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Nachdenken über Goethe

Von Universitätsprofessor Dr. Fritz Heppner

Das Unbegreifliche und das Alltägliche


An einem Augusttag vor 251 Jahren erblickte Goethe das Licht der Welt. Er selbst schreibt darüber: „Am 28. August 1749, Mittags mit dem Glockenschlag zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich: Die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau und kulminierte für den Tag... Die guten Aspekte, welche mir die Astrologen in der Folgezeit sehr hoch anzurechnen wußten, mögen wohl Ursache an meiner Erhaltung gewesen sein, denn durch Ungeschicklichkeit der Hebamme kam ich für tot auf die Welt, und nur durch vielfache Bemühung brachte man es dahin, daß ich das Licht erblickte.“

Später liest es sich anders. 1777: „Ich wachte an meinem Geburtstag mit der schönen Sonne so heiter auf, daß ich alles, was vor mir lag, leichter ansah.“
1778: „Wundersames Gefühl vom Eintritt in das 30. Jahr“, sagt das Tagebuch.
1787: Goethe selbst hält sich in Italien auf, aber Schiller ist in Weimar und schreibt: „Wir fraßen herzhaft, und Goethes Gesundheit wurde von mir in Rheinwein getrunken.“
1814: „Meinen Geburtstag haben sie mehr als billig gefeiert. Äbtissin von Stein gab eine Abendgesellschaft bis zwölf Uhr.“ Danach wurde wie am Neujahrstag gefeiert.
1824: Abends im Schauspiel „Der Freischütz“. „Überraschender Bezug auf meinen Geburtstag.“ – „Alle stießen mit Bechern auf das Wohl Goethes an und schmückten seine auf der Bühne stehende Büste mit einem Lorbeerkranze.“ (Eckermann)
Die Brockhaus-Encyclopädie von 1822 widmete ihm in Band 4 zehn Seiten und macht so die starke Wirkung deutlich, die Goethe bereits damals, durch 7 Jahrzehnte, auf Dichtung und Wissenschaft ausgeübt hatte.
Vor allem war es seine Dichtung, die die Zeitgenossen in und außerhalb Deutschlands bewunderten. Auch uns Heutigen ist sie so gegenwärtig, daß es keiner Aufzählung bedarf. Wir wissen, daß seine Lyrik das Volkslied befruchtete („Heidenröslein“); seine Balladen („Erlkönig“) kennt auch heute noch (fast) jeder. Mit dem „Werther“ verhalf er einem tragischen Weltgefühl, das damals in Mode war, noch mitreißender zur Faszination als ein Byron oder Puschkin. Seine Dramen, angefangen vom „Götz“, seinem ersten großen Wurf, über „Tasso“, „Clavigo“, „Egmont“ u.s.w. bis zum „Faust“, fehlen auf keinem Theaterspielplan.
„Faust II“ stellt etwas Besonderes dar, ein an Ideen und Anspielungen eher allegorisches als szenisches Gemälde, das der Autor selbst ein „seltsames Gebäu“ nennt und über dessen hinausgezögerte Fertigstellung er am 20. Juli 1831 schreibt: „Ich bestimmte daher fest bei mir, daß es noch vor meinem Geburtstag vollendet sein müsse.“
Das glückte gerade noch.

