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Neurotische Nationen?

Von Hrvoje Lorkovic

Ausdrücke wie „Neurose“ oder „neurotisch“ wurden seit dem Zweiten Weltkrieg oft benutzt, um das deutsche politische Verhalten zu charakterisieren. Zunächst waren es die politisch motivierten Psychoanalytiker, die, im Rahmen der Bemühungen, eine Neuauflage des Nationalsozialismus zu verhindern, vom neurotischen Verhalten sprachen. Damit sollten unter anderem die „fremdartigen“ und „unerklärbaren“ deutschen Neigungen einem nichtdeutschen Publikum nähergebracht werden. Als „neurotisch“ wurde das gesellschaftliche und kulturelle Erbe bezeichnet, aus welchem der Nationalsozialismus hervorgekommen ist, sowie die Folgen, die er hinterlassen hat. Auf lange Sicht hatten solche Bemühungen wenig Aussicht auf Erfolg, da die wesentliche Voraussetzung jeder tiefenpsychologischen Analyse – politische wie auch moralische Neutralität – mit der Aufgabe der Umerziehung der Deutschen kaum vereinbar war.

Nachdem die gezielte Aufarbeitung der Vergangenheit aus der Sicht der Betreiber ihre Ziele ausreichend erreicht hatte, verlagerte sich das Interesse an tiefenpsychologischen Deutungen zu jenen deutschen Kreisen, die sich in der bestehenden geistigen Atmosphäre nicht zurechtfinden konnten. Als „neurotisch“ wurde jetzt nicht das Klima bezeichnet, aus welchem das nationalsozialistische Verhalten hervorkam, sondern die sich selbst geißelnde Kritik der besiegten Deutschen. Die Unmöglichkeit, den Anspruch, ein souveränes Volk zu sein, mit der Bereitschaft zu versöhnen, sich einer nie endenden Umerziehung zu unterwerfen, sollte dabei eine Rolle gespielt haben. Wie bei den Analytikern der Kriegsursachen und der Kriegsschuld, so konnten auch bei diesen besorgten Deutschen die Bedingungen einer politisch neutralen Analyse nicht erfüllt werden. Die Gefahr, das deutsche Volk durch psychologische Analysen als ein geistig krankhaftes erscheinen zu lassen, hat z.B. in den Ergebnissen der seitens der Carl Friedrich von Siemens-Stiftung organisierten Vortragsreihe über „Die deutsche Neurose“1 dazu geführt, daß der entsprechende Diskurs als ungeeignet abgewiesen wurde. Fragen wie „Sind neurotische Züge ein Spezifikum der Deutschen“, oder „Was unterscheidet die deutsche Neurose von vergleichbaren Sachverhalten in anderen Ländern“ mußten folglich unbeantwortet bleiben. 

Probleme des gestörten Gruppenverhaltens

Zur Überwindung der Schwierigkeiten, die solche Fragen aufwerfen, ist ein  Minimum an theoretischen Erörterungen erforderlich. Schwierigkeiten bereitet schon das Problem, das etwa so formuliert werden kann: „Ist es erlaubt oder nur möglich, Begriffe, die in der Sphäre der individuellen Psyche ihre Anwendung finden, auf Gruppen oder Gemeinschaften zu übertragen? Für eine Antwort müßte zunächst sichergestellt werden, daß neurotische Phänomene in der Tat nur in der Sphäre des Individuellen auftauchen. Der Eindruck, es sei so, entsteht aus der problematischen Einordnung von Neurosen als Krankheiten.
Allgemein können pathologische Zustände durch individuelle Anlagen bedingt, und von physischen oder biologischen Schäden verursacht werden. Das mag auch für die Neigung zum neurotischen Verhalten gelten, verursacht und ausgelöst wird jedoch solches Verhalten durch zwischenmenschliche Beziehungen, die mehrere Personen umfassen; sie entstehen in einer „neurotischen Situation“. Angesichts der Unterschiede zwischen dem, was als Krankheit bezeichnet wird, und neurotischen Phänomenen ist es somit kaum angebracht, von „logischen Fehlern“ zu sprechen, wenn neurotisches Verhalten mit gesellschaftlich-politischen Zuständen in Zusammenhang gebracht wird.
Dazu kommt, daß politisch interessant nicht jene Phänomene sind, die als „Neurosen“ benannt werden (Zustände, z.B. Verdauungsstörungen oder Herzbeschwerden, bei denen krankheitsähnliche Phänomene ohne merkliche Organschäden auftreten), sondern solche, bei denen das gesellschaftliche Verhalten gestört ist, die dementsprechend auch mit dem Terminus „neurotischer Charakter“ bezeichnet werden. Die mangelnde Übereinstimmung zwischen dem auffälligen politischen Verhalten und der Häufigkeit von quasi-organischen Neurosen kann darauf zurückgeführt werden, daß der neurotische Charakter nicht, so wie Neurosen, von der medizinischen Statistik erfaßt wird.
Gegen die Annahme, neurotisches Verhalten könne auch bei Gruppen auftreten, hat Erich Fromm2 behauptet, ein Neurotiker sei immer ein Einzelfall. Solch eine Person leide daran, daß sie nicht „normal“ (so wie die anderen) sein kann. In einer politisch diskriminierten Gruppe seien dagegen alle Mitglieder betroffen, und durch den „Schutz der Masse“ sei der Ausbruch des neurotischen Verhaltens vorgebeugt. Offensichtlich wurde dabei angenommen, der politische Druck auf eine Gruppe oder Gemeinschaft würde sich bei allen ihren Mitgliedern in ähnlicher Weise äußern, und sich etwa in Form von Massendemonstrationen oder Aufständen manifestieren. Dies ist jedoch nur selten der Fall. Weit häufiger wird das politische Verhalten einer Gemeinschaft, die unter Druck steht, gespalten, wobei Aufruhr und konformes Verhalten einander stoßen. Das „Neurotische“ ist unter solchen Bedingungen effektiv gleichbedeutend  mit  einer Schwächung der Gemeinschaft durch äußeren Druck und durch überspitzte Konflikte unter den von ihr umfaßten Parteien. Vom „Schutz der Masse“ kann dabei nicht viel erwartet werden.  

