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Freunde und Feinde

Von Achim Lang

Eine Polemik

Die Beneš-Dekrete seien Vergangenheit und würden in Tschechien nicht mehr angewendet, genausowenig wie die Goldene Bulle von Sizilien, und daher seien sie für sein Land auch kein Thema mehr, tönte der tschechische ParlamentspräsidentVáclav Klaus bei seinem letzten Wien-Besuch im Mai des Jahres.

Abgesehen davon, daß dies eine glatte Lüge ist – Tschechiens Gerichte lehnen Restitutionsforderungen seitens der Vertriebenen immer wieder mit ausdrücklichem Verweis auf diese Dekrete ab – ist diese Aussage inhaltlich von der gleichen Qualität, als wenn ein österreichischer Politiker mit der Begründung, daß wir heute weder Zwangsarbeiter beschäftigen noch arisieren, eine Rückgabe arisierten Gutes und eine Entschädigung für Zwangsarbeiter abgelehnt hätte.
Aber Mord bleibt Mord, und Raub bleibt Raub, und die europäischen Rechtsprinzipien verlangen eine Bestrafung der Täter und eine Rückgabe jedweden Diebsgutes. Daher muß von Tschechien gefordert werden, den sudetendeutschen Heimatvertriebenen in Übereinstimmung mit dem geltenden Völkerrecht ihren widerrechtlich enteigneten Besitz rückzuerstatten (oder sie dafür angemessen zu entschädigen) und die noch lebenden tschechischen Kriegsverbrecher, die – einige sind namentlich bekannt – Mordtaten an Deutschen verübt haben, vor ein Gericht zu stellen. Wenn Tschechien das nicht tut, ist es kein Rechtsstaat. Wenn Österreich und Deutschland dies nicht fordern und damit ihrer Schutzpflicht gegenüber ihren nunmehrigen Staatsbürgern nicht nachkommen, sind sie keine Rechtsstaaten. Wenn die EU beides hinnimmt, dann gilt für sie dasselbe.
Freilich kann man den heute lebenden Tschechen mit der „Gnade der späten Geburt“ die damaligen Geschehnisse nicht anlasten. Sehr wohl anlasten kann man ihnen aber, daß sie (nach allen Umfragen) zu weit mehr als 90 % jede Aufarbeitung der schrecklichen Geschehnisse zu Kriegsende ablehnen und sich zum gleichen Prozentsatz gegen eine Entschuldigung für die Vertreibung aussprechen. Bis heute ist die tschechische Regierung nur bereit, sich für „Exzesse“ während der Vertreibung und nicht für die Aussiedlung und Enteignung selbst zu entschuldigen. Nur wenige sehen das anders, etwa die tschechische Paneuropa-Bewegung oder der Prager Universitätsprofessor Bohumil Dolezal, der gemeinsam mit drei Studentenorganisationen einen offiziellen Appell zur Entschuldigung für die Vertreibung als solche verfaßt hat und nun möglichst viele Landsleute zur Unterschrift bewegen will.
Diese Haltung der heutigen tschechischen Gesellschaft ist ohne Frage eine neue, aktuelle Schuld, wobei man aber bedenken muß, daß kein Volk – mit einer Ausnahme – sich gern seiner eigenen Untaten entsinnt und daß bei dieser ablehnenden Haltung neben Unwissenheit über das tatsächlich Geschehene auch unbewußte Scham und ein, psychologisch verständliches, Nicht-Wissen-Wollen als Gründe anzuführen sind.
Noch bedrückender ist daher die Tatsache, wie wenig Resonanz dieses Thema bei uns in der Öffentlichkeit findet. Für die breite Masse mag auch hier mangelnde Information als Entschuldigung gelten, und darüber hinaus ist in Rechnung zu stellen, daß man nur jene Dinge wirklich „weiß“, die man nicht nur mit dem Hirn, sondern auch mit dem Herzen begriffen hat. Nur ein Wissen, zu dem man auch einen emotionalen Zugang aufgebaut hat, bewegt uns, alles andere bleibt kalt und in gewissem Sinne „unwirklich“. So haben es erst emotionalisierende Filme wie die Holocaust-Serie vermocht, die NS-Judenverfolgung aktiv im Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit zu verankern. Solche Spielfilme über das Schicksal der Sudetendeutschen und der anderen Heimatvertriebenen fehlen freilich ebenso wie jene erschütternden Filmdokumente, die wir z.B. aus dem Bosnien-Krieg kennen. Kein Wunder also, daß die breite Masse mit dem Thema nicht viel anfangen kann.
Diese Entschuldigung gilt aber nicht für Politiker und Journalisten, die – nolens volens – einer Informationselite angehören und zumindest versuchen müßten, weitgehend rational und nicht allzusehr von Emotionen geleitet zu handeln. Sie können Ignoranz, also Nicht-Wissen, kaum als Entschuldigung für ihr mangelndes Interesse am Schicksal der volksdeutschen Heimatvertriebenen geltend machen. Wenn echtes Nicht-Wissen bei einzelnen Funktionsträgern tatsächlich der Grund für diese Haltung sein sollte, wäre das nur ein deutliches Zeichen, daß diese ihren Aufgaben nicht gewachsen sind.
In den meisten Fällen aber wissen sie sehr wohl, nur es interessiert sie nicht. Und dafür kann es nur einen Grund geben: Sie hierarchisieren die Opfer, sie kennen unterschiedliche Kategorien an Opfern. Das heißt mit anderen Worten aber auch, daß sie, bewußt oder unbewußt, den Opfern niedriger Kategorie wie den Sudetendeutschen und anderen Heimatvertriebenen auch ein geringeres Maß an „Menschsein“ zusprechen, so daß ihr Schicksal eben nicht die Aufmerksamkeit verdient, wie dies bei anderen Opfern der Fall ist.
Dieses oft unbewußte Denkmuster aber kennen wir aus der Vergangenheit zur Genüge: So wurde die Judenpolitik des Dritten Reiches begründet, die Sklaverei gerechtfertigt, ebenso die Hungerblockade gegen Deutschland nach Ende des Ersten Weltkrieges etc. Neu ist nur, daß diese Unmenschlichkeit zugleich mit einem ungeheuren Anspruch auf vervollkommnete Moral, auf Gutmenschentum, auf gewaltigen sittlichen Fortschritt seit den düsteren Tagen der Vergangenheit Hand in Hand geht. Dies macht die Sache auch so unerträglich und die Vertreter dieser Haltung unter Politikern und Journalisten menschlich so widerwärtig.
Doch darüber hinaus verfolgen sie mit ihrer Haltung natürlich – wie nicht anders bei den Beispielen der Vergangenheit – auch ein politisches Ziel, je nach Intelligenzgrad bewußt oder unbewußt: Durch die Beschäftigung mit dem Schicksal der volksdeutschen Heimatvertriebenen würde das Augenmerk wieder auf Provinzen und Länder gerichtet, die durch jahrhundertelange deutsche Arbeit geprägt und geschaffen wurden und heute heruntergekommen sind. Dies könnte das fast schon erloschene Geschichtsbewußtsein der Deutschen wiedererwecken, ihrer politischen Vorstellungswelt neue Räume erschließen und so die Grundlagen heutiger Politik hinwegfegen. Darum vor allem wird dem Schicksal der volksdeutschen Heimatvertriebenen hierzulande so wenig Aufmerksamkeit zuteil.

 
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