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Mein Rußland

 

Von Mag. Wolfgang Dvorak-Stocker

Aus meinen Kindertagen in den 1970ern sind mir noch Burgenlandfahrten gut in Erinnerung, wo Freunde meiner Eltern, alte Weltkriegs-Offiziere, unweigerlich auf das „ideale Panzergelände“ zu sprechen kamen. Die Angst vorm „Russen“ saß tief. Im östlichen Österreich überhaupt, wo die Rote Armee nicht weniger vergewaltigt hatte als im Osten Deutschlands. Und mit Ronald Reagan, dem Helden meiner ersten politischen Jahre, wußte ich genau, wo „das Reich des Bösen“ zu finden war.

Doch das Bild war nie ganz einseitig. Da waren die ehemaligen Waffen-SS-Offiziere, elterliche Freunde auch sie, die die ukrainische Sowjetrepublik besucht hatten auf den Spuren der vergangenen Kämpfe, und nur mit Respekt und Zuneigung von den Begegnungen mit der Bevölkerung sprachen. Da waren die großen russischen Dichter und Komponisten, die zum selbstverständlichen Bildungskanon in unserer Familie gehörten und schon in meinen frühen Tagen das Riesenreich im Osten ins Licht eines geheimnisvollen Faszinosums getaucht hatten. Da war die sudetendeutsche Großtante, die mit ihren beiden Kleinkindern von den Tschechen in ein KZ gesperrt worden war und immer nur davon erzählen konnte, daß mein Onkel und meine Tante nur überlebt hätten, weil die Russen, die Rote Armee, gerade noch rechtzeitig das Lager übernommen und für ausreichende Verpflegung zumindest der Kinder gesorgt hätte.

Ab Mitte der 1980er Jahre traten dann eigene Reisen ins rote Reich hinzu. Während der dritten, schon nach dem Zusammenbruch der bolschewistischen Herrschaft, traf ich schließlich auf Wjatscheslaw Daschitschew, der bis kurz davor Leiter der Abteilung für außenpolitische Probleme an der russischen Akademie der Wissenschaften und der vielleicht maßgeblichste außenpolitische Berater Gorbatschows in Sachen der deutschen Wiedervereinigung gewesen war. Nicht nur seine Persönlichkeit beeindruckte mich stark, noch mehr die Tatsache, daß die politischen Sichtweisen dieses Mannes, der doch im Sowjetsystem Karriere gemacht hatte und einst als Offizier der Roten Armee vor Prag gestanden war, den Meinen so nahe standen.

Seither sind mehrere weitere Reisen in die Ukraine und ins neue Rußland hinzugekommen, nicht zuletzt weil wir seit einigen Jahren in Kiev eine landwirtschaftliche Zeitschrift herausbringen – und weil meine Frau Russin ist aus der Ostukraine ist. Über die historisch gut begründete Tendenz der Ukrainer insbesondere in den altösterreichischen Provinzen hin zum Westen, nach „Europa“, die von den Russen in den östlichen Landesteilen bis heute überhaupt nicht verstanden wird, soll hier aber nicht die Rede sein. Ich möchte vielmehr drei Beobachtungen hinsichtlich der Russen mitteilen, die mir erwähnenswert scheinen.

Die Russen und die Deutschen

Bei Begegnungen mit Franzosen oder Engländern wird man als Deutscher immer noch hin und wieder halblustigen Bemerkungen und Anspielungen im Hinblick auf die NS-Zeit ausgesetzt, sogar Schulklassen auf Austausch berichten von solchen Vorfällen, bei denen der richtige Tonfall der Antwort schwierig zu finden ist (freundliche Offensive schafft meiner Erfahrung nach am leichtesten Abhilfe). In Rußland wird einem solches nie widerfahren, es sei denn, man fällt am 8. Mai einer Horde Betrunkener in die Hände, aber zu diesem Anlaß meiden auch kultiviertere Russen zu vorgerückter Stunde die Straßen.

Das hat nicht nur etwas mit Höflichkeit gegenüber dem Gast zu tun. Es entspricht generell dem Umgang der Russen mit der Vergangenheit. Vielleicht, weil sie, wie wir, ihre Erfahrungen mit einem totalitären System gemacht haben und wissen, wie schwierig da der Umgang mit persönlicher Schuld wird. Vielleicht, weil sie als patriotische und heimatliebende Menschen voraussetzen, daß auch andere Völker ihr Land und ihre Vorfahren ehren. Man weiß in Rußland zwar weithin, daß sich die Rote Armee einiges beim Einmarsch in Deutschland zu Schulden hat kommen lassen, will aber Näheres eigentlich nicht wissen. Und man weiß aus unzähligen Propaganda- und Dokumentationsfilmen viel über (wahre und falsche) Verbrechen der Deutschen in der Sowjetunion, nimmt aber instinktiv an, daß Deutsche darüber ebenso wenig im Detail aufgeklärt werden möchten. Darüberhinaus ist das Bild von der Deutschen Wehrmacht nicht generell schlecht.

