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Der Volksaufstand

Von Nikolaus v. Preradovich

Ungarn 1956

Anders als in der DDR, Polen und der CSSR wurde aus dem Volksaufstand in Ungarn ein regelrechter Krieg gegen die einrückenden Sowjettruppen. Nach Aussagen des US-Gesandten Tom Wailes waren die Zerstörungen in Budapest größer als die des Zweiten Weltkriegs. Rund 2.500 Ungarn sind gefallen und 20.000 wurden verwundet, 30.000 Menschen wurden von Sondergerichten verurteilt, über 500 Todesurteile vollstreckt. Bis Ende 1956 waren 200.000 Ungarn in den Westen geflüchtet.

In jenen Gebieten, die heute Ungarn genannt werden, siedelten ursprünglich germanische Stämme: Vandalen, Gepiden und Langobarden. Ab dem 5. Jahrhundert breitete sich dort das Reich der Hunnen und anschließend jenes der Awaren aus. Im 9. Saeculum traten die Madjaren an die Stelle der anderen östlichen Reitervölker. Die Ungarn wuchsen sich zu einer erheblichen Gefahr für Europa aus. Erst nachdem sie von Kaiser Otto dem Großen auf dem Lechfelde vernichtend geschlagen worden waren, ist ihnen Stillstand geboten worden. In der Folge nahmen sie das Christentum an. Ein Nachkomme des ersten Fürsten der Madjaren, Arpad, Stephan der Heilige (997–1038), nahm den Königstitel an. In der Folge eroberten die Ungarn die heutige Slowakei und schlossen zu Beginn des 12. Jahrhunderts eine Personalunion mit dem Königreich Kroatien.
Anno 1301 ist die nationale Dynastie der Arpaden erloschen. In der Folgezeit herrschten unterschiedliche, zum Teil aus dem Madjarentum hervorgegangene Könige. 1515 wurde eine schicksalhafte Doppelhochzeit geschlossen: Ferdinand von Österreich heiratete Anna von Ungarn, und seine Schwester vermählte sich mit König Ludwig von Ungarn. Laut Erbvertrag wurde folgendes bestimmt: Sollte das eine Herrschergeschlecht aussterben, würde der andere Partner erben. 1526 vernichtete das osmanische Heer das ungarische Aufgebot bei Mohács. Der König fand den Schlachtentod, und das Erbe – oder was davon noch übrig war, also Westungarn – fiel an die Habsburger. Von dieser Zeit an – mit der einzigen Ausnahme des Jahres 1849 – regierte die Casa d‘Austria in Ungarn.
Die Madjaren waren sehr unruhige Untertanen. Es sind zahlreiche Kuruzzenkriege überliefert, die Magnaten versuchten einen veritablen Aufstand, und die republikanische Bewegung unter Ludwig v. Kossuth brachte die Herrschaft der Habsburger 1848 an den Rand des Abgrundes. 1867 kam es zum österreichisch-ungarischen Ausgleich. Damit spielte das Reich der Stephanskrone eine Sonderrolle im Rahmen der nun so genannten österreichisch-ungarischen Monarchie. Es wurde von der „Doppelmonarchie“ gesprochen, wenngleich es eigentlich eine Halbmonarchie gewesen ist.
Anno 1918 war die Herrlichkeit zu Ende. Zweimal versuchte König Karl IV. von Ungarn als Kaiser I., die Herrschaft wieder anzutreten. Der Sieger über die Kommunisten, Nikolaus v. Horthy, wies ihm aber die Tür. Bis 1946 ist Ungarn ein Königreich ohne König gewesem, bis 1944 aber mit einem Reichsverweser, eben Herrn v. Horthy. Der Versuch, aus dem sehr ertragreichen Bündnis mit Deutschland auszusteigen, mißlang. Admiral v. Horthy wurde festgesetzt.

