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Die zwei Welten des Juri Gagarin

Von Dietmar Schmidtgen

Die Jahre bei der Deutschen Wehrmacht

Am 12. April 1961 flog Juri Gagarin als erster Mensch ins Weltall. Das ist nun über 40 Jahre her, und immer noch gibt es Unklarheiten über seinen Tod, aber es gibt auch vieles, was aus seinem Leben nicht bekannt wurde. Vielleicht kann dieser Bericht ein paar Erklärungen über die Entwicklungen im Leben Gagarins liefern.

Die 7. InfDiv – die Münchner Hausdivision – war als eine Elitedivision des deutsches Heeres im Rahmen des VII. Armee-Korps der Heeresgruppe Mitte unterstellt und wieder mal im Zentrum des Geschehens. Neben den üblichen Einheiten gehörte zu ihr auch die PzJgAbt 7. Zunächst ging es von Warschau über Minsk, Smolensk Richtung Moskau.
Die 1./PzJgAbt 7, die um den 20. Oktober das Stabsquartier der 7. InfDiv bei Gribzowo gegen feindliche Panzerangriffe zu decken hatte, war dort gerade auf russische 8,5-cm-Beuteflak umgerüstet worden. Dies war notwendig geworden, da mit der etatmäßigen 3,7-cm-Panzerabwehrkanone, die 1936 eingeführt worden war, gegen die modernen und in großen Stückzahlen auftretenden T34 nichts auszurichten war.
Als die Umrüstung abgeschlossen war, wurden die PzJg wieder losgelassen. Es ging nun darum, direkt in Richtung Moskau vorzustoßen. Die 7. InfDiv operierte rechts und links der Rollbahn Smolensk – Moskau. Angehörige der 1./PzJgAbt 7 stießen dabei östlich von Gshatsk und Moshaisk, in Höhe Schelkowka – Dorochowa, inmitten fürchterlicher Kämpfe und während eines allgemeinen Chaos, auf einen unweit der Rollbahn abgestellten, unbespannten Panjewagen. Auf dem Wagen fanden sie, spärlich bedeckt mit ein paar alten Kleidern, einen kleinen, etwa 6 Jahre alten unterkühlten und ausgehungerten Buben. Was tun? Man konnte den kleinen Burschen, der offenbar auf der Flucht zurückgelassen oder ausgesetzt worden war, ja nicht einfach seinem Schicksal überlassen. Die Soldaten taten also das, was jeder andere Christenmensch auch getan hätte, sie nahmen den Jungen in ihre Obhut und gaben ihm das, was er dringend brauchte: etwas Wärme und Essen. (Er wurde also nicht entführt, wie es, dem heutigen Zeitgeist entsprechend, jetzt vielfach behauptet wird!). Weil man einen kleinen Buben, in dem Durcheinander, das zu dieser Zeit dort herrschte, nicht bei der kämpfenden Truppe belassen konnte, brachten sie ihn bei der ersten Gelegenheit zurück zum Troß, wo sich vor allem die Angehörigen der Schreibstube des Buben annahmen. Zunächst gab es, weil ein Dolmetscher fehlte, Verständigungsprobleme. Man erfuhr von ihm lediglich, daß er Juri heiße.

