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Ivan Illich – Zum 75. Geburtstag

Von Martin A. Schwarz

Selbstbegrenzung und Kritik der Gleichheit

Eine Persönlichkeit, die jenseits der politischen Bruchlinien Interesse verdient, wurde 75 Jahre alt. Aus diesem Anlaß sollte man sich mit deren Werk wieder verstärkt auseinandersetzen, auch oder gerade, weil sie aus dem breiten Bewußtsein aufgrund einer bewußten Medienabstinenz weitgehend verschwunden ist.

Ivan Illich, der in Wien am 4. September 1926 geborene, katholisch getaufte Jude, wurde zunächst Priester, hat sich dann aber aufgrund linksgerichteter Aktivitäten der Kirche entfremdet und ihr in einer unschönen Weise den Gehorsam aufgekündigt. Nichtsdestotrotz ist sein Werk – Bücher und Vorträge – eigentlich ein Frontalangriff auf den Fortschrittsglauben. Seine radikale Technikkritik machte Illich dann auch ebenso berühmt wie sein sozial inspiriertes Engagement gegen Kapitalismus und Militärdiktaturen Lateinamerikas (dort lag sein jahrzehntelanger Lebensmittelpunkt). Gemeinsam mit seinem Freund Leopold Kohr plädierte Illich für lebensangepaßte Größenordnungen und „konvivale“ Selbstbegrenzung – ein wahrhaft konservatives Anliegen. Beeindruckend sind seine Analysen der technischen Medizin, der Verschulung und des Energieüberschusses. Der Mensch wird technisch abgerichtet, zu einem von Bürokraten, Medizinern und Sozialtechnikern betreuten „Mängelwesen“ in einem neuen Sinne. Die Mängel sind künstliche, sie existieren nämlich nur, wenn man das Geschöpf an den Utopien und Mythen der Fortschritts- und Wachstumsapologeten mißt. Illichs Bücher „Fortschrittsmythen“ und „Selbstbegrenzung“ hatten großen Einfluß auf die entstehende Ökologiebewegung der siebziger und achtziger Jahre, ehe das Öko-Managment genau jene entmündigenden Praktiken zu adaptieren begann, die Illich in den anderen gesellschaftlichen Bereichen kritisiert hatte, und Öko-Multis wie Greenpeace und WWF den Protest zu monopolisieren begannen. Die Stärkung des UNO-Zentralismus zu einem weltweiten Regulierungssystem totalitären Zuschnitts wäre wohl ebenfalls zu kritisieren wie die neuen, bereits technologisch erzeugten Generationen „X“, die zum bloßen Konsum erzogen und das von Illich verteidigte „multidimensionale Gleichgewicht des menschlichen Lebens“ nie kennengelernt haben. Im Unterschied zu dem geistesverwandten, ebenfalls jüdischen Vordenker Günther Anders sagt Illich jedoch nicht den Untergang des menschlichen Wesens, sondern den des industriellen Zeitalters voraus: „Es kann sein, daß die Technokraten beauftragt werden, die Herde an den Rand des Abgrunds zu führen. Das heißt, ihnen wäre dann aufgetragen, multidimensionale Grenzen des Wachstums festzulegen. Eine solche selbstmörderische Phantasie würde das industrielle System auf dem höchsten noch erträglichen Produktivitätsgrad erhalten, aber kaum den Menschen. Der Mensch würde beschützt in einer Plastikhülle leben, die ihn zwänge, wie ein zum Tode Verurteilter vor der Hinrichtung zu überleben. Die Toleranzschwelle des Menschen gegenüber Programmierung und Manipulation würde bald zum schwerstwiegenden Hindernis des Wachstums werden. Die Alchimie würde wieder aus der Asche auferstehen: man würde danach trachten, den aus dem Alpdruck der Vernunft geborenen monströsen Mutanten zu produzieren und sich dienstbar zu machen. Von der Geburt bis zum Tode wäre die gesamte Menschheit eingesperrt in eine im Weltmaßstab erweiterte Schule, würde sie lebenslang im großen weltweiten Krankenhaus behandelt und Tag und Nacht an unerbittliche Kommunikationskanäle angeschlossen. So würde die Welt der Großen Organisation funktionieren. Dennoch lassen frühere Fehlschläge solcher Massentherapien das Scheitern auch dieses letzten Projekts der Weltkontrolle erhoffen.