Moskauer Drehbuch

Das Reich der Stephanskrone wurde dann von der Roten Armee besetzt. General Miklos v. Dalmok, der bereits entsprechende Verhandlungen geführt hatte, leitete eine Übergangsregierung in den von den Sowjets besetzten Gebieten von Dezember 1944 bis zum November 1945. Darauf wirkte Zoltán Tildy von der Partei der kleinen Landwirte als Ministerpräsident. Dieses bürgerliche Feigenblatt war natürlich für die West-Alliierten gedacht, die nun verkünden konnten: So demokratisch geht es unter Stalin zu. Es dienten nur zwei Kommunisten in dem Kabinett Tildy. Der eine war Stellvertretender Ministerpräsident, der andere leitete das Innenministerium.
Der mächtigste Mann im Lande aber war selbstverständlich der Generalsekretär der KPU – Mátyás Rákosi. Er wurde in Ada an der Theiß als Sohn eines vermögenden jüdischen Händlers namens Roth geboren. Durch die Namensänderung war sowohl die Herkunft verschleiert, als auch der deutsch klingende Name behoben. Abgesehen davon erinnert Rákosi ein wenig an die berühmte ungarische Fürstenfamilie Rákóczi. Schon in ganz jungen Jahren gehörte Roth zum engsten Kreis des kommunistischen Diktators Béla Kun, der später von seinen eigenen Genossen liquidiert wurde. Nach dem Zusammenbruch dieser roten Diktatur war Rákosi einige Jahre in Haft. Sehr durchschlagend ist der – stets von neuem – zitierte „Weiße Terror“ offenbar nicht gewesen. Der KP-Häuptling kam immerhin mit dem Leben davon. Rákosi wandte sich nach der Sowjetunion, dem „Paradies aller Werktätigen“. Er brachte es zu einem der obersten Führer der Komintern (= Kommunistische Internationale). Anno 1944 kehrte Roth-Rákosi im Troß der Roten Armee in die Heimat zurück. Das Amt des Generalsekretärs der KPU hatte er von 1944 bis 1956 inne. Von 1953 bis 1955 tat er als Regierungschef Dienst. Roth alias Rákosi gelang es, auf den Bajonetten der Besatzungsmacht sitzend, den Kommunismus vollständig durchzusetzen. Im Jahre 1956 aber wurde er gestürzt. Er emigrierte von neuem in die UdSSR, wo er 1971 eines natürlichen Todes verstarb.
Die ungarische Geschichte hielt sich genau an das Moskauer Drehbuch. Im Jahre 1946 wurde das Land zur Republik erklärt, 1947 die Friedensverträge unterzeichnet, 1948 ein Pakt mit der UdSSR geschlossen. Rákosi übernahm damit auch nach außen hin die Macht. 1949 wurde eine neue – passende – Verfassung verkündet. Rákosi überdrehte aber die Schraube. Im Juli 1956 mußte er als Generalsekretär der KPU zurücktreten. Sein Nachfolger wurde der Genosse Singer alias Gerö. Im Juni 1956 brach der Posener Aufstand in der VR Polen zusammen. Weite Kreise Ungarns verlangten damals Rede- und Pressefreiheit und die Ablösung der KPU als allein bestimmende Macht.

