rechte über die lutherische Kirche. Und dabei blieb es. Brandenburgs Herrscher waren calvinisch, leiteten aber gleichzeitig die lutherische Kirche ihres Landes, ohne dabei irgendeinen Druck auszuüben.
Daß der Große Kurfürst dann mehr als 20.000 aus Frankreich vertriebene Calvi- nisten, die Hugenotten, in seinem Land aufnahm, versteht sich aus dieser Konstellation heraus fast von selbst. Aber Friedrich Wilhelm öffnete Preußen auch für 50 aus Wien vertriebenen Judenfamilien und sogar für Sekten wie die verfolgten Waldenser und Mennoniten. (Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß dann 1731/32 noch fast 20.000 vertriebene Salzburger Protestanten dazukamen.) Friedrichs II. Satz, daß in seinem Lande jeder nach seiner Fasson glücklich werden solle, galt also auch schon unter seinen Vorgängern. Und das nicht ohne Grund: zur „Peuplierung“ der durch den 30jährigen Krieg und Pestepidemien entvölkerten Landstriche war eine Zuwanderung dringend nötig. Zur Zeit Friedrichs waren dann auch mehr als zehn Prozent der Bevölkerung Zuwanderer bzw. deren Nachkommen.
Friedrich spannte den Bogen dieser Toleranz noch weiter als seine Vorgänger. Auch „Türken und Heiden“ wären in seinem Lande willkommen, und er würde ihnen „gerne Moscheen bauen“, so ließ er bereits im Jahr seiner Thronbesteigung erklären. Und in bescheidenem Rahmen kam es sogar dazu: im Siebenjährigen Krieg fochten Bosniaken für Preußen, die in Potsdam Wohnstatt und Gebetsraum erhielten und sogar einen eigenen Heeres-Imam.
Friedrichs Toleranzidee wurzelte in zwei aus der Philosophie der Aufklärung stammenden Überzeugungen: erstens der Annahme, daß allen höherstehenden Religionen eine im wesentlichen gleich geartete Moral innewohne, andererseits – man vergleiche Lessings Ringparabel -, daß der Mensch prinzipiell nicht zur Erkenntnis letzter Wahrheiten gelangen kann. Von daher verachtete Friedrich auch die Geistlichkeit aller Konfessionen mit ihren dogmatischen Streitereien und gab sie, zumal an seiner Tafel in Sanssouci, dem gnadenlosen Spott preis. Vor Gott aber, so bezeugte selbst der verbitterte Voltaire, machte der Spott von Friedrichs Tischrunde stets halt. Und im Gegensatz zu Josef II., dem Friedrich in vielem Vorbild gewesen ist, tastete letzterer die Volksfrömmigkeit, ja selbst den Aberglauben seiner Zeit in keiner Weise an.
Auch die Katholiken – die es in Preußen immer gegeben hat – wurden nie beschränkt, selbst der in den meisten katholischen Ländern verbotene Jesuitenorden fand hier eine Zuflucht. Die in Schlesien mächtige katholische Kirche spürte den Herrscherwechsel dann auch nur durch Steuererhöhungen, und die während der Zeit der Habsburger teils arg bedrängte evangelische Kirche hoffte sogar in jenen Gebieten, wo sie über 90% der Bevölkerung stellte, vergeblich auf eine Rückstellung ihrer konfiszierten Gotteshäuser. Nur wo sich katholische Bischöfe als Agitatoren für Österreich entpuppten, ließ Friedrich Maßnahmen bis hin zur Arretierung ergreifen.
Und damit sind wir am wesentlichen Punkt für das Verständnis von Friedrichs Toleranzbegriff: Ihm waren die Religionen einerlei, sofern sie – mit heutigen Worten – gute Staatsbürger hervorbrachten. Den Staat selbst führte er in absolutistischer Weise, hier konnte es keine Kritik, kein Abseitsstehen geben, und auch die früheren Formen ständischer Mitbestimmung waren aufgehoben. Wer sich einem Befehl des Königs widersetzte, fiel in Ungnade, wie es Johann Friedrich von der Marwitz erging, der sich weigerte, das sächsische Schloß Hubertusburg zu brandschatzen. Damit entspricht Friedrichs Toleranzverständnis erstaunlich dem heutigen. Auch heute werden die wesentlichen Entscheidungen – etwa die Einführung des Euro – von einer kleinen Führungsschicht getroffen, ohne jede Möglichkeit der politischen Mitbestimmung durch die Bürger. An diesen Entscheidungen ist auch Kritik nur mehr eingeschränkt und unter Gefahr der öffentlichen Achtung möglich.