Zur Terminologie und zu einigen Analogien

In der klinischen Psychologie unterscheidet man Neurosen und Psychosen.  Diese Termini sind mehrfach irreführend. Erstens wird der Eindruck erweckt, Neurosen hätten nur mit Nervenschäden, Psychosen dagegen nur mit Seelenschäden zu tun. Was beobachtet wird, sind jedoch nur unterschiedliche Typen von abnormem, d.h. der Lage nach übertriebenem Verhalten. Übertriebene Aufregung gehört dazu genauso wie unangemessene Regungslosigkeit oder Passivität. Vermutungen über mögliche Zusammenhänge zwischen Symptomen, die als neurotisch oder psychotisch bezeichnet werden, und Funktionsstörungen bestimmter Nervenzellen haben auf die psychiatrische Theorie noch keinen entscheidenden Einfluß. Es wird angenommen, daß Neurosen und neurotischer Charakter auf Störungen beim Programmieren (und der Inbetriebnahme) des Nervensystems zurückzuführen sind, wobei die Natur der Programmierung noch weitgehend unbekannt ist.
 Wenn Ausdrücke wie „Neurose“ nur im Sinne einer Analogie zu bekannten neuralen Phänomenen zu verstehen sind, gilt das in noch größerem Maße für „nationale Neurosen“. Dennoch sind solche Analogien nicht wertlos. Zu behaupten, ein Volk sei neurotisch, bedeutet nicht viel mehr, als daß sich in typischen politischen Situationen bei einem Volke ein dem Neurotischen ähnliches Verhalten bemerkbar macht. Die Analogie kann aber zur Suche nach Hypothesen über die geschichtlichen Ereignisse verleiten, welche mit dem Auftreten des charakteristischen Verhaltens ursächlich verbunden sein könnten. Mit Hilfe solcher Hypothesen kann das in den Sozialwissenschaften unerwünschte, weil öfters sogar mehr als tautologische Gerede von National- oder gar „Rassencharakter“ vermieden werden.
Charakteristisch für manche theoretische Richtungen ist, daß die entscheidende Rolle bei der Entstehung psychischer Störungen im Bereich der kulturellen Bemühungen gesucht wird. Dieser Begriff wird dabei nicht nur im Sinne einer dekorativen „persönlichen Kultur“ geprägt, sondern auch im Sinne dessen, was erwartungsgemäß einen Beitrag zum Ansehen der Gemeinschaft leisten kann. Kultur stellt Aufgaben und fordert das Wetteifern um ihre Erfüllung, wirkt aber auch, ähnlich wie die Moral, hemmend und verbietend. Schon aus der allgemein anerkannten Rolle, die den Kulturen zugebilligt wird, von welchen ganze Gemeinschaften durchdrungen sind, ist ersichtlich, daß neurotische Phänomene keineswegs nur eine Frage des Privatlebens einzelner Personen sein können. Die Vorstellungen darüber, wie Kultur wirkt, sind jedoch unterschiedlich. Zwei Konzepte werden hier dargelegt, die von Freud3 und von Karen Horney4.