Goethe selbst nahm die Kunst nicht sonderlich ernst. Immer war er Amateur, Gelegenheitsdichter, hingegeben an Einfälle, Stimmungen, Einflüsse, Eindrücke, die ihn anflogen, sich verdichteten und zu Papier gebracht werden wollten. Von seinen frühen Dichtungen sagt er, er habe sie „als Nachtwandler“ geschrieben, auch fällt bei ihm der Ausdruck „bewußtloses Schaffen.“ Bei allem Bemühen um das eine oder andere Versepos („Hermann und Dorothea“, „Reineke Fuchs“) läßt er sich nie zu etwas drängen und nimmt sich nie etwas ernstlich vor. Ein Schaffenstrieb von einer Besessenheit wie etwa bei Balzac ist ihm fremd. Er weiß, ist etwas für ihn notwendig, dann wird es schon vor ihn hintreten. Und so entsteht bei ihm alles zwar nach innerster Notwendigkeit, aber doch mehr durch Zufall. Heute stößt er auf den Zwischenkiefer und schreibt morgen seine Lebensgeschichte oder Teile des Faust, vielleicht auch einen ministeriellen Bericht über Bergwerke, Straßenbau oder Unterrichtswesen. Eine Denkschrift über die Aushebung von Rekruten. Eckermann meint, daß Goethe mit seiner Dichtung einem Bedürfnis, einer Lücke seiner Zeit entgegengekommen sei und sagt wörtlich: „Nur eine einzige Kunst hat er meisterhaft geübt, Deutsch zu schreiben.“
Wir wissen aber auch um sein hohes Talent als bildender Künstler, besonders als Zeichner, und um das ausgeprägte kritische Urteil, aus dem heraus er sich z. B. mit den Illustrationen, die Delacroix zum „Faust“ geschaffen hatte, nicht abfinden konnte. Wenn er sagt „Es gibt auch Afterkünstler, Dilettanten und Spekulanten, jene treiben die Kunst um des Vergnügens, diese um des Nutzens willen“, so wirkt das wie eine prophetische Vorschau auf das, was die „Postmoderne“ uns Heutigen oft zumutet.

Wissenschaft

Goethe muß auch zu den großen Naturforschern des 18. Jahrhunderts gerechnet werden. Was seiner Betrachtung und aller Erforschung der Natur zugrunde lag, war der Entwicklungsgedanke, nämlich die Vorstellung, daß alle Erscheinungsformen der belebten und der unbelebten Natur auf eine Urform zurückzuführen seien, aus der nach Art einer Metamorphose alle späteren Typen abzuleiten wären. Also z.B. ein „Ur-Gestein“, welches sich in geologischen Schüben bis zu den heutigen Formen ausdifferenziert habe. Auch in der Philosophie des Aristoteles ist die Natur stufenförmig gegliedert, und Goethe blieb es vorbehalten, diese Schau mit Leben zu erfüllen. 