Das Findelkind

Nachdem sich die Lage etwas beruhigt hatte, mußte an höherer Stelle entschieden werden, was mit Juri weiter geschehen solle. Aufgrund der schlechten Erfahrungen, die man mit der russischen Zivilbevölkerung gemacht hatte, als man ihr verwundete Gefangene zur Betreuung übergeben hatte, kam nur ein Verbleib des Buben bei der Truppe in Frage. Wie der letzte Kommandeur des InfRgt 61, OTL Karl Nagerl, berichtete, holte der damalige Chef der PzJg, Maj Schmidtgen, beim DivKdr GenLt E. Frhr. von Gablenz, dazu selbst die Genehmigung ein. Daraufhin bekam der Adj der PzJg, Karl Steigner – im Zivilberuf ein Studienrat –, den Auftrag, sich um ein wenig schulische Ausbildung Juris zu kümmern. Aus verständlichen Gründen war das natürlich nicht nach dem Geschmack des aufgeweckten Buben, der seine derzeitige Freiheit sichtlich genoß. Um allem aus dem Weg zu gehen, zigeunerte Juri in den ersten Monaten zwischen den einzelnen Sparten des Trosses hin und her. Er fühlte sich überall dort zu Hause, wo man sich seiner annahm und für ihn sorgte. Alle waren bestrebt, Juri etwas Gutes zu tun. Jeder auf seine Weise. Schneider (Rehbeck) und Schuster (Ansbacher) bemühten sich, ihn neu einzukleiden. Er bekam maßgeschneiderte Klamotten, in denen er sich offenbar recht wohl fühlte.
Juri war wirklich ein aufgeweckter Bursche, äußerst intelligent und vor allen Dingen sprachbegabt. Er wurde – wie sich bald zeigen sollte – ein durchaus nützlicher und allseits beliebter Angehöriger der PzJgAbt 7. Schon nach einigen Monaten sprach er ein recht passables Deutsch mit – wie hätte es auch anders sein können? – starkem bayerischem Einschlag.
Bereits im Winter 1942 (nach dem Rückzug aus dem Raum Naro-Forminsk), der Kompanietroß lag damals wieder im Raum Gshatsk in dem kleinen Dorf Orechowo, konnte sich Juri, der auch ständigen Kontakt zur einheimischen Bevölkerung hielt, als Dolmetscher nützlich machen. Es war schon ein recht kurioses Bild, wenn der kleine Steppke Juri z.B. mit dem Starosten (Dorfältester) von Dorochowo verhandelte und die alten Männer des Dorfes zum Schneeräumen einteilte.
Mit seinen deftigen bayerischen Ausdrücken sorgte Juri oft für Heiterkeit. So erinnert sich der frühere Rechnungsführer der 1. Kompanie, Jak D., an einige kleine Episoden mit Juri:
„Einmal saß Juri, nur mit kurzen Hosen und Hemd bekleidet, auf einer Bank vor der Schreibstube. Als eine bespannte Artillerieeinheit durch das Dorf zog und dabei eine der Protzen Juri fast über die Zehen fuhr, giftete Juri den Fahrer an: ,Ja, wie hätt’ ma’s denn du Hirsch, kannst du net a bißl weiter nausfahrn!‘ Fassungslos und mit offenem Mund starrte der Fahrer den Buben an. Er hatte schon manches erlebt, aber daß ihn mitten im tiefsten Rußland ein kleiner Bub auf Bayrisch beschimpfte, das ging nun doch über seinen Horizont.