Die zwei Modelle     

Für  Freud ist Kultur ein Ausdruck der „Sublimierung“ von Trieben, welche die Lebenserhaltung von Individuen sichern, sich aber in der Gemeinschaft als störend, gelegentlich sogar als zerstörend erweisen können. Die „Energie“ der Triebe wird durch Sublimierung in Richtung Kultur umgeleitet. Dazu ist eine besondere psychische Struktur erforderlich, das „Über-Ich“, welches Idealforderungen stellt, die mit der jeweiligen Kultur konform sind. Die Nichtbefolgung dieser Forderungen wird mit „Gewissensangst“ bestraft. Neurotische Störungen entstehen, wenn der Konflikt zwischen Trieb und Ideal unerträglich wird. Die unerfüllten Triebwünsche können mit Hilfe der Analyse zum Bewußtsein gebracht und durch solche Katharsis aufgelöst werden. Den Gedanken, nicht nur Individuen, sondern auch manche Gemeinschaften seien in ihrem Streben nach Kultur neurotisch geworden, hielt Freud für fruchtbar und einer Erforschung wert.
 Horney dagegen mißt den Trieben eine untergeordnete Rolle bei. Ihrer Meinung nach sind die stärksten Motive des menschlichen Handelns im Streben nach Einfluß und Anerkennung zu suchen. Anders als Freud hält Horney kulturbedingte Abwehrmechanismen gegen Angst, so wie religiöse Handlungen, nicht für neurotisch.
Im Vergleich zum breiten Zuspruch, den Freuds Konzept genießt, hat der Zugang Horneys wenig Anhänger, scheint sich aber als Ausgangspunkt für Analysen des politischen Lebens eines Volkes zu eignen. Man kann dies am Verhaltenstyp illustrieren, den Horney als Beispiel des Neurotischen anführt:  ein Angestellter bemüht sich übermäßig, jedoch erfolglos, um die Anerkennung seiner Verdienste. In seinen Tagträumen rächt er sich an seinem Chef; dank seiner Aufmerksamkeit wird der Chef gestürzt, seine Position wird vom Angestellten übernommen. Sobald jedoch der Chef in Wirklichkeit vor ihm erscheint, macht er sich durch seine Unterwürfigkeit nur noch mehr verhaßt. Durch den Konflikt zwischen dem Begehren nach Sympathie und der aggressiven Rachsucht wird er innerlich zerrissen, d.h. neurotisch. Das Streben nach Herrschaft hat zwar den Ursprung in ihm allein, für die Auswirkungen dieses Strebens ist jedoch eine kulturell strukturierte Situation erforderlich. Der Vergleich mit politischen Gegebenheiten ist hier offensichtlich voll berechtigt.
Unterschiede  zwischen den Konzepten Freuds und Horneys führen zu gegensätzlichen  Voraussagen über die Wirkung der Kultur. Bei Freud ist die Neurose eine direkte Funktion der erreichten Kulturmacht, bei Horney dagegen scheint sie eher eine Funktion des Mangels an kultureller Anpassungsfähigkeit zu sein. Seitens der betroffenen Person wird dieser Mangel verschleiert (d.h. ins Unterbewußte verdrängt) oder übertrieben bewußt und aufgeblasen. Weiterhin sollten nach Freud Völker mit hochentwickelter Kultur mehr anfällig für Neurosen sein als unterentwickelte, während bei Horney ein kulturell frustriertes Volk eher betroffen sein sollte.
 Die breite Popularität des Freudschen Modells beruht auf seinen liberalen Implikationen. Wo jedoch ethnologische Überlegungen mit tiefenpsychologischen gekoppelt werden, gestaltet sich das Ergebnis oft in Einklang mit den Vorstellungen Horneys.  Während noch in der klassischen Theorie des Ethnozentrismus und in ihrer psychoanalytischen Erweiterung (für eine Übersicht siehe Anmerkung 5) jedes Volk nur die eigene Kultur schätzt und unerwünschte Verhaltenseigenschaften (Aggressivität, Unberechenbarkeit, Tücke) auf die umgebenden Völker projiziert (wobei dem Neurotischen ähnliches Verhalten auf beiden Seiten zu erwarten ist), befassen sich Ethnopsychologen zunehmend mit gefährdeten Minderheiten (wie die Juden Europas, die Indianer und Neger Amerikas6). Neue Begriffe wurden in die Psychosoziologie eingeführt (z.B. die „marginale Persönlichkeit“, „Unterdrük-kungsneurose“, und „sozialer Negativismus“. Von besonderem Interesse ist die Referenztheorie (Übersicht in Anmerkung 5), wonach in manchen Völkern eine fremde Kultur als Vorbild und Maßstab für die eigene steht. 
Spannungen zwischen Völkern werden bei den genannten Analysen nicht aus moral-agogischen Gründen heruntergespielt. Kultur wird z.B. nicht als eine von Eros beschützte, die Menschheit brüderlich vereinigende Festlichkeit verstanden, eher wird sie als Substrat des Wettbewerbs zwischen verschiedenen Gemeinschaften und als Stütze des politischen Selbstvertrauens gedeutet. Ein Volk kann sich demnach als erniedrigt, beleidigt und bedroht fühlen, wenn seine Kultur nicht in gebührender Weise anerkannt wird.