1790 erschien seine „Metamorphose der Pflanzen“, deren Grundgedanke darin besteht, daß alle Pflanzenbestandteile als umgewandelte Blätter anzusehen seien. Allen Bildungen liegt als Bauplan, Schema oder Idee eine „Urpflanze“, als Abstraktion, zugrunde. – Sorgfältige osteologische Beobachtungen brachten ihn zur Entdeckung des Zwischenkiefers bei Ziegen und dann beim Menschen und zu der Anschauung, daß der Schädel des Menschen aus metamorphosierten Wirbeln bestehe. Diese Vorstellungen scheinen in manchem die Deszendenzlehre eines Darwin oder Haeckel vorwegzunehmen, also ins 19. Jahrhundert zu weisen, was aber nur teilweise zutrifft, denn bei jenen stellt sich immer die Frage nach dem Zweck, während Goethe nur das WIE, aber nicht das WARUM interessierte. In der Polemik um seine sinnesphysiologisch fundierte Farbenlehre gegen jene Newtons war er kompromißlos und vertrug, wie auch sonst oft, keinen Widerspruch. Der erhob sich aber, denn die Zeitgenossen konnten sich nicht vorstellen, daß im Zuge der Evolution auch der Farbensinn der Tiere bis herauf zum Menschen sich habe stufenweise entwickeln müssen, ausgehend von der „Ur-Farbe“ Blaugelb.
Bei der Prüfung von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften ist man erstaunt, die Darstellung einer lebendigen Natur ohne Formeln, ohne Gesetze und eben ohne eine Spur von Kausalem zu finden. Er verzichtet auf das messende Experiment und hat auch an Mathematik keinen Bedarf.
Goethe, so könnte man sagen, war vollgesogen mit Universum. Für die ewigen Kraftströme, die die Welt in Bewegung halten, die durch jeden von uns fließen, hatte sein Körper ein besonderes Organ gleich einer Antenne. „Die Fühlfäden unserer Seele können in besonderen Zuständen über ihre körperlichen Grenzen hinausreichen und gestatten ihr ein Vorgefühl, ja auch einen wirklichen Blick in die Zukunft“, äußerte er sich zu Eckermann. Am 10. November 1823 beobachtete er den nördlichen Nachthimmel mit Unbehagen. – „Höre, wir sind in einem bedeutenden Moment“, sagte er zum Kammerdiener. „Entweder wir haben in diesem Augenblick ein Erdbeben oder wir bekommen eins.“ – Nach wenigen Wochen kam die Nachricht, daß in „derselbigen Nacht“ ein Teil von Messina durch ein Erdbeben zerstört worden sei.
Sein Forschen beruhte – nicht anders als seine Dichtung – auf Intuition, oft auf momentaner Eingebung, auf Inspiration, die ihn überkam, wenn er z.B. vom Pferd steigen mußte, um am Wegrand Glimmerschiefer oder eine Blattkotyledone in Augenschein zu nehmen. Man hat den Eindruck, als sei Goethe auch den Erscheinungen der Natur unbeabsichtigt und am ehesten mit der Empfindsamkeit des Künstlers entgegengetreten und habe Zusammengehöriges zunächst mehr erfühlt als erfaßt. Er war eben ein Dichter und kein Rechner. Damit schließen sich in seinem Wesen schöpferische Phantasie und organologische Forschung zusammen, und wir denken an die Vorsokratiker im alten Griechenland, welche gelehrt haben, die Poetik sei die Mutter der Naturwissenschaft.