Juri bekam seine Verpflegungsrationen wie jeder andere auch. Er hatte das Privileg, beim Essenfassen nicht anstehen zu müssen. Da er sich auch die Köche zu seinen Freunden gemacht hatte, wurde er bevorzugt bedient. Einmal bestand das Abendessen aus einem Stück Wurst und Brot. Juri legte mir seine und meine Ration auf den Tisch und erklärte aufgebracht: ,Jak, schau dir das mal an! Achtzig Gramm steaner uns zu, du wirst doch net glaub’n, daß des 80 Gramm san? Man sieht, Juri wußte, was ihm zustand. Er war einer, der sich nicht die Butter vom Brot nehmen ließ.
Während des Rückzuges im Sommer 1944 – an das genaue Datum und an den Ort kann ich mich heute nach fast 60 Jahren nicht mehr erinnern – setzte ein sowjetisches Flugzeug, eine „fliegende Nähmaschine“, wie die Landser sie nannten, einen Volltreffer in das strohgedeckte Bauernhaus, in dem die Schreibstube der 1. Kompanie untergebracht war. Alle hatten Glück im Unglück. Die Splitterbombe traf auf den einzigen gemauerten Teil des Hauses, den Kamin, und zerlegte sich schon über dem Dach. Dieses wurde total abgerissen. Ein Splitter hatte eine brennende Lampe durchschlagen, und das auslaufende Benzin hatte Teile des Mobiliars in Brand gesetzt. Es gab mehrere Verwundete, darunter den HFw Georg Mendl und den ersten Schreiber Karl Lipp.
Wie durch ein Wunder blieb Juri, der zusammen mit den russischen Hausbewohnern auf dem großen gemauerten Ofen geschlafen hatte, unverletzt. Ganz aufgelöst irrte er im Hemd durch die Trümmer des zum Teil brennenden Hauses, kam auf mich zu und flehte mich an: „Jak, hilf mir bittschön, i find mei Hos’n nimmer‘.“
Juri verblieb bis zum Kriegsende bei der PzJgAbt 7. Die letzten eineinhalb Jahre hatte er, nachdem die Schreibstube der 1. Kompanie aufgelöst worden war, weitgehend bei der Kfz-Instandsetzungswerkstatt der Abteilung verbracht, wo ihn Oberwerkmeister Franz R. unter seine Fittiche nahm und wie seinen eigenen Sohn betreute. Dort machte sich Juri durch Handlangerdienste nützlich. Da Franz R. sein technisches Geschick und Verständnis sofort erkannte, wurde er etwa mit der Ersatzteilausgabe betraut.
Erst im Mai 1945, als die PzJgAbt 7 auf der Halbinsel Hela in Gefangenschaft ging, seilte sich Juri in stilreinem Bayrisch mit den Worten ab: „I glaub, iazt verdruck’ i mi lieba“ und blieb für viele Jahre für seine Betreuer verschwunden.
Am 12. April 1961 umrundete Juri Gagarin, geboren am 9. März 1934 in Klu
shino bei Gshatsk, als erster Mensch mit dem Raumschiff „Wostok 2“ die Erde. Die Berichte und Bilder dieses sensationellen Fluges gingen um die Welt. Völlig unabhängig voneinander kamen der ehemalige Rechnungsführer Jak D. und Oberwerkmeister Franz R., die jetzt in verschiedenen Orten Bayerns wohnen, zu der Überzeugung, daß es sich bei Juri Gagarin nur um den von ihnen betreuten Juri handeln konnte. In der Folgezeit versuchten beide, etwas Material zu sammeln, um diese Tatsache zu bekräftigen und zu beweisen.
Eine Kontaktaufnahme mit Juri Gagarin war in diesen Jahren bei den damals herrschenden politischen Verhältnissen ein Ding der Unmöglichkeit. Leider kam Juri Gagarin dann am 27. März 1968 bei einem Testflug unter bis heute ungeklärten Umständen ums Leben.