“ Dies schrieb Illich 1973 in „Tools for Convivality“ (erschienen bei Harper & Row, dt.: Selbstbegrenzung). Er sah damals gewisse Anzeichen für eine politische Umkehr, zu der er durch seine politische Kritik der Technik beitragen wollte. In einer ähnlichen Weise wie später der brillante Analytiker und fehlgeleitete Praktiker, der als „Unabomber“ bekannt wurde, kritisierte Illich auch die Linke, deren sentimentale „Verherrlichung von Opfern“, „von Frauen, Patienten, Schwarzen, Analphabeten, Unterentwicklung, Drogensüchtigen, Außenseitern und Proletariern einem die Möglichkeit (bietet), feierlich gegen eine Macht zu protestieren, vor der man bereits kapituliert hat“. Heute hat die linke Kapitulation – auch ihrer letzten Nachhut, der linksgewendeten Grünbewegung – jedes zu erwartende Maß überschritten, und die diversen „Opfer“-Klientels sind zu betreuten Sozialeinheiten geworden, die man durch Geld und Gesetze als Stimmvieh pflegt, anstatt sich zu fragen, was in einer Gesellschaft falsch läuft, die Subkulturen hervorbringt, anstatt eine Gemeinschaft, die auf „dem Recht auf Gemeinheit“ beruht, das Illich in einem gleichnamigen Buch (1982) einklagte. Sein Ansatz ist dabei vielleicht auch links oder doch eher christlich: „Das gemeinsame Thema dieser Aufsätze ist das Recht auf Gemeinheit. So wie andere von ‚Minne‘ sprechen, um etwas zu sagen, wofür es kein Wort mehr gibt, so verwende ich hier das Wort ‚Gemeinheit‘. Bis ins frühe 17. Jahrhundert bedeutete es, ‚gemeinsam, gemeinschaftlich, allgemein‘ und bezeichnete die Nutzungsrechte einer Gemeinde oder Gemeinschaft, der Armen und der Schwachen an der Umwelt. Erst am Ende des Jahrhunderts erhielt es seine abwertende Nebenbedeutung, ‚gewöhnlich, alltäglich, roh‘, in der es bis in unsere Tage überlebt hat. Was das Wort ‚Gemeinheit‘ ursprünglich meinte, ist vergessen, weil das, was es bezeichnete, dem historischen Fortschritt, dem Aufstieg des Nationalstaates und seinen expandierenden Mächten selbst zum Opfer gefallen ist.
„Scheinbar einem völlig anderem Thema widmete sich Ivan Illich in einem Buch, das auf hysterische Proteste eines anderen Teils des linken Mainstreams stieß (erinnert sei an eine lebhafte „Club 2“-Diskussion im ORF): Genus. Zu einer historischen Kritik der Gleichheit. Zwar ist Illichs Ausgangspunkt ein scheinbar zeitgeistgemäßer: die ökonomische Ungleichheit von Mann und Frau, die, wie Illich zeigt, keine natürlichen oder kulturellen Ursachen hat. Die „ökonomische Sklaverei der Frau“ setzt vielmehr erst mit dem Beginn der modernen Industriegesellschaft ein. Doch die Analyse Illichs zeigt, daß diese Diskriminierung gerade auf der Nivellierung des ursprünglichen Geschlechterunterschiedes beruht. Die ökonomische Ausbeutung basiert auf der postulierten Gleichheit der „geschlechtsneutralen Arbeit“, während die Anerkenntnis der Ungleichheit des Genus (unterschieden vom modernen „Sexus“) in „vernakulären Gesellschaften“ größtmögliche Gerechtigkeit gewährleistet. „Eine Industriegesellschaft kann nicht existieren ohne bestimmte Unisex-Postulate: Männer und Frauen sind für gleiche Arbeit geschaffen, sie nehmen die gleiche Wirklichkeit wahr, und sie haben, mit geringfügigen kosmetischen Abweichungen, die gleichen Bedürfnisse. (…) Erbarmungslos verwandeln ökonomische Institutionen die zwei Geschlechter in etwas Neues, nämlich in ökonomische Neutra, die sich durch nichts unterscheiden als durch ihr biologisches Geschlecht, das jeder kulturellen Einbettung beraubt ist.“ Daher verwendet Illich hier den biologischen Begriff „Sexus“. Demgegenüber ist „Genus“ durch die Beziehungen zu Verwandtschaft, Ehestand, geschlechtsspezifischen Werkzeugen, ja sogar durch unterschiedliche Raum/ Zeit-Verhältnisse und Sprache geprägt. Es fällt zwar auf, daß der Theologe Illich den religiösen Bereich etwas knapp behandelt, dennoch sind seine durch ausführliche „thematische Anmerkungen“ angereicherten Beobachtungen und Überlegungen zu den „Genusbereichen“ eine grundlegende Lektüre für jede Behandlung der „Geschlechterfrage“ und ein Beweis dafür, daß sein lebenslanges Interesse an dem Verhältnis des Menschen zu seinen „Werkzeugen“ – zweifellos ein von Karl Marx inspiriertes Thema – eine intellektuelle Fruchtbarkeit, Vielfältigkeit und Relevanz besaß und besitzt. Heute lehrt Ivan Illich – von einer Krebserkrankung beeinträchtigt – in Bremen und hat einen kleinen Kreis, den „Circle for Research on Proportionality“, um sich gebildet.

 
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