Schichtung des neurotischen Verhaltens von Gemeinschaften

Da das neurotische Verhalten (d.h. auffallend unzweckmäßige, rational und bewußt nicht kontrollierbare Abwehrreaktionen) aus besonderen zwischenmenschlichen Beziehungen entsteht, ist es a priori wahrscheinlich, daß in einem erweiterten Rahmen von Beziehungen, wie sie in einem Volke vorkommen, ein breiteres Spektrum neurotischer Phänomene als z.B. in einer Familie zu beobachten wäre. Man kann dabei vier Stufen unterscheiden. Es sind Verhaltensweisen zu beachten, die den neurotischen Charaktereigenschaften ähnlich sind und durch häufiges Auftreten in einem Volke für dieses als charakteristisch gelten. Daß Volkscharakter als „nationale Beschränktheit“ gewertet werden kann, hat Goethe schon erkannt. Eine Liste von solchen wurde von G.K. Kaltenbrunner7 für die Deutschen aufgestellt. Sie enthält Eigenschaften, von denen fast alle jenen des neurotischen Charakters entsprechen. Man ist sich dessen nur selten bewußt geworden, weil einerseits neurotische Eigenschaften mit „nervösem“ Verhalten vermengt wurden, andererseits alles, was mit Nationalcharakter verbunden ist, als (rassistisches) Vorurteil gilt. Da jedoch psychische Beschränkungen aus traumatischen Situationen herrühren und unter günstigen Bedingungen wieder verschwinden, dürften sie nicht mit Rasseneigenschaften vermengt werden. Die von Kaltenbrunner gesammelten Aussagen über den Charakter der Deutschen können kaum als persönliche Vorurteile gedeutet werden. Obwohl sie von anerkannten Schriftstellern unterschiedlicher Volkszugehörigkeit stammen, sind die Aussagen hochgradig übereinstimmend. Allein diese Tatsache verleiht ihnen den Status eines wissenschaftlich wertvollen Fundus: die hohe Konsistenz konnte kaum durch gemeinsame Vorurteile oder durch Zufall entstanden sein.
Auf dieser Stufe werden Massenphänomene zusammengefaßt, die durch gegenseitige Verstärkung des Verhaltens von Einzelpersonen ihr Ausmaß erreichen. Beeinflussung durch private Mitteilungen wie durch öffentliche, mehr oder weniger filtrierte Berichterstattung gehören dazu. Durch unkritische Deutung bewußt oder unbewußt entstellter geschichtlicher Erfahrungen kann die politische Empfindlichkeit eines Volkes politisch wirksam gesteigert werden.  Euphorischer Aufschwung wie auch lähmende Bedrücktheit können so übertriebene Ausmaße erreichen.
Dem neurotischen analog ist das Verhalten eines Volkes auch, wenn unter Druck von außen entgegengesetzte Ausweichstrategien entwickelt werden und sich als gegenseitig extrem feindselige, organisierte Parteien herauskristallisieren, so daß die politische Einheit des Volkes fraglich wird. Die Wahrscheinlichkeit der Entstehung solcher Spaltungen ist um so höher, als auf der einen Seite tradierte, und auf der anderen aufgegriffene Werte zur Stütze des Selbstvertrauens herangezogen werden, je weiter in die Ferne die Verwirklichung der Wünsche rückt, und je höher das Bedürfnis, der eigenen Schuld an der Misere auszuweichen. Bei andauernder Ohnmacht eines Volkes leidet die Autorität, und damit die Wirksamkeit der führenden Schichten. Zwangsneurotische autoritäre Übergriffe wie chaotische Zustände werden dadurch möglich.
Jedes neurotische Phänomen trägt in sich seine Geschichte. Analysen zeigen, daß traumatische Erfahrungen eines Kindes Störungen im reifen Alter verursachen können. Analog dazu kann angenommen werden, daß auch bei der Gestaltung der Völker Phasen auftreten, die den Gang der weiteren Entwicklung kritisch bestimmen.
Eine wichtige Rolle fällt dabei den jeweils waltenden Autoritäten zu. Als Vorbild kann für ein sich formendes Volk die Kultur eines anderen wirken, die mehr Selbstvertrauen verspricht als die eigene. Kulturschocks, die etwa bei Volkswanderungen auftreten, sind auch für Geschichtswissenschaftler (z.B. Toynbee) kein unbekanntes Thema. Die Identität eines Volkes kann dabei neu geprägt werden, aber auch für längere Zeit gespalten bleiben.
Die Aufnahme jeder Kultur ist mühsam und verlangt einen hohen Einsatz von Energie. Die Übernahme einer fremden Kultur ist um so mühsamer, als es oft scheinen mag, der ursprüngliche Krafteinsatz hätte sich nicht gelohnt. Kein Wunder, daß eine fremde Kultur auf Widerstände stößt, besonders bei jenen, die sich von ihr keinen Gewinn versprechen können oder nicht in der Lage sind, den Preis zu zahlen. Unter solchen Bedingungen kann der initiale Ethnozentrismus obsessiv-zwanghafte Formen annehmen. Aber auch eine unvollständige Übernahme einer Kultur kann zwanghaftes Verhalten bewirken, das sich als übermäßiger Fleiß, Pünktlichkeit  und übertriebene Reinlichkeit äußert.
Der neurotische Charakter ist ein Ausdruck der inneren Spaltung, mit der sich kaum jemand versöhnen kann, die als Mangel erlebt wird und deshalb zum Komplex der Minderwertigkeit führen muß. Der Komplex dauert so lange an, wie der Konflikt, durch welchen er ausgelöst wird, andauert, kann aber bei Einzelnen auch zeitlebens beibehalten werden. Für gemeinschaftliche Kulturkonflikte ist zu erwarten, daß sie für Jahrhunderte andauern würden, wenn jeder Versuch, den Konflikt loszuwerden, als Rückfall in die Barbarei gedeutet zu werden droht. Der einmal erworbene neurotische Charakter kann sich so, als Kultur verkleidet, von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzen.
Trotz aller Mühe, Termini wie „Neurose“ zu entschärfen, bleibt ihnen etwas Beleidigendes anhaften. Es hilft jedoch wenig, für unerträgliche Lasten schöne Namen zu suchen; dadurch werden sie nicht aus der Welt geschafft. Immerhin sollen „Neurotische Züge einer Gemeinschaft“ nicht etwa im Sinne einer „Epidemie des Schwachsinns“ oder „Unfähigkeit zur wahren Größe“ gedeutet werden. Die Angst vor psychoanalytischen Übergriffen, die bei Politologen und Soziologen nicht selten ist , ist somit nicht berechtigt.