Effizienz

Strenge der Organisation, Nüchternheit, rationale Zielfixierung und effiziente Tüchtigkeit sind nicht unbedingt urdeut- sche Tugenden. Im Gegenteil ist, vergleicht man die deutsche Geschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit etwa mit der Entwicklung in England und Frankreich, geradezu ein Mangel an jenen Tugenden feststellbar. Es sind preußische Tugenden, vorgebildet vielleicht in der norddeutschen Kaufmannschaft der Hanse, und erst durch den wachsenden Einfluß Preußens sind sie deutsche Tugenden – zumal ab der Mitte des 19. Jahrhunderts – geworden.
Das, was das Deutschtum in den Augen der anderen Völker für viele Jahrhunderte ausmachte, ist hingegen gerade nicht preußisch: Das Schwärmerische und der Überschwang, die Romantik, das Träumerische und Künstlerisch- Weltfremde. Der Hang zum Mythos und zur Mystik. Dieses „Preußentum der Sachlichkeit“, diese „Sachlichkeit des Preußentums“ werden schon in der Architekturgeschichte manifest. Preußischer Stil ist fast immer, auch im Barock, verhältnismäßig nüchtern, klassisch, an Palladio orientiert. Der eigentliche preußische Stil ist der Klassizismus, allerdings nicht im Sinne einer sklavischen Nachahmerei, sondern im Sinne einer Klassizität, die sich in allen Stilepochen findet, aber in jener des Klassizismus am deutlichsten auszudrücken vermag.
Durch Preußen ist Deutschland selbst sachlicher, effizienter, nüchterner geworden. Und hier wirken die preußischen Tugenden bis heute fort, nun freilich individualistisch vereinzelt und nicht mehr gemeinschaftsbezogen: Die Zweckrationalität, der Arbeitseifer und die Strebsamkeit, eine nüchterne Lebensgestaltung sind auch für die bundesrepublikanische Gesellschaft von heute ein wesentlicher Maßstab. Diese preußischen Tugenden allerdings sind klassische „Sekundärtugenden“ und sagen ebensowenig wie das Fortwirken der friederizianischen Toleranzauffassung etwas über die innere Verfaßtheit eines Staatswesens aus.

Das Ende von Preußen

Die Alliierten haben Preußen 1947 aufgelöst. Doch damals war dieser Staat schon mehr als ein Jahrzehnt nicht mehr existent: gestorben ist er freilich noch viel früher. Sein staatsrechtliches Ende datiert auf das Jahr 1934 und wurde durch die Nationalsozialisten vollzogen, indem die einzelnen Länder dem Reiche direkt unterstellt wurden.
Das eigentliche Sterbejahr Preußens aber war jenes seines größten Stolzes: Das Jahr der Reichsgründung 1871, in dem am 18. Jänner der preußische König Wilhelm I. im Spiegelsaal von Versailles zum Deutschen Kaiser proklamiert wurde. Wilhelm hegte schon damals klarsichtig eben diese Befürchtung, und so sahen es auch die altpreußischen Eliten, wie Theodor Fontane es in seinem „Stechlin“ schildert. Auch Arthur Moeller van den Bruck verknüpft den Tod Preußens mit der Epoche der Reichsgründung: Denn damals erlosch der preußische Stil, die Klassizität, die die Epochen preußischer Baugeschichte durchzog, und Berlin verlor sein Gesicht.
Aus dem preußischen „mehr sein als scheinen“ wurde das auftrumpfende Gehabe des wilhelminischen Gründerzeitbürgers, das sich bis in das Benehmen des heutigen DM-Deutschen unangenehm fortpflanzt.
Und in der Politik machte die preußisch-nüchterne Lagebeurteilung rasch einer romantischen Großmannssucht ohne Blick für die tatsächlichen Zeitumstände und Bedingungen Platz und ermöglichte damit die Katastrophe des Ersten Weltkriegs.