Beide Großväter meiner Frau waren hochdekorierte Offiziere während des Zweiten Weltkriegs, einer von ihnen gar Berufsoffizier und in den 1970er Jahren schließlich General der Roten Armee. Seine Frau hat den Krieg in Charkow verbracht, das von der Deutschen Wehrmacht eingenommen wurde und dessen Bevölkerung eine harte Hungersnot durchmachen mußte. Daß die örtlichen Partisanen versuchten, Gift in die Wasserleitungen der Millionenstadt einzuleiten, um damit Tausende Deutsche (und genauso Zehntausende Einheimische) zu töten, davon weiß man heute in Charkow nichts. Bezüglich des „heldenhaften Widerstands der Partisanen“ wirkt die Propaganda bis heute. Dennoch hat meine Frau von ihrer Großmutter immer nur gehört, daß die deutschen Soldaten die Zivilbevölkerung schützten, soweit es ging. Bei einem Spaziergang in den Wäldchen rund um die Stadt habe sie als Kind einmal einige menschliche Knochen gesehen, berichtet meine Frau. Ihre Großmutter sei stehen geblieben und habe gesagt: „Ich weiß zwar nicht, ob Du Russe oder Deutscher bist, aber ich werde für Dich beten!“.

Erinnerung, Aufklärung, Wissen sind wir den Millionen Opfern der Kriege und totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts sicher schuldig. Vielleicht, so lautet die Hoffung, können wir sogar für die Zukunft daraus lernen. Aber Vergessen kann auch heilsam sein. Es kann in gewisser Weise sogar Voraussetzung der Völkerversöhnung werden. Wenn ein Jude im Deutschen eben nicht gleich den KZ-Wächter, ein Deutscher im Russen nicht den Vergewaltiger der Roten Armee oder in Serben/Tschechen/Polen die Mörderbanden der Vertreibung sieht. Wie es viele jüdische Familien gibt, die über dieses Trauma nie hinweggekommen sind, gibt es auch viele deutsche, selbst wenn deren Leid und Trauma in den heutigen Medien keine vergleichbare Rolle spielt. Daß es einen Mittelweg geben muß zwischen Erinnern und Distanz-Gewinnen, habe ich in Rußland gelernt.

Die Russen und ihre Kultur

Ob in Moskau oder in der Provinz, bei wochentägigen Museumsbesuchen fällt dem Touristen die große Zahl von Müttern bzw Großmüttern auf, die mit ihrem Nachwuchs unterwegs sind. Auch an den Schulen wird die eigene Kultur noch intensiv vermittelt. Das betrifft nicht nur die weltberühmten Komponisten und Schriftsteller wie Tschaikowski, Rimsky-Korsakow und Rachmaninow, Tolstoi, Dostojewski, Puschkin, Gogol, Turgenjew und Tschechow. Auch über Maler wie Ilja Repin, Wassili Prerow, Iwan Schischkin, A.M. Wasnezow, Michail Nesterow oder Iwan Aiwasowski kann man sich mit russischen Studenten unterhalten, ebenso über Schriftsteller wie Nikolaj Leskow oder Michail Bulgakow. Wieviele österreichische Studenten können, wenn sie nicht gerade Germanistik oder Kunstgeschichte studieren, mit Namen wie Ferdinand von Saar oder Marie von Ebner-Eschenbach, Ferdinand Georg Waldmüller, Peter Fendi oder Jakob Alt etwas anfangen, wie viele Deutsche mit Conrad Ferdinand Meyer und Gustav Freytag, mit Adolph Menzel, Max Liebermann oder Caspar David Friedrich?

Unsere Welt ist klein geworden durch die modernen Kommunikations- und Reisemöglichkeiten. Diese Globalisierung muß nichts Schlechtes sein. Warum soll sich einer nicht für südamerikanische Musik oder arabische Literatur, für karibische Rezepte oder indische Kunst interessieren? Mein Leben ist sicher deutlich bereichert worden durch japanische Farbholzschnitte der Edo-Zeit, chinesische Schränke und Orienteppiche, durch Rezepte für Pilaw aus Vorderasien und für Curries aus dem Südosten dieses faszinierenden Kontinents, ganz zu schweigen von den Büchern so fantastischer Schriftsteller wie den Afrikanern Chinua Achebe und Aniceti Kitereza, der Inderin Arundhati Roy oder den Chinesen Li Rui und Shan Sa, dem Tschuktschen Juri Rytcheu, dem Mongolen Galsan Tschinag oder dem Kirgisen Tschingis Aitmatov.