Die geschichtliche Entwicklung des deutschen Verhaltens

Das Ziel dieser Studie ist, Gesichtspunkte zu finden, die es erlauben würden, das deutsche Problem im Lichte neuer Fragestellungen zu erörtern. Die Frage, ob das neurotische Verhalten spezifisch für die Deutschen ist, gehört nicht dazu, weil das neurotische Verhalten sehr unterschiedliche Formen annehmen kann. Die bereits erwähnte Liste deutscher Eigenschaften gleicht zwar einem Katalog von Übertreibungen, „In allem zu übertreiben“ kann kaum als spezifisches Merkmal gelten. Es mag jedoch nützlich sein, einige von diesen Merkmalen samt ihren Gegensätzen aufzuzählen.
Bereits im Altertum war die „deutsche Wut“ (furor teutonicus) bekannt, ihr stehen jedoch Eigenschaften wie „Servilität“ gegenüber. Dem „faustischen Drang ins Jenseitig-Unendliche“ kommt „spießbürgerliches Behagen“ als Kontrast hinzu. Das Faustische wird zu „Monomanie, Titanismus und Drang zum Absoluten“ erweitert, während das Behagen durch „Biegsamkeit“ und „Bewunderung von anderen“ gewahrt werden kann. Der „Anfälligkeit für alles Radikale“ entspricht der „ewige Protestantismus“, neulich auch in Form von verschiedenen „Endlösungen“, aber auch als „radikale Abwendung von der Welt“ und „Politikferne“, die letztlich in der „Flucht vor sich selbst“ und in „Todessucht“ mündet. Hoffnung, wenn vorhanden, tritt als „Glaube an die eigene unendliche Verbesserlichkeit“ auf. Alles zusammen ergibt eine heillose „innere Zerrissenheit“.
In der Tiefenpsychologie wird nicht gefragt, ob diese Eigenschaften „spezifisch“ für ein Volk sind, sondern zu welcher Zeit und unter welchen Umständen ein gestörtes Verhalten eingetreten ist. Man geht von der Annahme aus, das Verhalten sei ein Ausdruck von Wandlungen des Selbstvertrauens. Bei einem Volk kann dieses durch den Vergleich der eigenen Kultur und Zivilisation mit denen eines anderen Volkes erschüttert werden. Die Erschütterung kann kaum sinnvoll als „spezifisch“ bezeichnet werden; wenn sich jedoch ihre Folgen in kulturellen Formen eines Volkes niederschlagen, dürfen sie wohl als spezifisch gelten.
Wenn es richtig ist, daß neurotische Züge kein angeborenes Specificum der Deutschen sind, können zwei Fragen gestellt werden: 1. Gibt es Anzeichen dafür, daß die Deutschen sich in einer früheren Zeit anders als heute verhalten hätten?  2.Wann und durch welche Einflüsse sind neurotische Züge zutage getreten? Auskünfte zur ersten Frage sind bei einigen Autoren der Antike zu finden. Obwohl manche von ihnen (z.B. jene von Caesar und Tacitus) nicht aus eigener Erfahrung der Autoren stammen, sind die Berichte insofern übereinstimmend, als kein dem Neurotischen ähnliches Verhalten bei den Germanen in ihrer Heimat erwähnt wird. Anderes war auch nicht zu erwarten: eine nagende kulturelle Selbstkritik oder übertriebener Perfektionismus wären ja im Widerspruch zum barbarischen Image, das immer noch den Germanen mit Vorliebe angehaftet wird. Einige der Berichte, z.B. jene über die germanische Kampfweise, bestätigen die Vermutung über das spontane Verhalten der alten Germanen: von Hinweisen auf eine neurotische „Kadaverdisziplin“ ist in ihnen keine Spur zu finden. Man kämpfte ohne viel Strategie und suchte vor allem die Gelegenheit, durch die eigene Tapferkeit persönlichen Ruhm zu erlangen.

Die Ur-Umerziehung

Die Wende zu einem Verhalten, das dem heutigen ähnlich ist, kann bei den Deutschen des frühen Mittelalters vermutet werden. Zu jener Zeit drangen germanische Einwanderer in die einstigen Gebiete des Römischen Reiches ein und wurden dem zivilisierenden Einfluß der dortigen Städte mit ihrer bereits christlichen Glaubenskultur  unterworfen. Einen überwältigenden Eindruck mußten unter anderem die sichtbaren Überreste der Architektur bewirkt haben, die auch entworfen wurde, um die Massen römischer Bürger zu beeindrucken und die Autorität der politischen Führung zu sichern. Wie weitgehend und wie schnell unter solchen Bedingungen das Ansehen der mitgebrachten germanischen Kultur schwand, ist dem Wandel der Sprache zu entnehmen: in weiten Gebieten der germanischen Ansiedlung, von Spanien über Frankreich bis Italien, sind Spuren der deutschen Sprachkultur nur (wie in Verona) in den auf Sarkophagen gemeiselten deutschen Namen erhalten geblieben. Lokale Varianten des Lateins hatten sich unter den Germanen innerhalb weniger Generationen durchgesetzt.
Germanisiert wurden nur die römischen Städte entlang des Limes, wie Mainz, Trier, oder Köln. Den höchsten Vertretern der deutschen Macht ist es jedoch nicht gelungen, das Ansehen der deutschen Kultur hochzuhalten. Während Karl der Große noch eine Sammlung deutscher Folklore erstellen ließ, war diese für seinen Sohn, Ludwig den Frommen, nur ein blamables Monument deutscher Barbarei. Folglich fühlte er sich verpflichtet, die Sammlung zu vernichten. Die Angst, das Deutschtum könnte sich jederzeit als barbarisch verraten, war auch der Grund für die Namengebung des Ersten Reiches. Der Wille, die deutschen Kernländer als „Heiliges Römisches Reich“ zu erhalten, dauerte über ein Jahrtausend an.
Thomas Mann hat in „Doktor Faustus“ die Mentalität eines deutschen Kaisers überzeugend rekonstruiert. Er schreibt: „Als er (Otto III.) im Jahre 1002 nach seiner Vertreibung aus dem geliebten Rom in Kummer gestorben war, wurden seine Reste nach Deutschland gebracht und im Dom von Aachen beigesetzt – sehr gegen seinen Geschmack, denn er war das Musterbild deutscher Selbstantipathie und hatte sein Leben lang schamvoll unter seinem Deutschtum gelitten.“

