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Nicolás Gómez Dávila

Von Heinrich Dassel

Der Denker der Reaktion


Der 1994 verstorbene kolumbianische Philosoph Nicolás Gómez Dávila trug keine Scheu, sein Denken als reaktionär zu bezeichnen. Kaum ein anderer weltanschaulicher Positionsbegriff ist heute so verpönt wie dieser und doch hat Gómez Dávila Persönlichkeiten vom Range eines von Kuehnelt Leddihn oder Botho Strauß angeregt – im Philosophischen Jahrbuch der Görres-Gesellschaft wurde ihm nun sogar ein ausführlicher Beitrag gewidmet.

Till Kinzel, der Autor des im ersten Halbband des Philosophischen Jahrbuches 2002 erschienenen Artikels ist sich freilich darüber im klaren, daß „ein unzeitgemäßeres Denken als das reaktionäre“ heute „schlechterdings nicht denkbar“ ist. Und doch scheinen ihn diese Gedanken zu faszinieren, „bei deren Lektüre der Leser in der Tat nie weiß, ‚ob es angebracht ist, enthusiastisch zu applaudieren oder wütend aufzustampfen‘“.

Demokratie-Kritik

Da ist einmal die „scharfe und beunruhigende Kritik der Demokratie“ zu nennen, wo es zu „einem Zusammenprall der harten und treffsicheren Geschoße Gómez Dávilas mit dem kommt, was uns so selbstverständlich erscheint, daß wir nicht einmal mehr Argumente dafür vorzutragen für nötig gehalten haben“. Doch Gómez Dávila sei kein „tobender Narr“, sondern ein „genuiner, genialer Denker“, weshalb sich die Auseinandersetzung mit seinen Argumenten gerade für den Demokraten und Liberalen lohne, denn sie ermöglichten ihm, so Kinzel, vielleicht eine vertiefte Begründung seiner eigenen Überzeugungen, nachdem diese „durch das Stahlgewitter der reaktionären Attacke hindurchgegangen sind“. Damit ist ein Köder ausgeworfen.

Kritik der Religionskritik

Auch Gómez Dávilas Kritik der Religionskritik und des Atheismus sei für den Zeitgenossen des späten 20. Jh. einigermaßen verstörend, habe er sich doch wunderbar in seiner Religionslosigkeit eingerichtet, die aber die Leichtgläubigkeit gegenüber mannigfachen Ideologien gerade nicht ausschließe, sondern womöglich sogar fördere.
Demgegenüber formuliert der Kolumbianer als wichtigste Erkenntnis des Reaktionärs, einzusehen, „daß der Mensch ein Problem ohne menschliche Lösung ist“. Dies bedeutet nichts anderes, als daß sich das Denken der religiösen Dimension des Daseins öffnen muß, daß der Mensch überhaupt nur in seiner Hinwendung auf Gott verstanden werden kann. Wofern die Gedanken einer „konservativen Revolution“ auf eine Abwendung vom Christentum hinauslaufen, oder diese gar propagieren, zeigen sie nur, daß sie selbst noch den revolutionären Ideologien der Moderne verhaftet sind.
Zivilisationen verdorren, wenn sie der Religion verlustig gehen. Das ist eine der zentralen Aussagen in den Büchern des kolumbianischen Denkers. Mit dem Verlust der religiösen Bindungen bricht die Vulgarität in das Leben des modernen Menschen ein. Doch nicht um wohlfeile Sittenkritik geht es Gómez Dávila, der sich wohl bewußt ist, daß die Neigung zur Sünde eine Grundkonstante im Leben eines jeden Menschen ist, sondern darum, daß der erst in einer religionslosen Gesellschaft möglich gewordene, intellektuelle Versuch der Verharmlosung und Rechtfertigung der Sünde zu einer Prostitution der Vernunft führt: „Wo das Christentum verschwindet, erfinden Habsucht, Neid und Geilheit tausend Ideologien um sich zu rechtfertigen.“

Gewollte Provokation

Gómez Dávila versucht, mit seinen teils auf bewußtes Schockieren und berechnend eingesetzten Zynismus ausgerichteten Texte zu einer Desillusionierung des liberalen Denkens beizutragen, das nur „sanfte Wahrheiten zu ertragen“ fähig ist. Gerade die mangelnde Tiefe im Menschenbild der Moderne ist es, die seine Kritik am meisten hervorruft: Die heute so verbreiteten Spielarten gnostischer Ideologien, die die Möglichkeit einer Selbsterlösung des Menschen implizieren und die Realität der Sünde leugnen, führten zu gefährlichen Illusionen über die natürliche Güte des Menschen. Auch Marx und Freud hätten mit ihren Auffassungen zu kurz gegriffen: „Die Geschichte wäre wesentlich friedfertiger, wenn es darin nur Ökonomie und Sex gäbe. Der Mensch ist eine weit entsetzlichere Bestie.“
Gómez Dávila geht es mit seinem Denken letztlich – wie unmodern! – um die Seele des Menschen. Kinzel: „Mag es auch in jeder Hinsicht zum Schwierigsten gehören, irgendeine Gewißheit über die Seele zu erlangen, so hat doch jeder Mensch ein natürliches Bewußtsein von der Seele, sodaß es streng genommen keines Erweises ihrer Existenz bedarf.“
Und weil es um die Seele geht, geht es auch um die Ästhetik: Einer der Hauptvorwürfe gegen die Moderne ist der Verlust der aristokratischen Umgangsformen, der Bemühungen um eine umfassende Kultivierung, da, wie schon Konrad Lorenz schrieb, das ästhetisch Schöne und das ethisch Gute in einem engen Zusammenhang stehen. „Kultiviert ist nicht der Mensch, der lediglich seine Intelligenz geschult hat, sondern jener, der die Regungen seiner Seele und selbst die Gesten seiner Hände geschult hat.“ Die Vulgarität, d. h. die Unerfahrenheit im Schönen, ist für Gómez Dávila  nahezu das Erkennungszeichen der Moderne: „Der kultivierte Mensch muß sich weniger gegen die Barbarei dieser Epoche verteidigen als gegen ihre Kultur.“