Wesen und Charakter

Lange, bevor in den Medien unserer Tage die Piranhas der Sex-Reportage ihre prominenten Opfer anfallen sollten, hat sich die Welt ihr Bild von Goethes Liebesleben zurechtgebaut und aus Gerüchten, Legenden und Bekenntnissen das Porträt eines Weiberhelden stilisiert. Friedell meint dazu: Er suchte in allem, auch in der Frau, das Urphänomen und darum konnte ihm keine auf die Dauer genügen. Dieser Hypothese beizupflichten fällt schwer, weil sie unterläßt, das Geistige und das Endocrinium auseinanderzuhalten.
Lassen Sie uns sehen, was wirklich war.
Den noch nicht Fünfzehnjährigen überfiel die erste Liebe mit solchem Ungestüm, daß er erkrankte. Er brach zusammen, als sich herausstellte, daß seine um ein paar Jahre ältere Angebetete, namens Gretchen (!), in ihm nichts weiter als ein Kind sah. „Unter Tränen und Schluchzen kam es zuletzt dahin, daß ich kaum mehr schlingen konnte, der Genuß von Trank und Speise mir schmerzlich ward“, erzählt er. Sein Herz hatte er verloren, als er sie am Spinnrad (!) und bei einer Putzmacherin arbeiten sah. Beim Kirchgang hatte er sich an sie herangemacht, aber nicht anzusprechen gewagt.
Sechzig Jahre später war es eine andere, eine letzte Enttäuschung, die Goethes Welterlebnis als Mann beendete. Um die achtzehnjährige Ulrike von Levetzow zu gewinnen, hatte er sogar um ihre Hand angehalten, mit seinem Freund und Gönner, dem Großherzog, als Brautwerber. Doch der Weltruhm, Glanz und Charme des alten Herrn reichten nicht aus, Ulrike zu gewinnen. Was meint der Zeitgenosse und Freund Arthur Schopenhauer? „Kein Mensch kann mehr an Liebe, Jugend und Schönheit begehren, als er selber Liebe, Jugend und Schönheit zu bieten hat.“
Zwischen diesen beiden Brückenkopf-Erlebnissen spannt sich ein Bogen von Begegnungen mit Frauen, deren jede seine Dichtung beflügeln sollte. Wir kennen die Episode von Sesenheim („Sah ein Knab ein Röslein stehn“), wir kennen den Verzicht auf Charlotte Buff, die Verlobte seines Freundes Kestner („Die Leiden des jungen Werthers“) und das kurzlebige Verlöbnis mit Lilli Schönemann („Die Lillilieder“). Der berühmte Briefwechsel mit Charlotte von Stein zeugt von einer geistig-sinnlichen Liebe von außergewöhnlicher Stärke, „wo sich die Welt den Kopf zerbricht, hat er nun oder hat er nicht?“ Eine Liebschaft verbindet ihn in Italien mit der römischen Witwe Faustina Antonini, aber all diese in olympischen Höhen verklärte und poetisch ausgelebten Erfahrungen einer „schönen Seele“ verblassen vor den Ekstasen, durch welche die 23jährige Putzmacherin Christiane Vulpius dem 38jährigen die Welt Cupidos so sinnbetörend erschließt, daß sich Goethe über allen Anstand und alle Rücksicht auf seine gesellschaftliche Stellung hinwegsetzt und ein Konkubinat mit der jungen Frau eingeht, das in Weimar zum grenzenlosen Skandal und erst nach 18 Jahren durch Heirat beendet wird. Auf Veranlassung der Herzogin-Mutter Anna Amalia muß Goethe in die Vorstadt übersiedeln, und es kostet ihn Diplomatie und Entschlossenheit, nach drei Jahren an den Frauenplan zurückkehren zu dürfen.
Christiane erweist sich als eine patente, mutige Frau, die ihm zwei Haushalte führt, sein Haus gegen Marodeure verteidigt und ihm 1789 einen Sohn schenkt. Dann gebiert sie ihm noch weitere vier Kinder, die jedoch alle nach wenigen Tagen sterben. (Die Ursache war damals rätselhaft und ist heute klar: Rhesus-Unverträglichkeit). Christiane verstarb am 16. Juni 1816 an Nierenversagen. Goethe, dem alles Wunde und Kranke zeitlebens ein Greuel war, hielt sich von ihrem tagelangen Todeskampf fern, hütete selbst das Bett und ging auch nicht zu ihrem Begräbnis. Bettruhe wählte er auch sonst, wenn ihm lästige Besucher ins Haus standen.
Am Rhein erlebte Goethe mit der Frau des Bankiers Willemer, Marianne, in poetischem Wechselgesang einen zweiten Liebesfrühling (Suleika in „Westöstlicher Diwan“).
In seiner Eigenschaft als Geheimer Rat gehörte Goethe der Geheimen Dreierkommission an, in deren Händen das Urteil über die blutjunge Kindesmörderin Anna Katharina Höhn lag. In den Gerichtsakt trägt Goethe ein, „daß auch nach meiner Meinung räthlich sein mögte, die Todesstrafe beyzubehalten“. Und am 28. November 1783 schlägt das Schwert zu.
Bis zur Fertigstellung des „Faust I“ sollten noch 23 Jahre vergehen, in denen der Verfasser wohl anderen Sinnes geworden sein mußte, weil er dem Gretchen bei gleichem Delikt das gleiche Schicksal erspart.
Jenes Gretchen, das am Ursprung von Goethes Lebensreise durch die Welt des Eros stand, begegnet uns in allen Fassungen des „Faust“, auch am Ende des 2. Teils, wo es die Seele des Helden rettet. Und wenn dort auch der Gesang der „Seligen Knaben“ ertönt, die zwar geboren wurden, aber das Leben nicht kennengelernt haben, glaubt man, Christianens Neugeborene zu vernehmen.