Der preußische Mythos

In der Zeit des Zweiten Deutschen Reiches wurde der Kaisergedanke des Mittelalters von preußischen Historikern wie Sybel systematisch kleindeutsch umgedeutet (und damit seiner universalen Bedeutung beraubt), wurde Preußen von Historikern wie Treitschke ein „deutscher Beruf“ fast seit Anbeginn, zumindest aber seit dem 17. Jahrhundert zugeschrieben. Dies alles läßt sich einfach widerlegen. So war Friedrich der Große zwar sicher ein preußischer, seinem eigenen Selbstbewußtsein nach aber kaum ein deutscher König, fand sich in seiner Bibliothek doch kein einziges Buch in deutscher Sprache, hatte er für die ältere deutsche Literatur nur Spott übrig und ging er an den jungen Genies Goethe und Kant ebenso achtlos vorüber wie an Leibniz, der doch einstmals der erste Leiter der Preußischen Akademie der Wissenschaften gewesen war. Und während die meisten preußischen Reformer noch zur Zeit des Wiener Kongresses eine Wiederherstellung des habsburgischen Kaisertums begrüßt und sich dann auch Friedrich Wilhelm IV. noch 1848 gerne einem solchen untergeordnet hätte, war Wilhelm I. wiederum nur unter Druck bereit, die Deutsche Kaiserkrone überhaupt anzunehmen, da ihm jene des preußischen Königs ungleich wertvoller schien.
Und doch hatte Preußen eine deutsche Aufgabe: Preußen ist der Inbegriff deutscher Staatlichkeit. Preußen war schon Staat, als das Reich noch existierte. Als die Habsburger dann im 19. Jahrhundert aus eigener Schuld mehrere Gelegenheiten verpaßt hatten, das Heilige Römisch- Deutsche Reich in neuer Form Wiedererstehen zu lassen, wurde Deutschland Staat durch Preußen.
General de Gaulle merkte daher an, daß Deutschland ohne Preußen kein Staat sein könne, und dies wird gerade in unseren Tagen besonders deutlich, wenn Margret Thatcher konstatiert, daß die Deutschen in Europa ein System anstreben, in dem sich kein Volk mehr selbst regiert, weil sie Angst vor der eigenen Selbstbestimmung haben.
Heute sind Preußen und sein Tugendkanon nur mehr ein Mythos. Ein Mythos, der freilich eines Tages geschichtsmächtig werden kann.
Wie die Negerbevölkerung Nordamerikas noch vor wenigen Jahrzehnten ohne jedes kulturelle Selbstbewußtsein war und sich dieses, fast aus dem Nichts, in der „black consciousness-Bewegung“ selbst schuf, wie in Israel eine Sprache, die jahrhundertelang zu sakralen und philosophischen Zwecken gebraucht, aber von keiner Bevölkerung mehr wirklich gesprochen wurde, plötzlich zur allgemeinen Verkehrssprache eines modernen Staates wurde, wie in Irland ein fast ausgestorbenes Idiom durch den Schulunterricht wieder neu belebt wurde, so kann auch die deutsche Kultur solange wieder erstehen, solange es noch in biologischer Hinsicht Deutsche gibt. Eine solche „Deutsche-Bewußtseins-Bewegung“ kann dann freilich an mehreren Punkten anknüpfen: Am universalen, katholisch geprägten Reichsgedanken, der bis in die Romantik, ja bis ins 20. Jahrhundert hinein für viele Deutsche bestimmend war; an den heute in manchen Kreisen gepflegten naturreligiösgermanischen Vorstellungen, die das Deutschtum in Opposition zur römisch-christlichen, rational-aufklärerischen Gegenwart positioniert sehen möchten; oder auch an den verschiedenen konservativ-revolutionären Strömungen, die schon einmal, nach 1918, den Versuch unternommen haben, deutsches Kulturbewußtsein und deutsche Staatsgesinnung unter den Bedingungen des modernen Massenzeitalters neu zu begründen.
Doch Preußen und das, was Preußen ausgemacht hat, wird ebenfalls immer einer der wesentlichen Anknüpfungspunkte jeder deutschen Erweckungsbewegung sein. Und wahrscheinlich kann eine solche Erweckungsbewegung nur dann erfolgreich sein, wenn sie die richtige Kombination aller der genannten Elemente trifft.

 
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