Perfektionismus als bitterer Preis

Das ideale Über-Ich der deutschen Elite lag offenbar außerhalb der nationalen Kultur. Das Bestreben, das Römische Reich auf deutschem Boden weiterzuführen, war kaum tragbar. Die Kulturdissonanz mußte bei jedem, der zur Elite gehören wollte, zu einer andauernden Unzufriedenheit mit sich selbst führen, zu einer nicht nachlassenden Aufforderung, sich selbst zu verbessern. Der Hang zum Perfektionismus, nach allgemeiner Schätzung ein typischer Zug der Deutschen und mancherorts der Hauptgrund für deutschfeindliche Sentimente, war demnach eine Folge des Kulturstrebens, dem unter den Bedingungen der römischen Erbschaft nicht auszuweichen war.
Die Pflicht der Selbstverbesserung mußte eine Atmosphäre erzeugt haben, in welcher der strengen Erziehung eine übergroße Rolle zukam. Für einen Vater war es da nicht möglich, mit seinen Söhnen verständnisvoll und tolerant umzugehen. Der Begriff des „deutschen Vaters“ als eines autoritären, ja sadistischen Haustyrannen, wird in tiefenpsychologischen Studien über die Deutschen als ein Prinzip des Übels dargestellt, aus welchem zwingend der „faschistische“ Menschentyp hervorgehen mußte. Der Eindruck, welcher durch solche Texte (unter anderem jene der Frankfurter Schule8) vermittelt wird, ist, daß sadistische Neigungen spezifisch für die Deutschen seien. Die Möglichkeit, daß es sich um kulturell übermittelte Verhaltenszwänge handeln könnte, etwa eine Zwangsvorstellung, die Rolle eines allmächtigen römischen pater familias verkörpern zu müssen, einer Person, die über Leben und Tod seiner Söhne verfügte, scheint nirgends durchgedrungen zu sein. Das Ausbleiben solch einer Deutung ist eines der vielen Beispiele dafür, wie durch die ewige „Pflicht des Schuldbewußtseins“ nicht nur plausible wissenschaftliche Hypothesen, sondern auch elementares Menschenverständnis auf der Strecke bleiben.
Psychiatrische Erfahrung, aber auch Tierexperimente zeigen, daß neurotische Symptome entstehen, wenn sich jemand der gestellten Aufgabe nicht gewachsen fühlt. Ziele werden zunächst mit übertriebener Hartnäckigkeit verfolgt, die Selbstkritik, die dem Scheitern folgt, wird bissig, die Aufmerksamkeit, die sich auf die eigenen Fehler richtet, erlaubt keine Atempause. Wenn die Last untragbar wird, kommt Protest auf, der auch destruktiv sein kann. Wenn viele davon betroffen sind, kommt es zu Protestbewegungen.

Protest und Reformation

Grund für Protest gab es bei den Deutschen vor allem dort, wo die Last der fremden Kultur am meisten spürbar war. Kein Wunder, daß die Suche nach Schwachstellen im religiösen Bereich  bei den Auszubildenden begann, im konkreten Fall bei einem jungen Mönch. Die Protestbewegung berief sich zunächst auf Unstimmigkeiten zwischen Brauch und Schrift. Sie erfaßte bald weite Bereiche Deutschlands und begann Zustimmung in benachbarten Ländern zu wecken. Da der Ausbruch destruktiv zu wirken begann und die bestehende Ordnung bedrohte, erhoben sich bald Kräfte der Reaktion. Es dauerte ein ganzes Jahrhundert, bis die Reformation Kräfte zu bewegen begann, deren Zusammenprall zum europäischen Dreißigjährigen Krieg führte.
Jetzt schien es, als ob nicht nur Kulturwerte im Spiel wären, sondern auch die sich seit Jahrhunderten abzeichnenden politischen Prinzipien, die später als balance of power bezeichnet wurden. Ein Vergleich mit dem (kulturell mehr homogenen) ostasiatischen Raum (in welchem das Kräftegleichgewicht zwischen Staaten weniger ausgeprägt ist als in Europa) suggeriert aber, daß es doch die durch die germanische Einwanderung induzierte Kulturdifferenzierung war, die als Motor politischer Spannungen wirkte. Es ist die besondere kulturelle Prägung der Germanen, die das heutige Deutschland besiedelten, welche die Deutschen unter den Erben Roms zum Fremdelement, zum Feind, und schließlich zum europäischen Prügelknaben werden ließ. Diese Prägung machte sich erst durch die Reformation politisch wirksam, und es ist erst seit ihrer Zeit, daß die Deutschen immer wieder versuchten, sich ihrer Konsequenzen zu entledigen, was regelmäßig zu politischen Katastrophen führte.       

Politische Folgen der Reformation

Wenn ein Beispiel dafür gesucht wird das zeigt, wie interne Kulturkonflikte sich nicht nur auf die Privatsphäre beschränken, sondern das Schicksal eines ganzen Volkes bestimmen, dann ist der Dreißigjährige Krieg ein solches. Seine Folgen waren so drastisch, daß der Meinung eines englischen Historikers nach auch Adolf Hitler sich noch berufen fühlte, den Friedensvertrag von Versailles, dazu aber auch den Westfälischen Frieden korrigieren zu müssen.
Ein solcher Krieg hätte nicht geführt werden können, wenn die kulturellen Stützen der gemeinsamen Identität der Deutschen intakt gewesen wären. Die Traditionen der Spaltung (mit Projektionen, die bei anderen Völkern für Fremde reserviert bleiben) haben sich seitdem bei den Deutschen fortgesetzt. Hinzu kam, daß es in einem Reiche, das nach dem Prinzip cuius regio, eius religio aufgeteilt wurde, keine konzentrierte politische Bewegung geben konnte, auch keine Glaubensgrundlage, die als Basis für den Aufbau eines Kolonialreiches taugen würde. Es waren solche Errungenschaften, die bei den deutschen Nachbarn ein Aufblühen des Selbstvertrauens ermöglichten. Mit dem Dreißigjährigen Krieg ist das Heilige Römische Reich nicht zu seinem Ende gekommen. Es überlebte noch für mehr als anderthalb Jahrhunderte, auch diejenigen Deutschen umfassend, welche die geistige Autorität Roms nicht anerkennen wollten.
Die Auflehnung der Protestanten gegen Rom hatte sich dazu keineswegs zu einer Befreiung vom römischen Einfluß gewandt: die Ideale des echten Römertums wurden verständlicherweise auch bei den Protestanten eher auf- als abgewertet.
Die katholischen Würdenträger konnte man für unwürdig erklären, die christlichen Prinzipien und das Idealbild eines Römers mußten dagegen nur noch gewissenhafter befolgt werden. Die Last des Beweises, Gott sei auf ihrer Seite, lag bei den Protestanten. Nur durch außerordentlichen Ernst, Redlichkeit und Selbst
kontrolle konnten sie sich selbst und der Welt zeigen, daß diese römischen Tugenden ihrerseits nicht vernachlässigt wurden. Die Versicherung, daß die Reformation kein Rückfall in die Barbarei sei, brachte somit keine Befreiung, eher zusätzliche Belastungen.