Der Alltag

Ob sich das Augenmerk der Nachwelt auch auf den Alltag eines Genies richten soll, erscheint fraglich. Gleichwohl, auch der Geistesheros ist einer von uns, und sollte sich zeigen, daß auch ihm nichts Menschliches fremd ist, schöpfen wir Trost und Ermunterung, wie z.B. bei Goethe, wenn er bekennt: „Man darf nur alt werden, um milder zu sein; ich sehe keinen Fehler begehen, den ich nicht auch begangen hätte.“
Die Teilnahme an der Campagne in Frankreich, wo es gegen die Revolutionstruppen geht: Auf eigene Faust setzt er sich feindlichem Infanteriefeuer aus, um das Pfeifen der Kugeln zu vernehmen und auch die eigene Angst zu kontrollieren. Er stellt also seinen Mut auf die Probe, den er freilich auch in Friedenszeiten beweist, wo er im Juni 1780 beim Feuerlöschen in Groß-Brembach hilft. „Das halbe Dorf brannte ganz herunter mit dem Wind... Versengten mir die Augenlider und fing das Wasser mir in den Stiefeln an zu sieden.“
In Jena litt die ihm unterstellte großherzogliche Bibliothek unter argem Raummangel. Sie grenzte an einen Konferenzsaal der Medizinischen Fakultät. Da sich mit dieser kein Arrangement treffen ließ, schlug Goethe, zusammen mit einem Maurer, in einer Nacht- und Nebelaktion ein Loch von Türgröße durch die trennende Zwischenwand und verfrachtete Bücher und Regale hinüber, so daß die Mediziner zu Wochenbeginn „ganz verblüfft“ gewesen seien. Den Großherzog hat dieser Streich amüsiert und so hielt er auch nachher zu Goethe, als dieser einen Teil der alten Stadtmauer, der Proteste von Schützern nicht achtend, niederreißen ließ.
Von Mozart ist er begeistert und von Weber hält er wenig. Er meint, „Faust“ hätte nur von Mozart vertont werden können, allenfalls sei noch an Meyerbeer zu denken. Im Juli 1812 trifft er in Teplitz mit Beethoven zusammen und schwärmt von dessen Klavierspiel: „Zusammengefaßter, energischer und inniger habe ich noch keinen Künstler gesehen. – Ich begreife sehr gut, wie er gegen die Welt wunderlich stehen muß...“ – „Das Dämonische ist in der Musik in höchstem Grade, denn sie steht so hoch, daß kein Verstand ihr beikommen kann, und es geht von ihr eine Wirkung aus, die alles beherrscht und von der niemand imstande ist, sich Rechenschaft zu geben“, sagt er zu Eckermann.
Da er zudem als Theaterdirektor über Opernaufführungen zu entscheiden hatte, wird er wohl nicht so unmusikalisch gewesen sein, wie man ihm gerne nachsagt.
Zuhause war ihm der Lärm einer benachbarten Kegelbahn zuwider, aber das Schießen mit einem Baschkirenbogen auf den eigenen Fensterbalken als Ziel machte ihm viel Spaß.
Einerseits schimpft er über unbequeme Sitzmöbel (Empirestil?), andernteils mißfallen ihm auch die damals aufkommenden „gotischen“ Möbel als unecht, als nachempfunden. Auch mit Brillen hat er Ärger, nicht nur mit den eigenen, sondern auch bei Besuchern: „Denn was habe ich von einem Menschen, dem ich nicht ins Auge sehen kann und dessen Seelenspiegel durch ein paar Gläser, die mich blenden, verschleiert ist!“
Ausflüge in Grüne liebt er sehr, und da muß immer ein „gutes Frühstück“ dabei sein, meist ein Korb mit frischen Semmeln, Rebhühnern, sauren Gurken und trefflichem Rheinwein. Als Gourmet wurde er von Frau von Stein gerügt, weil er schon in seinem fünften Jahrzehnt zu Körperfülle neigte. Vielleicht war es deshalb, daß später das Abendessen gestrichen wurde?
Gemütsbewegungen pflegt er kaum zu zeigen, und so reagiert er nicht merkbar, als er vom Tod erfährt, der seinen 40-jährigen Sohn in Italien ereilt hatte. Andernteils liest er einen Brief, den ihm Alexander v. Humboldt zum Tode des Großherzogs Karl August schreibt, mit Tränen in den Augen. – Humor war Goethes Stärke nicht, aber für Witz hatte er einen ausgeprägten Sinn, wie sich in der Zeit seiner Weimarer Theaterführung erwies und natürlich auch aufblitzt in den Sarkasmen des Mephisto.
In sein Tagebuch vom 9. August 1807, Karlsbad, notiert er: „Anekdote vom Juden, der mit offener Beinkleidung vorübergeht und, reprochiert, antwortet: Was geht’s den Herren an? Ich schöpfe Luft!“