Aphorismen

Das Spektrum der von Gómez Dávila behandelten Fragen ist dabei äußerst vielseitig. Neben dem Mysterium des Glaubens, der Frage nach Gott und dem Teufel geht es um das Menschenbild, um eine menschengerechte, politische Ordnung, um Ethik und Ästhetik und vielerlei mehr. Gómez Dávila hat dabei keine langwierigen philosophischen Bücher oder Essays geschrieben, sondern beschränkt sich nahezu ausschließlich auf die literarische Form des Aphorismus: kurze, prägnante Sätze, in denen ein Gedanke zur höchsten Form auskristallisiert, funkelnd und oft verwirrend zugleich präsentiert wird. Aphorismen sollen so zum Weiterdenken einladen und dem Leser Stoff für eigene Reflexionen bieten.
Gleichzeitig sind sie Abbild der Auffassung des Autors, daß es bruchlose Philosophien in Wahrheit ohnedies nicht geben könne, weil dies dem Menschen nicht entspräche, und daß man daher eine Bruchlosigkeit des eigenen Denkens gar nicht suggerieren dürfe. Genauso wenig will Gómez Dávila ein politisches Programm oder eine Weltanschauung entwerfen, die dann so oder so durchzusetzen, zu befördern und zu verfolgen wäre – schon allein diese Idee ist ein typisches Kind der Moderne. Nichts desto trotz stehen seine Aphorismen und Gedankensplitter in einem Zusammenhang, der sich dem Leser bei intensiverer Lektüre auch erschließt.

Reaktionär oder Konservativ?

Gómez Dávilas Denken ist natürlich nicht isoliert zu sehen. Die Autoren, die Kinzel bei seiner Interpretation bemüht, lesen sich wie eine Ahnenliste bedeutender konservativer Philosophen und Publizisten: Balthasar Gracian, Edmund Burke und Alexis de Tocqueville, Leo Strauss, Allen Bloom („The closing of the American mind“) und Roger Scruton…
Das scheint auf den ersten Blick widersprüchlich, geht es dem Konservativen der Definition nach doch um das Bewahren eines gegenwärtige Zustandes, dem Reaktionär hingegen um Veränderung und Wiederherstellung eines status quo ante. Und doch ist dieser Widerspruch nur ein scheinbarer. Gómez Dávila selbst schreibt: „Der Reaktionär wird nur in den Epochen ein Konservativer, die etwas bewahren, das es wert ist erhalten zu werden.“ In gewisser Hinsicht ist also auch Gómez Dávila ein Konservativer: Insofern es ihm nämlich um die Bewahrung des christlichen Glaubens und der philosophischen Grunderkenntnisse des alten Europas geht. Auch er will bewahren, wie jeder echte Konservative das Feuer (also die ewig gültigen Ideen), und nicht die Asche (also die bloßen Formen und Strukturen). Der modernen Welt, die diese Grundwahrheiten weder innerlich bewahrt hat, noch die von ihnen hervorgebrachten äußeren Formen weiter bestehen läßt, muß die doppelte Ablehnung des Reaktionärs gelten. Wie seine Rolle richtig zu verstehen ist, hat Botho Strauß deutlich gemacht: „ Der Reaktionär ist eben nicht der Aufhalter oder unverbesserliche Rückschrittler, zu dem ihn die politische Denuntiation macht – er schreitet im Gegenteil dann voran, wenn es darum geht, etwas Vergessenes wieder in Erinnerung zu bringen.“ Und dies, so Kinzel, ist auch eine „genuin-philosophische Aufgabe, wenn man sich darauf besinnt, daß es nicht nur einen Fortschritt in der Erkenntnisgewinnung gibt, sondern womöglich gar wiederholten Verlust einmal gewonnener Einsichten und Erkenntnisse. Gerade das Implausible des Reaktionären mag daher besonders geeignet sein, das Dämmerlicht unserer undurchdachten Plausibilitäten aufzuklären“.
Und noch um mehr, um weitaus größeres geht es, wie auch Till Kinzel weiß: Der tiefste Sinn des reaktionären Denkens erschließt sich nur dem, der sich, „und sei es nur ein Stück weit, dem Lärm der Moderne entzieht, der unsere Seelen betäubt und stumpfsinnig werden läßt. So betrachtet, ist das Denken reaktionärer Gedanken ein Akt der Psychohygiene, der die Seele ein wenig desinfiziert.“

Literatur:

Gómez Dávila, Einsamkeiten (vielleicht das beste Werk sich in einem ersten Schritt mit dem Autor auseinanderzusetzen)  € 18,—
Auf verlorenem Posten,  € 26,40
Aufzeichnungen des Besiegten,  € 18,—


Alle drei Werke sind im Karolinger Verlag, Wien erschienen und über unsere Versandbuchhandlung „Bücherquelle“ Hofgasse 5, A-8011 Graz, Tel: ++43/(0)316/82 16 36 DW 111 oder 112, Fax: ++43/(0)83 56 12, e-mail: buecherquelle@stocker-verlag.com zu erhalten.

 
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