Die Romantik als Euphemismus 

Eine Nation, die sich keine Spontaneität erlauben kann, ist in ihrer politischen Handlungsfähigkeit beschränkt. Eine Elite, deren Blick nach innen, ins eigene Gewissen gerichtet ist, sich selbst nicht aushalten kann und vor sich selbst flieht, kann die Ereignisse in der Umwelt weder voraussehen noch richtig einschätzen. Weil sie ihrer selbst nicht sicher ist, neigt sie zur Überschätzung anderer. Wenn diese die gebotenen Gelegenheiten ausnützen, ruft das jedoch beim neurotischen Volk Empörung hervor, die unterschwellig bleibt oder die angestauten Kräfte entfesselt. Die Auslösung einer gefährlichen Euphorie wird unvermeidlich. Die eigene Kraft wird jetzt mehr überschätzt als sie früher angezweifelt wurde.
Bei den Deutschen ist eine solche Wende mehr als bei irgendeiner anderen „verspäteten“ Nation durch eine verspätete Säkularisierung gefördert worden. Doch selbst die neue Orientierung der Dichtung und der Kunst, die im 19. Jahrhundert den Deutschen ermöglicht hatte, eine völlig authentische Kultur zu entwickeln, nannte man „Romantik“, obwohl „Germantik“ den wahren Charakter der Bewegung besser ausgedrückt hätte.
Mit der Romantik verlor die einst so gefürchtete Barbarei einen Teil ihrer Unannehmlichkeit und rückte allmählich in die Nähe der Gesundheitsqualitäten. Was jedoch Philosophen, Dichter und Künstler freigemacht hatten, konnte sich in Zeiten der Euphorie nicht in Grenzen halten. So wie sie sich früher verpflichtet fühlten, sich eine fremde Kultur anzueignen, zwangen sich die ihrer selbst unsicheren Deutschen der Nationalsozialistischen Periode in die Rolle scheinbar bedenkenloser, eigentlich aber peinlich gewissenhafter Ethnozentriker.
In der heute in Deutschland gängigen Psychologie scheinen solche Einsichten kaum durchgedrungen zu sein. Ein Psychologe, der in dieser Epoche einen Ausbruch des „rohen Instinkts“ sieht (8), verrät damit, daß ihm die Scheuklappen einer moralistischen Doktrin den Einblick in die treibenden Kräfte der deutschen Geschichte versperren.  Es gibt aber auch heute noch Leute (wie z.B. Michel Friedman), die glauben, das, was ehemals „aggressive Instinkte“ genannt wurde, könne durch „Belehren“ (d.h. Gehirnwäsche) ausgemerzt werden. Waren es denn nur resolute Umerziehung und Vergangenheitsbewältigung, die ermöglicht hatten, die neuen Generationen der Deutschen zum Auskosten der westlichen Freiheiten zu bewegen? Die Deutschen leben, eben, immer noch in einer neurotischen Atmosphäre.

Die Gegenwart

Die Liberalisierung hat die westliche Welt für einen Lebensstil geöffnet, in dem bedeutende moralische Gebote und Schranken gefallen sind. Anstatt ora et labora walten jetzt, in Deutschland noch mehr als anderswo, Freizeit, Spaß und Glücksspiel, vor denen selbst die Romantiker zurückgeschreckt  wären, auch Rausch in einem Ausmaß, der auch für Nietzsche zuviel des Guten wäre. Churchills Maße für den neuen Deutschen wurden beinah erreicht: fett sind sie geworden, impotent zwar nicht, dafür aber effektiv unfruchtbar. Der alte Spruch „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ erhält so seinen neuen Sinn: die Deutschen sind, statistisch gesehen, Weltmeister des nationalen Selbstmords geworden.
Doch hat auch die Liberalisierung des heutigen Deutschlands ihre Grenzen. In Hinsicht auf Glaubensbekenntnisse, wie jenes der Verfassungstreue, der menschenverachtenden Natur des Dritten Reiches und der Opfer der Todeslager, sind keine Freiheiten erlaubt. Gefahren des Transportes von Brennstäben dürfen befürchtet werden, die der Überfremdung nicht. Unter Nichtdeutschen in ihrem Lande dürfen die Deutschen keine Feinde haben, die Mitglieder der NPD muß jeder meiden, der als anständig gelten will. Die deutsche Schuld für die Auslösung dieser Kriege muß über jeden Zweifel stehen.
Die Last, unter der die Deutschen leben müssen, ist auch nach der Wiedervereinigung größer als bei anderen Besiegten der Weltkriege. Die aufgezwungene politische Korrektheit spiegelt sich im neurotischen Stil parlamentarischer und anderer politischer Debatten (z.B. in der häufig gestellten Frage, was man wohl im Ausland über diesen oder jenen Beschluß, diese oder jene Aussage meinen würde).
Wenn trotzdem das Neurotische im deutschen Verhalten nicht als spezifisch gelten kann, sind Vergleiche mit anderen Völkern ein Weg, auf welchem das Charakteristische deutlich vortritt. Ein Vergleich mit romanischen Völkern (auch wenn es nur ein Vergleich von Stereotypen sein mag) ist besonders aufschlußreich.
Aus der Sicht romanischer Völker zeichnen sich die Deutschen  durch ihre „Schwere“ aus; sie geben sich ungemein viel Mühe, um alles zu ergründen und zu rechtfertigen. Daß dies aus ihrer Zerrissenheit herrührt, wird  bei den Romanen kaum begriffen: der deutsche Hang zu Begründungen wird eher als Überschuß von festen Überzeugungen aufgefaßt, wobei diese als Zeichen des Barbarischen verdächtigt wird. Dieser Eindruck kann mit der Entwicklung der französischen Nation erklärt werden.
Schon die keltischen Ahnen der Franzosen genossen bei den alten Chronisten  den Ruf eigenwilliger und geistreicher Nachbarn. Nachdem Gallien von Caesar bezwungen worden war, gaben die dortigen Kelten jedoch ihre Sprache auf  und wurden bald romanisiert. Über ein barbarisches Stigma brauchten sie sich danach keine Sorgen zu machen, brauchten auch sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen. So ist auch das Pathos der Grande nation nie im Wege ihrer Leichtigkeit des Seins. Trotzdem ist dieses Volk selbstsicherer als die Deutschen, was bei politischen Verhandlungen oft zutage tritt.
Deutsche und Russen verbindet das Gefühl, weniger Ansehen in der Welt zu genießen als ihren Verdiensten und Fähigkeiten entspricht. Zeitweilige Begeisterung für Endlösungen können als Folge davon gedeutet werden. Bei den Deutschen werden sie mit einer Reihe von Formeln ausgedrückt: „Nie wieder Barbarei“, „Nie wieder Rom“, „Nie wieder Gewalt“, „Nie wieder Juden“, „Nie wieder Hitler“, „Nie wieder Krieg“. Einige neue zeichnen sich ab: „Nie wieder Autorität“, „Nie wieder Biotechnologie“. Ein Ende ist nicht abzusehen.