Die Politik

Sein Schicksal brachte mit sich, daß er einen säkularen Umbruch des Gesellschaftsgefüges erleben mußte, der zugleich einen Aufbruch zu neuen Sinngebungen, Lebensinhalten, auch Stilepochen bedeuten sollte. Die Guillotine machte der Welt des Mittelalters und dem Gottesgnadentum des Monarchen ein Ende, zusammen mit allen nachgeordneten Ehrbegriffen. Von diesen Erdstößen sieht der alte Goethe sein altes Europa in den Grundfesten erschüttert.
Als Kind hatte Goethe in Frankfurt die Inthronisation von Joseph II. gesehen. Als Gefolgsmann seines Herzogs beteiligte er sich an der (erfolglosen) Campagne in Frankreich, in welcher alliierte Truppen sich der von jakobinischem Geist getriebenen Levée en masse entgegenstellten. – Als Freund und Amtsträger des Herzogs war er einerseits der Dienstpragmatik unterworfen, doch haben wir andererseits Beispiele von herrischer, fast brutaler Durchsetzung eigener Ziele und auch einige Rücksichtslosigkeit auf gesellschaftlichen Comment kennengelernt. Es kann somit nicht überraschen, daß er Napoleon und dessen Stil, zu regieren und Europa neu zu ordnen, bewunderte. Bei einer Begegnung der beiden (1808) ergab sich gegenseitige Anerkennung. – Nach dem Debakel in Rußland reist der Kaiser fluchtartig zurück nach Frankreich. Seine mehr als prekäre Lage hindert ihn aber nicht, sich nach Goethe zu erkundigen, als er in der Nacht vom 14. auf den 15. Dezember 1812 durch Weimar kommt, auf einem Schlitten, gehüllt in Pelze und eskortiert von zwei sächsischen Kürassieren.
In der Gemeinsamkeit des Kampfes gegen Napoleon erhob sich in der durch zahllose innerdeutsche Grenzen aufgesplitterten Nation erstmals der Ruf nach einem gemeinsamen deutschen Reich. Goethe hatte dazu wenig innere Beziehung und meinte: „Ihm stünde die Kampfeslyrik Theodor Körners schlecht zu Gesicht.“ „Überhaupt“, äußerte er sich am 14. März 1830, „ist es mit dem Nationalhaß ein eigenes Ding. Auf den untersten Stufen der Kultur werden Sie ihn immer am stärksten und heftigsten finden. Es gibt aber eine Stufe, wo er ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den Nationen steht und man ein Glück oder Wehe seines Nachbarvolkes empfindet, als wäre es dem eigenen begegnet. Diese Kulturstufe war meiner Natur gemäß, und ich hatte mich lange darin befestigt, ehe ich mein sechzigstes Jahr erreicht hatte.“ –
Der Wirbelwind, der im Gefolge der Französischen Revolution über Mitteleuropa hereinbrach, zerzauste auch das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach und auferlegte ihm arge Prüfungen durch Schlachten, die z. T. auf eigenem Territorium (Jena) oder in der Nachbarschaft (Leipzig) geschlagen wurden, durch Truppenbewegungen, Requisitioren, Einquartierungen und Plünderungen. Erst der Wiener Kongreß 1815 brachte (vorübergehend) Windstille sowie auch die Erhebung des Landes zum Großherzogtum. Karl August erwarb die Anrede „Königliche Hoheit“ und damit einiges mehr an Glanz im Kreis der Souveräne. Von diesem Glanz strahlte auch ein wenig auf den Geheimen Rath Goethe, der Ehrungen und Ansehen zu keiner Zeit abgeneigt war.
Wirtschaftspolitisch machte sich Goethe Gedanken über den Bau des Suez- und des Panamakanals und auch über deren Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Die Fertigstellung des ersteren sah er voraus innerhalb einer genau eintreffenden Frist. Und an diejenigen von uns Heutigen, welche die „Gnade der späten Geburt“ erfahren haben, könnte die Feststellung gerichtet sein: „Über Geschichte kann niemand urteilen, als wer an sich selbst Geschichte erlebt hat.“
Über den Einfluß der Presse äußerte er sich 1814 folgendermaßen: „Die täglich an fünfzig verschiedenen Orten erscheinenden kritischen Blätter und der dadurch im Publikum wirkende Klatsch lassen nichts Gesundes aufkommen... Es kommt zwar durch das schlechte, größtenteils negativ ästhetisierende und kritisierende Zeitungswesen eine Art Halbkultur in die Massen, allein dem hervorbringenden Talent ist es ein böser Nebel, ein fallendes Gift, das den Baum seiner Schöpfungskraft zerstört…“
Für das rätselhafte und unerklärliche Walten, das auch in unserer Zeit Kultur und Politik umgestaltet und, wie manchem scheinen mag, außer Rand und Band bringt, findet Goethe am Ende von Faust II folgendes Bild:
„Und wie des Wilden Jägers braust von oben
Des Zeitengeists gewaltig-freches Toben.“
In seinem allerletzten Brief vom 17. März 1832 (gerichtet an W. v. Humboldt) schreibt er: „Verwirrende Lehre zu verwirrendem Handeln waltet über der Welt.“