Die Lücke in der Biographie

In den Lebenserinnerungen von Juri Gagarin, die schon kurz nach seinem Weltraumflug in der Parteizeitung „Prawda“ und im gleichen Jahr (1961) unter dem Titel „Mein Flug ins All“ vom Kongreß-Verlag Berlin veröffentlicht wurden, ist – wie nicht anders zu erwarten – kein Wort darüber zu finden, daß er sich von Ende 1941 bis Mai 1945, also dreieinhalb Jahre, bei der PzJgAbt 7 aufgehalten hat.
Nun, es ist auch durchaus verständlich, daß weder Gagarin selbst noch die „Prawda“, noch die damalige russische Regierung unter Staatschef Chruschtschow publik machen wollten, daß Juri G. entscheidende und prägende Jugendjahre – gerne und freiwillig, denn er hätte ja jederzeit verschwinden können – unter der Obhut deutscher Soldaten verlebt hatte. Um diese fehlenden Jahre zu überbrücken, mußten zwangsläufig einige Passagen der Lebenserinnerungen erfunden und damit der Eindruck erweckt werden, Juri habe sich während des ganzen Krieges in seinem Elternhaus in Klushino bei Gshatsk aufgehalten.
Die erste nachprüfbare Aussage Gagarins bezieht sich auf die Monate nach Kriegsende. Gagarin: „Der Krieg war zu Ende. Mein Vater blieb in Gshatsk, um die von den Okkupanten zerstörte Stadt wieder aufbauen zu helfen. Er brachte unser altes Holzhäuschen aus dem Dorf in die Stadt und setzte es hier wieder zusammen. Doch ich konnte unser gemütliches Zuhause in Klushino nicht vergessen… Jetzt wohnten wir in Gshatsk, in der Leningrader Straße. Auch die Schule war eine andere. Ich kam in die dritte Klasse der Praktikumsschule bei der Pädagogischen Lehranstalt in Gshatsk.“
Tamara Sinizina, seine Lehrerin an der Praktikumsschule, gab dazu an: „Juri war sehr beharrlich. Eine Zeitlang fiel ihm Russisch schwer. Da beschloß er, allein, ohne fremde Hilfe, seine Klassenkameraden einzuholen. Und er schaffte es: Die Dreien verschwanden aus seinem Zensurenheft. Überhaupt das Lernen bereitete Juri Freude; er nahm gierig alles auf, was die Schule ihm bot.“
Es drängt sich da die Frage auf, was wohl die Ursache gewesen sein mag, daß dem superintelligenten Juri Gagarin seine Muttersprache Russisch schwer fiel und warum er Nachholbedarf hatte?
Nun, es gibt eine recht einleuchtende Erklärung dafür. Juri hatte die vorausgegangenen Jahre mehr Deutsch als Russisch gesprochen. Zwar hatte er sich mit der einheimischen russischen Bevölkerung immer auf Russisch unterhalten, aber er hatte kaum Gelegenheit, Russisch zu lesen oder zu schreiben. Auch mit russischer Grammatik mußte er sich nicht herumplagen. Kein Wunder also, daß bei Kriegsende die russische Sprache nicht gerade seine Stärke war.
Nicht unerwähnt soll bleiben, daß Juri Gagarin in seinen Lebenserinnerungen ausführte, daß er besonders beeindruckt war von den Einsätzen des russ. Flugzeugs PO 2, das nachts über der deutschen Etappe Bomben zu werfen pflegte und auf deutscher Seite mit Namen wie „Nähmaschine“ oder „Kaffeemühle“ belegt wurde. Immer wieder, so erinnerte er sich, fielen Bomben in das von Deutschen belegte Dorf. Schade nur, daß Gagarin nicht angeben konnte, daß er selbst um ein Haar Opfer einer dieser Bomben geworden wäre.
Eine Auswertung der Lebenserinnerungen von Juri G. hatte den ehem. Rechnungsführer und den Oberwerkmeister Franz R. nicht weitergebracht in ihrem Bemühen, die Identität der beiden „Juris“ zu beweisen. Hilfe von russischer Seite konnten sie aus begreiflichen Gründen kaum erwarten. Das mußte auch Franz R. erfahren, der, nachdem das möglich geworden war, mehrmals
Moskau und einmal auch das Gagarin-Museum in Gshatsk besuchte. Gshatsk war zwischenzeitlich zu Ehren des großen Sohnes in Gagarin umbenannt worden. Er stieß bei allen befragten Kontaktpersonenauf Mißtrauen und Ablehnung, ja ihm wurde sehr eindringlich nahegelegt, um seiner Sicherheit willen, seine Nachforschungen einzustellen.
In den ersten Monaten des Jahres 2000 erschien nun unter dem Titel „Die Gagarin-Story“ ein reichbebildertes Buch des Raumfahrtjournalisten Gerhard Kowalski. Einige dieser Fotos erlauben jetzt endlich einen Lichtbildvergleich. Nach diesem Lichtbildvergleich, der sich insbesondere auf einen Vergleich des Gebisses und der Ohren stützt, steht zweifelsfrei fest, daß Juri Gagarin identisch ist mit dem Juri, der sich bis Mai 1945 bei der Pz.IgAbt. 7 aufgehalten hat.
Die Tatsache, daß deutsche Soldaten Juri Gagarin bei seinem kometenhaften Aufstieg vom kleinen Bauernbuben aus Klushino zum ersten Menschen im Weltall, Oberst der Sowjetarmee, Träger des Leninordens und Helden der Sowjetunion, dreieinhalb Jahre lang begleitet und vor allem betreut haben, tut der Größe und Leistung dieses außergewöhnlichen Menschen keinen Abbruch, zeigt aber ein ganz anderes Bild des deutschen Soldaten, als es jetzt immer gezeichnet wird.

Mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift „Kameraden“ entnommen.

 
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