Ausblick

Die traditionellen Antagonismen unter den Deutschen, die der Atmosphäre in diesem Volke einen neurotischen Geschmack verleihen, artikulierten sich einerseits als Bewunderung für und Wille zur Aufnahme allgemein und international anerkannter Kulturwerte, andererseits als Wunsch zur Bewahrung und allgemeinen Anerkennung der eigenen Werte. Sobald sich ein Nachlassen des Konflikts zwischen diesen Tendenzen ankündigt, taucht er in einer neuen Form auf. Die Störfriede im vereinten und befriedeten Deutschland werden heute „die Rechtsextremen“ genannt. Obwohl diese als Schandfleck Deutschlands gelten, obwohl gegen sie Massendemonstrationen organisiert werden, ist eigentlich von ihren Standpunkten wenig bekannt. Über die Frage, wie z.B. der oft wiederholte Slogan „Ausländer raus“ durch die rechtsextreme Verurteilung des Kapitalismus bedingt ist oder umgekehrt, wird nicht gesprochen. Nach den Methoden, durch welche der von der Wirtschaft verlangte Nachschub von Ausländern ersetzt werden soll, wird von keiner Seite gefragt. Wie will die extreme Rechte den Kapitalismus bekämpfen? Durch Verstaatlichung der Unternehmen? Durch Umschulung von Finanzmaklern zu Arbeitern? „Ausländer raus“ ist, so scheint es, eher Ausdruck eines Bedürfnisses nach Reinheit als nach einem politischen Programm. Solche (in der bereits erwähnten Hinsicht neurotische) Bedürfnisse sind jedoch nicht nur den Rechtsextremen eigen. Die linken Grünen haben mit viel Energie den Bau von Müllverbrennungsanlagen verhindert – aus Rücksicht auf die Reinheit der Umwelt. Der Müll wird jedoch nur in kleinem Ausmaß verarbeitet, die Hauptmasse wird unter hohen Kosten ins Ausland befördert. „Raus mit dem Müll“ – ein auslandsfreundlicher Slogan?
Es ist kaum wahrscheinlich, daß die Zukunft mehr Freundschaft zwischen den Völkern bringen wird, als es sie heute gibt. Wegen den extrem unterschiedlichen Reproduktionsraten in der Welt ist in Europa nach den neuesten Erwägungen der CIA-Experten eine Überflutung durch Menschen, deren kultureller Hintergrund mit den Werten der westlichen Zivilisation wenig gemeinsam hat, zu erwarten. Aus dem liberalen Charakter dieser Werte folgt aber auch die Unmöglichkeit, Europa als eine „Festung“ zu erhalten.  
Es ist kaum zu erwarten, daß innerhalb von 15 Jahren (für welchen Zeitraum die neuen Völkerwanderungen vorausgesagt werden) dieser Charakter samt allen von ihm bestimmten Strukturen freiwillig umgekrempelt werden kann, zumal die erforderlichen Veränderungen eine drastische Senkung  des Lebensstandards verlangen würden. Eine solche ist mit demokratischen Methoden nicht zu erreichen.
Im Lichte solcher Perspektiven sind die heutigen politischen Probleme Deutschlands mit einer Eintagsfliege zu vergleichen. Die kommende Endlösung wird weder von der Linken noch von der Rechten herbeigeführt. Was auch immer von ihr zu erwarten ist, eine Fortsetzung tausendjähriger neurotischer Verblendungen der Deutschen liegt nicht in den Sternen.

Anmerkungen

1 Peisl, A. und A. Mohler (Hrsg.). Die deutsche Neurose. Frankfurt/M., 1980.
2 Fromm, E. The Sane Society. New York, 1965.
3 Freud, S. Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt/M. 1981.
4 Horney, K. The Neurotic Personality of Our Time. New York, 1937.
5 LeVine und D.T. Campbell. Theories of Ethnocentrism. New York, 1972.
6 Devereux, G. Normal and Abnormal: the key concepts of Ethnopsychiatry. In: Man and his Culture. W. Muensterberger, Hrsg. London, 1969.
7 Kaltenbrunner, G.K. Was ist deutsch? Vorwort des Herausgebers. Initiative 39, München, 1980.
8 Mitscherlich, A. Die Unfähigkeit zu trauern. München, 1967.

 
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