Das Jenseits

Goethe war nicht religiös, aber gläubig. Als Regenten der Welt wußte er eine Oberinstanz, die er „Gott“ nannte, auch „Gottheit“, zuweilen „das Dämonische“, und war sich eines Weiterlebens nach dem Tode sicher. Das Begreifen der Natur brachte ihn zu der unerschütterlichen Auffassung, daß ihrem Walten ein göttlicher Plan zugrunde liegen müsse, der Auftrag eines Schöpfers, auf dessen Anweisung auch das Genie handle.
„Gott hat sich nach den bekannten imaginären sechs Schöpfungstagen keineswegs zur Ruhe begeben, vielmehr ist er noch fortwährend wirksam wie am ersten. Er hat Schöpfungen hervorgebracht, die den Namen Mozart, Raffael oder Shakespeare tragen.“
Goethe verehrt den Gott, der in dem Reichtum seiner Schöpfung so groß war, nach tausendfältigen Pflanzen noch eine zu machen, worin alle übrigen enthalten, und nach tausendfältigen Tieren ein Wesen, das sie alle enthält: den Menschen. –
Fest glaubt er an ein Fortleben nach dem Tode, indem er meint: „Unser Geist ist ein Wesen ganz unzerstörbarer Natur; er ist fortwirkend von Ewigkeit zu Ewigkeit, ähnlich der Sonne, die nur scheinbar untergeht und unaufhörlich weiterleuchtet.“
Ferner: „Die Überzeugung unserer Fortdauer entspringt mir aus dem Begriff der Tätigkeit; denn, wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins zuzuweisen.“ Was an dieser Begründung wunderlich anmutet, ist der Einsatz der Logik, die uns zwar hilft, diesseitige Probleme zu lösen, die aber beim Transzendieren doch auf Hindernisse stößt, wie die Fliege gegen das Fenster.
„Jede Produktivität höchster Art“, meint er, „jede Erfindung, jeder große Gedanke, der Früchte bringt und Folge hat, steht in niemandes Gewalt und ist über alle irdische Macht erhaben. Dergleichen hat der Mensch als unverhoffte Geschenke von oben, als reine Kinder Gottes zu betrachten, die er mit freudigem Dank zu empfangen und zu verehren hat. Es ist dem Dämonischen verwandt, das übermächtig mit ihm tut, wie es beliebt, und dem er sich bewußtlos hingibt, während er glaubt, er handle aus eigenem Antriebe. In solchen Fällen ist der Mensch oftmals als ein Werkzeug einer höheren Weltregierung zu betrachten, als ein würdig befundenes Gefäß zur Aufnahme eines göttlichen Einflusses.“ Beglückt dürfen wir Goethe selbst als solches betrachten, wie auch als eines Instrumentes (wie er selbst sagt), dessen sich die Gottheit bedient, um an uns Menschen eine „Durchsage“ zu richten.

Und das Ende

Am 13. März 1832 fällt auf ihn der erste Schatten des Todes. Am 17. März bessert sich sein Zustand noch einmal und er schreibt jenen Brief an Humboldt, aus welchem wir ein Zitat brachten. Am 20. März schwerer Rückfall. Am 22. März, als ihm die Sprache versagte, letzte Worte, dann die letzten Handbewegungen. Da habe er Buchstaben in die Luft geschrieben, berichtet sein Arzt.
Aber die konnte keiner mehr lesen.
Und indem Goethe die sterbliche Hülle abstreifte, erreichte er die oberste Stufe seiner Metamorphose und ging ein in das Licht...

 
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