Der Heldenkampf

Am 23. Oktober brach die Revolution gegen die Sowjet-Besatzungsherrschaft in Ungarn aus. Trotz des sofortigen Eingreifens der Roten Armee breitete sich der Aufstand über das ganze Land aus. Imre Nagy, der 1955 als Regierungschef und Mitglied des Polit-Büros gestürzt worden war, bildete eine Regierung. Er versprache weitere Erleichterungen. Nagy wollte das öffentliche Leben demokratisieren. Der Sozialismus sollte zwar aufgebaut, aber auf ungarische Art durchgeführt werden. Am 26. Oktober hatte sich der Aufstand – nicht zuletzt wegen des offensichtlich zu geringen Einsatzes der Roten Armee – weiter ausgebreitet. Es kam zu einem regelrechten Krieg. Armee- und Polizeieinheiten hatten sich dem Volksaufstand angeschlossen. Sie leisteten den Sowjets erbitterten Widerstand. Der Eisenbahnerstreik weitete sich zum Generalstreik. Zu diesem Zeitpunkt war das westliche Ungarn bereits völlig in der Hand des nationalen Widerstandes. Am 1. November erklärte die Regierung Nagy Ungarn zu einem neutralen Land. Gleichzeitig wurde die Mitgliedschaft im Warschauer Pakt gekündigt. Moskau entsandte einen seiner führenden Köpfe, den Armenier Mikojan, nach Budapest, um über die Stationierung der roten Truppen zu verhandeln. Am 4. November wurde in Szolnok eine Gegenregierung unter János Kádár recte Kressinger eingesetzt. Unmittelbar nach einem Besuch aus Moskau setzten die Sowjets Panzer-Divisionen ein. Seit Anfang November war das Land von der Außenwelt abgeschlossen. Die Aufständischen leisteten immer noch verzweifelten Widerstand. Allein, es war nur noch eine Frage der Zeit, wann sich die erdrückende Übermacht der Sowjets durchsetzen würde. Erstaunlich ist die Rolle des Pál Maléter, der ein in der Wolle gefärbter Kommunist gewesen ist, sich jedoch als nationaler Ungar an die Spitze der Freiheitskämpfer gestellt hatte. Dennoch ließ er sich herbei, in das Hauptquartier der Roten Armee zu fahren, um irgendwelche Verhandlungen zu führen. Dabei hätte er doch wissen müssen, wie die KP mit jenen verfährt, die nicht oder nicht mehr „ihre Brüder“ sein wollen. Er selbst ist mit seinen politischen Gegnern in solcher Art umgesprungen. Das Ergebnis der „Verhandlungen“ zwischen dem ungarischen General und der sowjetischen Führung war auf jeden Fall klar und jederzeit vorherzusagen: Pál Maléter ist bei „passender“ Gelegenheit erschossen worden.
Am 11. November brach der Widerstand der Freiheitskämpfer endgültig zusammen. Mehr als 200.000 Madjaren sind nach dem Westen geflohen – nach jenem Westen, der keinen Finger rührte, um dem Blutrausch der Sowjets ein Ende zu setzen. Zehntausende Ungarn sind im Kampfe gefallen oder wurden nach diesem ermordet. Ministerpräsident Imre Nagy ist am 10. Juni 1958 gehenkt worden. Die Vorgänge in Ungarn beschäftigten sogar die UNO, die Beobachter entsenden wollte. Gelegentlich wurde von dem damaligen Generalsekretär der UNO, Dag Hammarskjöld, gesprochen, der sich der ungarischen Sache annehmen sollte. Die von den Sowjets eingesetzte Regierung Kádár recte Kressinger lehnte ab. Die UNO wandte sich sodann anderen, offensichtlich wichtigeren Dingen zu!
Damit war ein weiterer Versuch, sich der sowjetischen Gewaltherrschaft zu entledigen, zu den Akten gelegt. Am 17. Juni 1953 versuchten es die Mitteldeutschen, im Juni 1956 traten die Polen an, im Oktober des gleichen Jahres wagten es die Madjaren. Sogar die Tschechen, die ungewöhnlich vorsichtigen Tschechen, die im Verlauf des Zweiten Weltkrieges bessere Abgabequoten in der Landwirtschaft erzielten als die Deutschen, selbst diese haben sich anno 1968 aufgemacht, um das sowjetische Joch abzuschütteln. Das Verhalten der Sowjets war stets das gleiche: Wer nicht pariert, wird mit Panzern niedergewalzt. Bei dieser Art der Völkerverständigung ist es völlig gleichgültig gewesen, ob Josef Stalin oder sonst ein KP-Bonze an der Macht war. Der Westen aber, der doch sonst immer so penibel ist, sah zu – wortreich und tatenlos.

 
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