Aber wenn wir als Volk, als eigenständige Kultur überleben wollen, dann muß für uns alle, ganz egal wohin uns unsere musikalischen, kulinarischen, literarischen, Kunst- oder sonstigen Interessen auch führen mögen, die eigene, autochthone, gewachsene Kultur und (!) Volkskultur dennoch der lebendige Mittelpunkt bleiben. Dafür müßten Elternhaus (soweit es kann), jedenfalls aber Schule und staatliche Medien sorgen, was bei uns kaum mehr der Fall ist. In der Folge verliert die eigene Kultur aber auch ihre Funktionen als Referenzrahmen bei der Wahrnehmung anderer Kulturen und als gemeinsame Kommunikationsbasis eines Volkes. Ohne Kenntnisse von Goethes Faust versteht etwa niemand die ebenso witzige wie treffende Formulierung, die heutigen politischen Talkshows betrieben „die Entkernung des Pudels durch Verpudelung des Kerns“. Was bliebe denn als das allen Gemeinsame übrig, wenn es die eigene Kultur nicht mehr ist? Die Blockbuster aus Hollywood und die täglichen Soaps, die fast alle sehen? Ein bißchen Hitparadenmusik und die angesagtesten Bestseller, die im nächsten Jahr schon wieder vergessen sind? Noch kann keiner ermessen, welche Auswirkungen ein weitgehendes Erlöschen der nationalen Kulturen auf die kulturelle Produktion als solche haben wird, von den seelischen Folgewirkungen ganz zu schweigen.

Ich sage nun nicht, daß Rußland sich dieser Tendenz auf Dauer entziehen kann, es zeigt aber bis jetzt zumindest echten Willen zur Bewahrung der eigenen Kultur. Davon können wir auf jeden Fall etwas lernen.

Die Russen und ihre Geschichte

So sehr sich der Kommunismus bemühte, das Bewußtsein der Menschen zu formen, so wenig ist ihm das im Endeffekt gelungen. Schon in den letzten Jahrzehnten der Sowjetherrschaft konnten kritische Sichtweisen in zumindest künstlerischer Form geäußert werden. Bulgakows „Meister und Margarita“ wurde 1973 in der Sowietunion gedruckt, seine noch viel schärfer antikommunistische Satire „Hundeherz“ wurde 1988 gar verfilmt.

Nach dem Ende der bolschewistischen Herrschaft ist mir kein Film bekannt, der Geschichtsinterpretation im kommunistischen Sinn betriebe. Im Gegenteil sind bereits zwei zeitgeschichtliche Filme mit exakt entgegengesetzter Stoßrichtung in die Kinos gekommen. In „Der Soldat des Zaren“ geht es um den (fiktionalen) Opfergang von neun russischen Offizieren, die versuchen, die kaiserliche Familie aus den Händen der Bolschewiki zu befreien und dabei ihr Leben verlieren. Diesem Film entspricht die Heiligsprechung des letzten Zaren als Märtyrer, die Überführung seiner Überreste und derer seiner Familie in die traditionelle Grablege der Romanows, in die Peter und Pauls Kathedrale nach St. Petersburg, und die Etablierung eines Wallfahrtsortes an der Stelle in Jekaterinburg, wo die ermordete Zarenfamilie verscharrt worden war.

Noch beeindruckender ist„Der Admiral“, ein Film, der es bezüglich Professionalität, Spannung und schauspielerischer Leistung mit jeder Hollywood-Produktion aufnehmen kann. Im Mittelpunkt steht Admiral Koltschak, russischer Kriegsheld im WK I und danach wichtigster Führer der „Weißen“, der antibolschewistischen Kräfte im Bürgerkrieg, durch Verrat der Briten und Franzosen letztlich den Roten in die Hände gefallen und von ihnen erschossen. Koltschak wird in diesem Film als reiner Held gezeichnet, seine kommunistischen Feinde weitgehend als wahre Bestien. Das mag aus westlicher Sicht allzu einseitig wirken, doch ging es dem Produzenten wohl darum, ein kräftiges Gegenbild zur bisherigen Geschichtsdarstellung zu schaffen. Mir ist jedenfalls aus den letzten Jahrzehnten kein einziger österreichischer Film bekannt, der auch nur annähernd von einem so patriotischen, die Welt der alten Monarchie ehrenden Geist erfüllt gewesen wäre. Aber wenigstens sind die beiden russischen Filme mittlerweile auf Deutsch erhältlich.

 
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